Monod, Theodor - Die Gabe Gottes. - 5. Ihre Anwendung 1. „Festhalten.“
Siehe, ich komme bald. Halte, was du hast, dass Niemand deine Krone nehme.“
(Offenb. 3,11.)
Wir kommen nun zu der praktischen Seite unseres Gegenstandes; ich will sagen - denn ich bin weit entfernt zu denken, dass das Übrige nicht praktisch anwendbar sei - zu dem Teil unseres Gegenstandes, der den Augen der Menschen sichtbar ist, obgleich er auch, was sich von selbst versteht, eine unsichtbare Seite hat. Der Wandel des Christen ist nur die äußere Offenbarung dessen, was in seinem Innern vorgeht; und seien wir versichert, dies ist auch der Probierstein für alles Übrige. Der Erfinder einer neuen, künstlich erdachten Maschine erklärt deren Mechanismus mit großer Klarheit und Genauigkeit; vielleicht zeigt er sogar ein verkleinertes Modell, das sehr hübsch anzusehen und sehr interessant zu studieren ist, und das ganz vortrefflich geht. Aber lasst einen praktischen Mann es untersuchen, seine erste Frage wird sein: „Kann die Maschine die gewünschte Arbeit tun?“ Man macht den Versuch in dem Hüttenwerk, und wenn sie nicht praktisch erfunden wird, taugt sie zu nichts. Nun wisst ihr aber, dass es nicht an Weltleuten fehlt, welche meinen, unser ganzes Christentum sei weiter nichts als ein Satz beredter Worte, sie halten es für äußerst interessant; im Stande, die Seele zu erheben, für erbaulich, gut für eine Besprechung oder Predigt, für tief, erhaben und Alles, was ihr wollt; aber einen Fehler hat es nach ihrer Meinung - es ist nicht praktisch. Unsere Frage ist darum die: Ist das Christentum praktisch? Kann es die gewünschte Arbeit tun? Soll es dies tun? Hat Gott gesagt, dass es dieselbe tun werde? Hat Er uns das Christentum gerade für diese Arbeit gegeben?
Wir haben heute zu suchen, wie wir dahin gelangen können, dass diese Gabe Gottes in und durch uns wirke, in unserem Leben, ich will sagen, in unseren Worten und unseren Handlungen, in unseren Gedanken und unseren Neigungen, auf dass die Welt nicht nötig habe, zu unserm Nachbar, oder zu uns selbst zu laufen, und zu fragen, ob wir Christen seien, weil sie es mit eigenen Augen sehen wird.
Ich habe als Ausgangspunkt das Wort Christi in der Offenbarung gewählt: „Siehe, Ich komme bald. Halte, was du hast, dass Niemand deine Krone nehme.“ Diese Worte sind an eine Kirche, oder an den Pastor einer Kirche gerichtet, und in seiner Person richten sie sich an diese ganze Kirche, und sicher auch an jedes Glied der christlichen Kirche, an uns selbst: „Halte, was du hast.“ - Dies ist die kurze Zusammenfassung unseres Gegenstandes. Zuerst müssen wir von der Gabe Gottes reden hören; „der Glaube kommt aus der Predigt“ (Röm. 10,17.); wie sollen wir etwas glauben, von dem wir nichts gehört haben? Aber wenn wir davon gehört, wenn wir sie angenommen, und dafür gedankt haben, dann bleibt immer noch etwas zu tun: wir müssen das, was wir haben, auch festhalten, nicht dahin und dorthin laufen und etwas suchen, was wir noch nicht haben, sondern das, was wir haben, was uns Gott gegeben und als unser Eigentum erklärt hat, festhalten.
Was haben wir denn? Das müssen wir uns zu allererst fragen. Sehr oft, fürchte ich, bleiben Ermahnungen über den Gebrauch, welchen man von der Gabe Gottes machen soll, ohne Wirkung auf die, an welche sie gerichtet sind, aus dem einfachen Grund, weil sie diese Gabe nicht angenommen haben. Wie können wir etwas gebrauchen, was wir nicht besitzen? Man bittet heutzutage von allen Seiten um Belehrung über den Fortschritt im geistlichen Leben; nichts ist gerechter und billiger als dieser Wunsch, aber eine Vorfrage muss gestellt werden: „Habt ihr geistliches Leben?“ Wir müssen es zuerst suchen, finden, besitzen, und dann, wenn wir es besitzen, es festhalten. Um zu wissen, was wir festzuhalten haben, müssen wir doch zuerst wissen, was wir besitzen.
