Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Die Sünde.

Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Die Sünde.

(Den 16. Dezember 1855.)

Meine lieben Freunde, diese Abendmahlsfeier stellt uns die Erinnerung an die innigste Freude, die je empfunden worden ist, wieder vor Augen; aber lasst uns nicht vergessen, dass, wie Jesus Christus durch das Kreuz hindurch zur Herrlichkeit und zur Auferstehung gelangt ist, so auch diese Freude nur von denen empfunden werden kann, die angefangen haben, die Bitterkeit der Sünde zu fühlen, und dass diese Freude im Verhältnis steht zu der Lebhaftigkeit, womit wir die Bitterkeit der Sünde geschmeckt. O meine Freunde, was ist die Sünde? Wer von uns begreift, welche Verdammnis, welche Bitterkeit, welche schreckliche Gerichte sie von Natur mit sich bringt? Wer begreift die unbedingte Notwendigkeit, davon durch und durch rein gewaschen und befreit zu werden, um einen Augenblick Ruhe zu genießen? Ich glaube, diejenigen, die noch besonders vor Andern in die Tiefen des Leidens versenkt und so berufen sind, unablässig über dieses Geheimnis nachzudenken, dass ein Gott, welcher die Liebe ist, seinen Kindern Leiden auf Leiden zusendet, ich glaube, deren Aufgabe ist es, noch ganz besonders über die Tiefen der Sünde nachzudenken.

Denkt an einen Mann, wie Franz Gonthier in Nyon. Ich für meine Person habe nie einen Mann gekannt, der, soviel ein Mensch darüber urteilen kann, so weit, wie er, und so fest gegründet gewesen wäre in der wahren christlichen Frömmigkeit, in der Frömmigkeit, welche die Reinheit des Glaubens mit dem Geist der Demut und Liebe verbindet. Dieser Mann nun, der, wie es schien, mit allen Tröstungen Gottes hätte überschüttet werden sollen, wurde überschüttet mit all seinen bittersten Gaben. Er hat der Reihe nach seinen einzigen Sohn verloren, dann seine zärtlich geliebte Gattin und eine Tochter von 12 Jahren, die ihn an alle seine verlorenen Schätze erinnerte; verloren. Er war allein -; aber die Hand Gottes musste seine Einsamkeit noch einsamer machen, indem sie ihm zuerst eine heiß geliebte Schwester und dann eine junge Nichte von 20 Jahren entriss, auf die er alle seine Liebe übergetragen hatte; und ich nenne noch nicht alles, was er verlor. Nehmt dazu eine so tief erschütterte Gesundheit, dass er mir eines Tages sagte: „Wissen Sie, wie ich meine Bücher schreibe? Wie man aus einer Orangenrinde den Saft nach und nach tropfenweise herauspresst.“ Er lebte in der äußersten Schwachheit und fast unausgesetzten Schmerzen; diese Schmerzen wuchsen mit seiner Schwäche, und alle diese Leiden nahmen nur immer zu bis an's Ende seines Lebens. Wenn ich an ein solches Dasein denke, so frage ich mich: was ist die Sünde? Ich weiß wohl, man kann mir sagen, dass ein Mann, wie Gonthier, auf diese Weise heimgesucht wurde, und das ist sicherlich sein größter Trost, weil es seine größte Ähnlichkeit mit Jesu Christo ist, damit seine Leiden durch die Geduld und Frömmigkeit, mit der er sie ertrüge, der Kirche eine Lehre sein sollten. Aber doch würde Gott einem Gonthier alle diese Leiden nicht einzig und allein zum Besten der Andern zugesandt haben: man muss das Geschöpf nicht mit dem Schöpfer verwechseln; Gott würde dann aus dem Menschen einen Erlöser machen. Wenn es sich von Jesu Christo handelt, so schlägt er ihn für die Sünden der Menschen; handelt es sich aber von Einem unter uns, so schlägt er ihn nie mit einem Maße von Leiden, das seine persönlichen Sünden nicht verdient hätten; denn die Sünde hat weit mehr Strafe verdient als wir Leiden tragen, ja mehr als unsere Gedanken davon fassen können: Das ist die Lehre der heiligen Schrift, besonders der Psalmen auf jeder Seite. David kann von seinen Leiden nicht sprechen, ohne gleichsam unvermerkt auf seine Sünden zu kommen. Das könnt ihr ganz besondere sehen, wenn ihr den 38. Psalm wieder lest, wo er abwechselnd seine Schmerzen mit seinen Sünden dergestalt vermengt, dass man sie kaum von einander unterscheiden kann. Was ist denn die Sünde? Welchen Gräuel bietet sie den Augen Gottes dar? Welche Strafe macht sie notwendig? Welches Lösegeld kann sie sühnen?

