Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Das Unsichtbare.

Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Das Unsichtbare.

(Den 30. Dezember 1855.)

Offenbarung 22:
Und er zeigte mir einen lauteren Strom des lebendigen Wassers, klar wie ein Kristall; der ging von dem Stuhl Gottes und des Lammes. Mitten auf ihrer Gasse und auf beiden Seiten des Stroms stand Holz des Lebens, das trug zwölferlei Früchte, und brachte seine Früchte alle Monate; und die Blätter des Holzes dienten zu der Gesundheit der Heiden. Und wird kein Verbanntes mehr sein: und der Stuhl Gottes und des Lammes wird darinnen sein; und seine Knechte werden ihm dienen und sehen sein Angesicht; und sein Name wird an ihren Stirnen sein. Und wird keine Nacht da sein, und nicht bedürfen einer Leuchte oder des Lichtes der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und er sprach zu mir: Diese Worte sind gewiss und wahrhaftig. Und Gott, der Herr der heiligen Propheten, hat seinen Engel gesandt, zu zeigen seinen Knechten, was bald geschehen muss. Siehe, ich komme bald. Selig ist, der da hält die Worte der Weissagung in diesem Buch. Und ich bin Johannes, der solches gesehen und gehört hat. Und da ich es gesehen und gehört, fiel ich nieder, anzubeten zu den Füßen des Engels, der mir solches zeigte. Und er spricht zu mir: Siehe zu, tue es nicht; denn ich bin dein Mitknecht, und deiner Brüder, der Propheten, und derer, die da halten die Worte dieses Buchs; bete Gott an. und er spricht zu mir: Versiegle nicht die Worte der Weissagung in diesem Buch, denn die Zeit ist nahe. Wer böse ist, der sei immerhin böse; und wer unrein ist, der sei immerhin unrein: aber wer fromm ist, der sei immerhin fromm; und wer heilig ist, der sei immerhin heilig. Und siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir, zu geben einem Jeglichen, wie seine Werke sein werden. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte. Selig sind, die seine Gebote halten, auf dass ihre Macht sei an dem Holz des Lebens, und zu den Toren eingeben in die Stadt. Denn draußen sind die Hunde, und die Zauberer, und die Hurer, und die Totschläger, und die Abgöttischen, und alle die lieb haben und tun die Lügen. Ich, Jesus, habe gesandt meinen Engel, solches euch zu zeugen an die Gemeinen. Ich bin die Wurzel des Geschlechts Davids, ein heller Morgenstern. Und der Geist und die Braut sprechen: Komm. Und wer es hört, der spreche: Komm. Und wen dürftet, der komme, und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst. Ich bezeuge aber allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: So Jemand dazu setzt, so wird Gott zusetzen auf ihn die Plagen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und so Jemand davon tut von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott abtun sein Teil vom Buch des Lebens, und von der heiligen Stadt, und von dem, was in diesem Buch geschrieben steht. Es spricht, der solches zeugt: Ja, ich komme bald, Amen. Ja komm, Herr Jesu! Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sei mit euch Allen! Amen.