Nun gut, was besitzen wir denn, wenn wir die Gabe Gottes angenommen haben? Lasst mich es euch nochmals wiederholen: wir besitzen Jesum Christum; ja, ihr besitzt Ihn; merkt wohl, Er ist wirklich euer. Ihr habt das Recht, Alles, was euch der Vater in Jesu Christo geoffenbart und gegeben hat, von Ihm zu erwarten, oder besser gesagt, Ihr habt das Recht, in Ihm darüber zu verfügen.
Gott war in Christo und Gott ist in Christo. Wer Ihn gesehen hat, der hat den Vater gesehen. Ihr habt einen Erlöser, einen Bruder, Einen, der Mensch geworden und euch allerdinge gleich ist, während Gott selbst Ihn zu gleicher Zeit nennt: „den Mann, der Ihm der nächste ist.“ (Sach. 13,7.) Er kommt zu euch, und ihr könnt eure Hand in Seine Hand, in Seine, für euch durchgrabene Heilandshand legen. Ihr habt Den, „durch dessen Wunden ihr geheilt seid.“ (Jes. 53,5.) Ihr habt Den, der versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde; der voll Mitleiden ist und zugleich alle Macht besitzt, der vollkommen im Stande ist, euch vor jedem Fall zu bewahren, und der auch vollkommen bereit ist, es zu tun. Ihr besitzt Den, der von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt, als unser Hoherpriester, der da Mitleiden hat mit unserer Schwachheit und für uns bittet. Ihr habt Den, der euch eine Stätte bereitet, und der euch befohlen hat, Seine Rückkehr zu erwarten. Mit einem Wort, ihr habt einen Heiland, und durch diesen Heiland habt ihr einen Vater, und wenn der Vater und der Sohn euch geoffenbart sind, so habt ihr auch den Heiligen Geist; denn diese innere Offenbarung ist Sein Werk. Gott selbst ist in eure Herzen gekommen und hat euch zu Seiner Wohnung, zu Seinem Tempel gemacht. „Wisst ihr nicht, dass euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist?“ (1 Kor. 6,19.) Ihr seid für Gott ausgesondert, bei Seite getan. Ihr seid in Ihm und ihr gehört Ihm; Er ist in euch und Er ist euer. Ihr habt den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.
Und was besitzt ihr noch mehr? Ihr besitzt das Wort Gottes. Gott hat geredet, und Er hat nicht nur geredet, sondern, da Er wohl wusste, dass Worte verloren gehen, verändert werden, und oft mit der Zeit ganz ihren ursprünglichen Sinn verlieren, hat Er gewollt, dass Sein Wort niedergeschrieben würde, so dass wir das geschriebene Wort Gottes besitzen. Und bei jeder Frage können und sollen wir forschen: „Wie steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du?“ (Luk. 10,26.) Ihr habt das Wort Gottes.
Nun wohl, mein Bruder, halte fest, was du hast, wer du auch immer seist, halte den Vater, halte den Sohn, halte den Heiligen Geist, halte das Wort Gottes. Auf diese Weise gebraucht man die Gabe Gottes. Halte sie fest; denn es gibt deren genug, die deine Krone rauben möchten. Es ist leider nur zu wahr. Wenn Jemand sich einem irdischen Unternehmen hingibt, wenn er nach den Dingen trachtet, die die Welt ehrgeizig sucht, so werden sich Leute genug finden, die ihn ermutigen und ihm Beifall zollen. Seht, z. B. diesen Mann, welcher seine Zeit und Kräfte, seinen Verstand, seine Tage und Nächte aufopfert für wissenschaftliche Forschungen, für Verbesserungen des Handels und der Gewerbe, für literarische Arbeiten; seine Mitbürger sind, wenn er Erfolg hat, gern bereit, ihn zu belohnen, sie werden nicht geizen mit ihrem Beifall, mit ihren Ehrenbezeugungen. Fängt jedoch Jemand an, die Krone des Lebens zu suchen, gibt er sich ganz hin für das Werk Christi, für die Ehre seines Heilandes, gleich nennt ihn die Welt einen Überspannten, einen Schwärmer. Die Welt beruhigt sich auch nicht über diese Dinge, sie kann nicht darüber schweigen; sie wird Alles tun, was in ihren Kräften steht, um einem solchen Menschen durch Verfolgungen, Spöttereien, Schmeicheleien, und durch Versuchungen aller Art seine Krone zu rauben. Und wenn schon die Menschen sich so bemühen, uns zu Fall zu bringen, wie viel mehr werden dies erst „die Fürsten und Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen,“ tun! Darum lasst uns festhalten, was wir haben.