Betrachtet einmal die Sünde in einem gewöhnlichen Christen, der sich nie zu der hohen Macht des christlichen Lebens, wie Gonthier, emporgeschwungen hat, der, so gut es geht, durch's Leben wandelt, ohne gerade seinen Christennamen zu entehren, der aber nie die Bitterkeit der Sünde gefühlt hat; der Trübsale hat, weil man sie immer hat, der aber seine Trübsale nicht in ein Kreuz zu verwandeln, noch seine Leiden mit denen seines Heilandes zu einigen wusste: seht in dem Herzen eines solchen Christen, der immerhin ein aufrichtiger Mensch sein kann, ist so viel verstockte Sünde, verborgene Fäulnis und geheime Ansteckung, dass uns diese, wenn ein solches Herz sich plötzlich vor und öffnete, einen grässlichen Abscheu verursachen würde, vorausgesetzt, dass wir im Stande wären, die Sünde in ihrer ganzen Abscheulichkeit zu sehen, d. h. das Gesetz Gottes in seiner ganzen Heiligkeit und Alles, was die Heiligkeit dieses furchtbaren Gesetzes verlangt, zu erkennen. Und dann betrachtet die Sünde in den Weltmenschen, die ganz in Sünden versunken sind; die, so lange sie auf der Welt sind, nur Sünde trinken wie Wasser, nur Sünde atmen wie Luft; die innerlich ganz aus Sünde zusammengesetzt sind; deren Geist mit einer Sündenkruste umgeben ist, durch welche nie ein Strahl belebenden, heilenden und heiligenden Lichtes gedrungen ist! Welch ein Abgrund, welch eine Grabesnacht, welch ein Anblick für die Augen Gottes: Menschen, Tausende, Millionen von Menschen zu sehen, über die ganze Erde hin verbreitet, in denen sich nichts Anderes findet als diese entsetzliche Sünde, von der sie aller höchstens nur ein ganz dunkles Gefühl haben, das sie von Zeit zu Zeit von Seiten Gottes auffordert, sich zu bekehren, die aber dennoch in diesem vor Gott abscheulichen und erschrecklichen Zustand verharren. Die Sünde in den besten Christen, die Sünde in den gewöhnlichen Christen, die Sünde in der Kirche, die Sünde in der Welt, o meine Freunde, welch ein Elend! O Jammer der Sünde!