Das Kapitel, welches uns eben vorgelesen worden ist, könnte allein hinreichen, unsere Herzen zu jeder Zeit mit Kraft und Freude zu erfüllen, wenn wir es in vollkommener Glaubenseinfalt annehmen könnten. Wenn ein von der Armut heimgesuchter Mann sicher wüsste, dass er morgen reich sein würde; wenn ein durch Leiden niedergedrückter Mann sicher wäre, am folgenden Tag von allen seinen Leiden befreit zu sein; würden sie nicht stark genug sein, einige Stunden zu warten, und würden sie nicht in dieser Hoffnung der kleinen Anzahl Stunden, welche sie noch vom Augenblick ihres Glücks trennt, im Geist voraneilen? Und wir, meine Freunde, wenn wir den einfältigen und festen Glauben hätten, und eine klare Anschauung der ewigen Seligkeit besäßen, die uns in so schönen und zugleich so ergreifenden Worten im letzten Kapitel der Offenbarung beschrieben ist, würden wir nicht auch sagen: „Komm, Herr Jesu!“ und würden wir es nicht in vollem Frieden sagen? Was bedürfen wir weiter, als was Gott uns gegeben hat? Nichts als was Gott uns noch geben kann: Den einfachen Glauben an das Unsichtbare. Wir leben in der Zeit, es handelt sich nur noch darum, in der Ewigkeit zu leben. Wir werden beständig zu dem Sichtbaren hingezogen, es handelt sich nur noch darum, in die Gemeinschaft des Unsichtbaren einzutreten. Ich sage, es handelt sich nur noch darum, aber das ist etwas Großes, eine ungeheure Veränderung. Denn die Sünde besteht nicht nur in dem mannichfaltigen groben Ungehorsam gegen das göttliche Gesetz, welcher in der Welt herrscht; die Sünde in ihrer feineren und tieferen Art, ihre eigentliche Quelle ist der Unglaube, der Zug zum Sichtbaren; denn da Gott unsichtbar und der Mittelpunkt, die Seele des Unsichtbaren ist, so kostet es uns nur deshalb so viel Mühe, uns vom Unsichtbaren zu nähren, weil wir von Natur von Gott ferne sind. Der Charakter des Wortes Gottes ist Leben und Sterben im Unsichtbaren; und für einen denkenden Menschen würde dies allein hinreichen, die göttliche Eingebung desselben zu beweisen. Es ist dem Menschen, der seiner gefallenen Natur nach ein Sklave des Sichtbaren ist, nicht gegeben, sich darüber zu erheben, d. h. aus sich selbst herauszugehen, um sich bis zum Unsichtbaren zu erheben und aus der Tiefe des Unsichtbaren heraus zu reden, wie das Wort Gottes; wie nicht nur Jesus Christus, der Menschensohn, der im Himmel ist und vom Himmel redet, sondern auch wie seine Werkzeuge, die beauftragt sind, und das Wort Gottes zu überliefern, welches von Jesu Christo erfüllt aus dem Himmel heraus redet, obgleich es auf der Erde ist, vermöge dieses Wunders der Gnade Gottes, das wir die göttliche Eingebung nennen, und welches das göttliche Ansehen dieses Wortes ausmacht. O reines Buch, heiliges Buch, Buch Gottes, Buch, das über uns und über die Welt erhaben ist, das zu uns von einer anderen Welt und zwar aus der innersten Tiefe einer anderen Welt heraus redet! Wie kommen wir nun aber in innere Verbindung mit dem Unsichtbaren? Wir fühlen Alle, was diesen Punkt anbetrifft, unseren Mangel und unsere Schwäche: aber lasst uns vielmehr daran denken, wie groß unsere Stärke, unsere Glückseligkeit, unser Friede, wie groß unsere Freude wäre, wenn wir, wie das Wort Gottes, wie Jesus Christus im Unsichtbaren selbst lebten und webten; wenn wir durch die Macht des Glaubens im Voraus in Gott und in das Himmlische versetzt werden und Alles so ansehen könnten, wie Gott selbst es ansieht; wenn wir die Dinge mit seinem Maßstab messen, sie wie er würdigen und beurteilen könnten? „So wir uns selbst richteten, so würden wir nicht gerichtet,“ hat man uns noch zur guten Stunde von Seiten Gottes gesagt.