Aber was müssen wir hierzu tun? Wie können wir festhalten?
Zu allererst müssen wir daran denken, dass, wenn wir nicht nur in Worten, sondern in der Tat und in der Wahrheit unsere Hand in die Hand unseres Heilandes gelegt haben, Er selbst uns fester und inniger umfangen hält, als wir Ihn halten können, und das eben ist unsere Sicherheit, unser Glück, unsere Herrlichkeit. So lasst denn unser beständiges Gebet sein: „Halte mich fest, auf dass auch ich Dich festhalten könne.“
Außerdem ist die Heilige Schrift voll von vollkommen klaren und oft bis in's Einzelne gehenden Anleitungen über die Praxis des christlichen Lebens. Was für ein wunderbares Buch ist doch dieses Wort Gottes! Dieselbe Seite, welche uns sagt, wie sicher die Stellung ist, die Gott uns in Christo bereitet hat, welche von unserem Tod und von unserer Auferstehung in Ihm redet (Kol. 2 und 3.), enthält auch die umständlichsten Vorschriften über unser tägliches Leben, als Männer, Frauen, Kinder, Eltern, Knechte und Herren.
Seid ihr nun mit Christo auferstanden, so sucht, was droben ist.“ Achtet wohl auf diesen Schluss. Wir hätten höchst wahrscheinlich gesagt: Seid ihr nun mit Christo auferstanden, so braucht ihr euch nicht mehr zu beunruhigen; es versteht sich von selbst, dass ihr von nun an nur noch an das, was droben ist, denken werdet. Der Apostel sagt im Gegenteil: „Sucht, was droben ist.“ Ihr werdet es immer finden, aber ihr müsst es suchen. „Trachtet nach dem, das droben ist, und nicht nach dem, das auf Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott.“ Hier geht durch die Trennung der Kapitel etwas von der Kraft der Stelle verloren. In dem 20. Vers des 2. Kapitels lesen wir diese merkwürdigen Worte: „So ihr denn nun abgestorben seid mit Christo den Satzungen der Welt; was lasst ihr euch denn fangen mit Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt? Die da sagen: Du sollst das nicht angreifen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren! Welches doch nur Menschen-Gebote sind.“ Die Menschen wollen durch eigene Lehren und Satzungen heilig werden. Das geht aber nicht, sagt der Apostel, und er fügt hinzu: „Was lasst ihr euch denn fangen mit Satzungen, als lebtet ihr noch in der Welt?“ Als lebten wir noch in der Welt - es scheint doch, dass sich dies ganz von selbst versteht. Aber nein, sagt der Apostel, ihr lebt nicht darin; ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott; eure Glieder allein sind in der Welt; ihr habt das Werk Gottes dort zu treiben, ihr seid Himmelsbürger, und nur auf Erden, um für den HErrn zu wirken. So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind, Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust.
Hier könnt ihr wieder sehen, wie verschieden das Wort Gottes von der Weisheit der Menschen ist. Die Menschen sagen: Wenn ihr nur euer eigenes Wesen genügend tötet, so kommt ihr schließlich in den Zustand des Todes. Gott sagt: Ihr seid gestorben, darum so tötet nun eure Glieder. Um lebendig zu machen, ist das Leben nötig: um zu sterben, ist der Tod nötig. Wenn ihr in Christo gestorben seid, so wird es euch gewissermaßen leicht sein, euch zu töten; in der Gemeinschaft mit Ihm, und in der Kraft Seines Heiligen Geistes wird es eine Freude sein, die Unreinigkeit, die bösen Lüste und Begierden, den Neid und jede Befleckung der Sünde in uns zu ertöten.