Dies hat Jesus Christus gesehen, als er vom Himmel hernieder stieg, uns zu erlösen. Wir wussten es nicht, aber er wusste es; wir fühlten es nicht, aber er fühlte es für uns; und das gerade hat ihm die Kraft gegeben, die Todesangst am Kreuz zu ertragen, mit den Leiden in Gethsemane, mit den Kämpfen in der Wüste, mit all der Erniedrigung, welche dem vorausging, und woraus sein ganzes Leben gleichsam zusammengesetzt war. Nun aber müssen die Leiden, welche er für uns erduldet bat, uns ein Maßstab dafür sein, mit welchem Auge er die Sünde und die Tiefe des Abgrundes betrachtet, woraus er uns gezogen hat. Niemand von uns hat eine Vorstellung davon, nein, meine Freunde, Niemand von uns hat eine Vorstellung davon, was die Sünde ist! Niemand von uns kennt die Sünde, weil Niemand von uns den Erlöser, Niemand seine Leiden und seine Liebe vollkommen kennt, meine Freunde, im Anblick dieses vergossenen Blutes und dieses gebrochenen Leibes lasst uns lernen, was die Sünde ist, und wie groß die Gefahr, die unseren Seelen droht, damit wir zu Jesu hinfliehen, und nur in ihm suchen, was er allein und geben kann. Tief in unsere Herzen wollen wir es schreiben, dass wir es nur aus der heiligen Schrift je lernen können. Niemals werden und unsere persönlichen Betrachtungen enthüllen, was die Sünde ist; hier besonders überzeuge ich mich von der Notwendigkeit und Wirklichkeit der göttlichen Eingebung und Geltung der heiligen Schrift; denn nie hätten wir auf eine andere Weise die Sünde kennen gelernt, als durch den Gehorsam, nie ohne eine äußere Macht, die gegen uns zeugt, die uns überlegen und von unseren inneren Gefühlen unabhängig ist, über welche wir ohne Zweifel nachforschen und mit brünstigem Gebet nachsinnen müssen, - aber die erleuchtende Wahrheit kommt von oben, wird ganz allein vom heiligen Geist gegeben, der mit der Machtvollkommenheit Gottes selbst redet; denn wir müssen damit anfangen, diesen Abscheu vor der Sünde zu einer Zeit in uns aufzunehmen, wo wir noch nicht im Stande sind, ihn recht zu erkennen.

So wollen wir denn, meine lieben Freunde, uns in die Arme des Erlösers werfen. Sollen denn die Leiden und Schmerzen dieser Erde uns zurückhalten? und haben wir überhaupt Zeit, uns damit abzugeben, wenn es sich um die Rettung unserer Seelen handelt! Lasst uns gehen zu Jesu im Gefühl der tiefsten Niedrigkeit, aber mit einem rückhaltlosen Vertrauen in den, der für uns alles erfüllt und alles erduldet hat. O welch unendliche Seligkeit, dass wir uns am Fuß des Kreuzes Christi so ganz ausruhen können! Ich fange an, die Größe meines Elendes einzusehen; aber ich umfasse das Kreuz meines Erlösers, ich will nur dieses und seine Gnade, seine Gerechtigkeit allein; keine Zutat meiner Werke. Meine Werke! sie könnten mich nur verdammen; aber erkauft durch ihn, gewaschen in seinem Blut, welches die Versöhnung meiner Sünden ist, ergreife ich sein Kreuz und stütze mich einzig und allein auf das Opfer meines Erlösers.

Und dann lasst auch zu denen uns vom Heiland reden, die ihn nicht kennen. Mit einem solchen Übel, welches ganz anders als alle Übel der Erde das einzige Übel ist, welches in Wahrheit diesen Namen verdient, und welches die Grundursache aller anderen Übel ist; und mit einem solchen Heilmittel in der Hand, das ganz anders als alle Heilmittel der Erde - das einzig sichere und untrügliche ist, sollten wir damit durch das Leben, durch die Gesellschaft, durch unsere Familien, durch die Kreise unserer Nachbarn und Freunde dahin gehen können, ohne mit ihnen von der Sünde und von Jesu Christo zu sprechen, welcher ihr Erlöser ist, wie der unsrige? Lasst uns das Kreuz ergreifen, das Kreuz predigen, sterben mit dem Kreuz in der Hand, sterben mit der Kreuzpredigt auf unsern Lippen; so wird unser Tod der Anfang des Lebens sein, und Gott wird in unserem Leib verherrlicht werden, sei's durch Leben oder durch Tod, vor Allem aber durch das Blut und die Erlösung des Lammes Gottes! Das ist meine Bitte an Gott für jeden von Euch, wie für mich selbst, in der Liebe Christi, welche er, so flehe ich, in uns vermehren wolle! Amen.

Darf ich wiederkommen mit derselben Schuld?
Hast Du nicht verloren endlich die Geduld?
Ist denn Deine Gnade also täglich neu,
dass Du willst vergeben, auch so oft es sei?

Wenn ich so Dich frage und ich seh‘ Dich an:
O wie hat Dein Herze sich mir aufgetan!
Liebe, lauter Liebe ist's, die mich umfängt,
ach, und die Liebe, wie kein Mensch es denkt!

Hermann Heinrich Grafe, 1818 - 1869

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