Vor Allem, meine Brüder, müssen wir aber, um die Gabe Gottes gebrauchen zu können, damit anfangen, zu wissen, und das scheint uns gerade so schwer zu sein welches die Gabe ist und welches die Stellung ist, die wir selbst einnehmen.
Man wiederholt heutzutage gern, dass es sehr darauf ankomme, unsere Stellung in Christo nicht mit unserm Wandel zu verwechseln. Das ist ganz richtig. Aber es kommt nicht weniger darauf an, dass wir, indem wir beide sorgfältig unterscheiden, sie doch nicht trennen. Unsere Stellung ist in Christo, auf Christo. Wir haben keine andere Stütze, keinen andern Halt. Aber wenn wir so wahrhaftig in Christo, unserm Stellvertreter, vor Gott stehen, in Ihm, der selbst unsere Stelle am Kreuz eingenommen hat, und nun unseren Platz vor dem Angesicht Gottes einnimmt, soll das heißen, dass wir aufgehört haben, zu existieren? Keineswegs. Das heißt vielmehr, dass wir da sind, in Ihm. Der Apostel sagt: „Wie ihr nun angenommen habt den HErrn Christum Jesum, so wandelt in Ihm.“ (Kol. 2,6.) Die Frage kann darum hierauf zurückgeführt werden: Wie habt ihr Ihn angenommen? Als ich an mir selbst verzweifelte. So wandelt in Ihm. Ich habe Ihn angenommen, als ich Alles von Ihm annahm. So wandelt in Ihm. Ich habe Ihn angenommen, als ich einwilligte, Ihm zu gehorchen; als ich zu Ihm sagte: „Was willst Du, dass ich tun soll?“
So wandelt in Ihm. Geht vorwärts, verzweifelt so an euch selbst, setzt so auf Christum euer ganzes Vertrauen, seid bereit zu tun, was Er befiehlt; dann werdet ihr Gebrauch von der Gabe Gottes machen. Ihr werdet sehen, dass, in dem Maße ihr so Gebrauch davon macht, die Gabe selbst euch mit jedem Tage kostbarer werden wird; nicht als ob ihr eigener Wert erhöht werden könnte, aber ihr werdet sie mehr zu schätzen wissen. Ihr werdet sie besser kennen, mehr lieben und treuer gebrauchen, ihr werdet sehen, wie sie euch unter den Händen größer wird. Wer da hat, dem wird gegeben werden. Wer die Gabe Gottes nicht gebraucht, der wird sie unfehlbar verlieren. Gott gibt uns Seinen Sohn nicht, damit wir Ihn bei Seite tun, oder uns begnügen, Ihn am Sonntag einen Augenblick zu betrachten, oder auch Abends und Morgens, wenn wir beten! Er gibt uns Seinen Sohn nicht als eins der feinen Gerichte, die man nur bei besonderen Gelegenheiten auf der Tafel sieht, nein, Er gibt Ihn uns als das Brot des Lebens reichlicher als ein Festmahl und dennoch unser tägliches Brot; nicht die Würze des Lebens, sondern die Nahrung des Lebens, oder besser gesagt, das Lebens-Element, das, was das Leben ist, was das Leben gibt, und außerhalb dessen kein Leben existiert. (Ich glaube, dass ich von dem, was ich euch eigentlich sagen wollte, abgekommen bin; aber oft ist das, was wir sagen möchten, nicht das Beste, und Gott gibt uns dann etwas Anderes.) Lasst uns zu unserem Gegenstand zurückkommen. Wenn wir durch den Glauben genommen haben, was Gott uns gegeben hat, so müssen wir auch durch den Glauben gebrauchen, was uns in Christo gehört, und die erste Bedingung, um dies zu können, ist, dass wir festhalten. Welche Mittel gibt es, um festhalten zu können? Sie sind wohl bekannt. Es gibt 4 Hauptmittel, die uns beständig anempfohlen werden: Die Wachsamkeit, das Gebet, die Nüchternheit, das Lesen des Wortes Gottes mit Gebet.
Lasst uns mit der Wachsamkeit beginnen. Was heißt denn wachen? Gerade das Gegenteil von schlafen; es heißt, seine Augen offen haben; es heißt, wie der Apostel sagt, „vorsichtig wandeln“ (Kol. 4,5.), was soviel bedeutet als, indem man stets um sich herum sieht. Um zu wachen, muss man in dem Licht sein; das Wachen nützt euch nicht viel, wenn ihr in der Finsternis seid, und der Feind langsam und leise herankommen und die Hand auf euch legen kann, ehe ihr auch nur eine Ahnung davon habt. Seid in dem Licht, dann könnt ihr schon von Weitem sehen, ihr könnt auf eurer Hut sein und werdet den Feind zur rechten Zeit entdecken. Wacht, indem ihr ohne Aufhören aufseht auf Jesum; so allein wacht man recht.
Fürchtet ihr, indem ihr dies tut, die Schwierigkeiten, die Feinde, Gefahren und Verführungen eures eigenen Herzens aus dem Gesicht zu verlieren? Nicht im Geringsten. Jesus wird euch das Alles in Seinem eigenen Licht zeigen, dann werdet ihr es gut sehen. Wenn ihr euch aber einbildet, eure eigene Wache sein zu müssen, dann wird der Schlaf euch unfehlbar überfallen, und ihr werdet die Dinge nicht sehen, wie sie sind. Ihr werdet einen Feind von der linken Seite ankündigen, und ehe ihr's euch verseht, wird er von der rechten Seite gekommen sein. Wir wollen unsere Augen auf den HErrn gerichtet halten, Er wird uns Alles zu unterscheiden lehren.
Mit der Wachsamkeit verbindet das Gebet. Beide gehen in dem Wort Gottes immer Hand in Hand; aber es ist beachtenswert, dass die Wachsamkeit oft vor dem Gebet genannt ist. Warum das?
Vielleicht aus dem Grund, weil es möglich ist, in gewisser Weise zu beten, ohne zu wachen. Es ist möglich, dass man betet, und dann zu sich sagt: „Ich habe dem HErrn meine Bedürfnisse vorgetragen, ich bin für heute in Sicherheit;“ und das hieße in einen schweren Irrtum fallen. Wenn jedoch ein Mensch wachsam ist, so wird er wachsam zum Gebet sein (1 Petr. 4,8.), wie der Apostel sagt. Wenn er wacht, wird er vor Allem die Notwendigkeit des Gebetes einsehen: wenn er wacht, wird er die Gelegenheiten zum Gebet, zum Gebet für irgend einen bestimmten Gegenstand erkennen; er wird Augenblicke finden, um mit seinem Gott allein zu sein, oder mit einem oder zwei Brüdern zusammen zu beten. Wenn er wacht, wird er Acht haben auf die Antworten, die Gott auf seine Gebete gibt; er wird dankbar dafür sein, und ermutigt noch mehr zu beten, und noch besser zu wachen. Lasst uns darum nie die Wachsamkeit vom Gebet trennen. Lasst uns beten zur Wachsamkeit, und wachsam sein zum Gebet.
Lasst uns aber auch die Nüchternheit nicht vergessen. Weil wir denn Kinder des Tages sind, sagt der Apostel, sollen wir wachen und nüchtern sein. (1 Thess. 5, 8.) Gebraucht Alles mäßig; seien es nun Neigungen oder Gedanken, sei es Liebe oder die Vergnügungen der Welt, selbst die edelsten, wie z. B. die häuslichen Freuden, die Literatur, die Wissenschaften, die schönen Künste. Selbst die besten Dinge dürfen wir nur gebrauchen, als ob wir sie direkt aus Jesu Hand empfingen. Tun wir das nicht, so werden sie uns gefährlich, und führen uns sicher auf Abwege.
Darum lasst uns wachen und beten und nüchtern sein. Lasst uns Alles besitzen, aber außer der Liebe unseres Heilandes soll uns nichts gefangen nehmen. Jesus allein soll uns ganz besitzen; dann werden wir auch Alles in Ihm und für Ihn besitzen. Wer dahin gekommen ist, wird vorwärts gehen und Nutzen aus der Gabe Gottes ziehen. Es ist für ihn unmöglich, sie nicht zu gebrauchen, für ihn ist es eine moralische Notwendigkeit, und ebenso eine Freude, in dem Wort Gottes Alles aufzusuchen, was Gott ihm gegeben hat.
Das Lesen des Wortes Gottes. Dies ist das Hauptmittel, die Gabe Gottes zu gebrauchen. In der Heiligen Schrift haben wir, um so zu sagen, das Inventar der verschiedenen Gaben, die in Christo enthalten sind. Jede Verheißung ist eine Gabe, jedes Beispiel, jedes Gebot ist eine Gabe, jede Ermahnung, und ich möchte sagen, jede Drohung ist eine Gabe. Alles hat den Zweck, uns auf den geraden Weg zu führen, und zu verhindern, dass wir uns bald nach rechts, bald nach links umkehren; Alles soll uns mit Christo verbinden, und uns in der Gnade und Erkenntnis unseres HErrn und Heilandes wachsen lassen. Das ist das Endziel des ganzen Wortes Gottes, jeder Gnade, und der ganzen Vorsehung Gottes! O, lasst uns zu jeder Zeit dieses Wort zu unserm Studium machen!
Mit dem Wort Gottes ist uns der Heilige Geist gegeben. Wir dürfen beide nicht trennen. Jesus sagte zu den Sadduzäern: „Ihr irrt und wisst die Schrift nicht, noch die Kraft Gottes.“ (Matth. 22,29.) Die Kraft Gottes zu kennen, oder uns wenigstens einbilden, sie zu kennen, und dabei die Heilige Schrift bei Seite zu lassen, ist das Gefährlichste, was man tun kann; dies führt uns geraden Weges in Fanatismus und alle Art Schwärmerei. Wenn wir auf der andern Seite aber das Wort Gottes kennen, oder uns einbilden, es zu kennen, und doch nichts wissen von der Kraft Gottes, die Sein Heiliger Geist ist, nicht wissen, was Er tun kann, was Er versprochen hat, zu tun, und was Er in Wirklichkeit tut, so haben wir nichts anders als einen toten, unfruchtbaren Kopfglauben, der uns vielleicht viele Wahrheiten in den Kopf, aber kein Leben in's Herz bringt. Darum lasst uns zu unserer Bibel zurückkehren, lasst sie uns auf den Knien lesen und Gott bitten, uns zu leiten, und uns selbst zu zeigen, welche Stellen wir darin lesen sollen, uns Ausdauer beim Lesen zu geben und uns Sein Licht und Seine Kraft zu verleihen. Es ist tausendmal besser, nur zwei Verse zu Lesen und darüber zu beten und nachzudenken, als in der Eile zwei Kapitel durchzulesen, und dann nur eine verworrene Vorstellung davon zu haben.
Wenn wir mit Hilfe des Heiligen Geistes die Bibel lesen, „werden wir wissen, was uns umsonst von Gott gegeben ist“ (1 Kor. 2,12.); denn wir werden es besitzen. Der Heilige Geist nimmt, um so zu sagen, diese Gaben aus der Bibel, und legt sie in unsere Herzen. Er allein kann dieses Werk vollbringen; Er allein ist im Stande, aus der Bibel für uns das Lebensbuch zu machen. Er allein kann das reine Gold nehmen, welches sich für uns darin findet, wie das edle Metall in der Mine, und es in unsere Hand legen in Form von geprägten Münzen, die nun auf all' unsere Bedürfnisse, je nachdem sie hervortreten, anwendbar sind.
Ich ende damit, womit ich angefangen habe, Alles, was wir über die Gabe Gottes sagen können, wird uns für uns selbst wenig, und für unseren Einfluss auf die Welt gar nichts nützen, wenn wir diese Gabe nicht aus der Theorie in die Praxis herübernehmen; und wenn dieses Leben, welches in dem himmlischen Wesen, mit Christo in Gott verborgen ist (Kol. 3,3.; Eph. 2,6.), sich nicht auch den Menschen auf Erden zeigt.