Nach dem Bisherigen ist das erste Mittel, um sich mit dem Unsichtbaren in innere Verbindung zu setzen, eine Lebensgemeinschaft mit der heiligen Schrift, welche das Wort und das Zeugnis Gottes ist. Unter dem Ausdruck „Lebensgemeinschaft“ verstehe ich nicht nur, sie alle Tage lesen und ihr Zeugnis annehmen, sondern ich verstehe darunter, sich mit der heiligen Schrift nähren, darin das Brot des Lebens suchen, das vom Himmel herniedergekommen ist, den Herrn Jesum Christum selbst darin suchen, dieses lebendige Brot, das der Welt das Leben gibt, und dessen Leib für Euch, für mich, für uns Alle gebrochen ist, ihn im Glauben aufnehmen, insbesondere durch das Sakrament des heiligen Abendmahls, das uns den Gegenstand des Glaubens so lebhaft vor die Augen führt. Wir müssen uns nähren mit dem Wort Gottes, meine lieben Freunde; wir müssen beständig mit ihm leben Tag und Nacht. Möge das Wort Gottes für uns sein, was es, um nur ein Beispiel anzuführen, für den Verfasser des 119. Psalms war, dieses Psalms von 176 Versen, unter denen es nur zwei oder drei gibt, in denen das Wort Gottes nicht mit einem der unzähligen Namen genannt wird, die ihm der Psalmist gibt. O lasst uns leben mit dem Worte Gottes! lasst uns beständig leben im Hauch der Schrift; denn es ist Himmelshauch und Gottesodem!

Um mit dem Unsichtbaren in Gemeinschaft zu kommen, lasst uns ohne Unterlass beten. Ja beten: aber wie beten? O mein Gott! beten als ob wir dich sähen, mit dir sprächen, dich hörten, dir antworteten, als ob wir deine Gegenwart spürten, dein Wort kosteten! O wer wird uns beten lehren, wenn du es nicht tust, Gott des Gebetes? Mein Gott, vergib deiner Kirche, welche allein in der Welt zu beten weiß, die Art und Weise, wie sie betet; vergib auch uns die Art und Weise, wie wir selbst beten, diese Schlaffheit, diese Unsicherheit, diesen Unglauben selbst in den weniger untreuen und ungläubigen Tagen unseres Christenlebens und Christenberufs. Mein Gott, verzeihe die Sünde, die sich auch an unsere heiligen Opfergaben knüpft! O dass wir in diesem Augenblick den Raum, der uns von dir trennt, durch das Gebot überspringen könnten, dass wir beten könnten wie Jesus Christus, wie ein Moses, ein Samuel, ein David, ein Paulus, ein Johannes gebetet haben! dass wir beten könnten, was wirklich beten heißt, - was beten heißt! - dem Ausspruch Jakobi gemäß, der von Elias sagte: „Er betete ein Gebet.“ Ach! die meiste Zeit beten wir ohne zu beten. Wir haben keine Vorstellung von der Schwäche und dem Unglauben, die sich in unsere Gebete mischen, weil wir eben nicht mit dem Unsichtbaren leben; und wir haben auch keine Vorstellung von den Segnungen und Gnaden, deren wir uns dadurch berauben. O meine Freunde, lasst uns immer und immer wieder beten: „Herr, lehre uns beten!“ Wenn wir zu beten verstehen, werden wir Alles verstehen, und was noch weit mehr ist, Alles besitzen. Wir werden Jesum Christum kennen, und noch mehr als das: wir werden ihn besitzen. Übrigens erkennt man ihn nur, wenn man ihn besitzt. Indem man ihn besitzt, erkennt man ihn; wenn man ihn kennt, liebt man ihn, und mit ihm triumphiert man durch den Glauben über das Sichtbare und tritt den Satan unter die Füße. Möge der Gott des Friedens selbst den Satan unter unsere Füße treten!

Meine Freunde, hinauf den Blick zum Unsichtbaren, wie es im letzten Kapitel der Offenbarung beschrieben ist …. Bald werden wir vor Gott erscheinen. Das gilt nicht nur von Denen, die von Tag zu Tag darauf warten, abgerufen zu werden, die mehr als Andere vom Herrn gemahnt werden, sich bereit zu halten, die sich darauf freuen, ja, die sich heiß nach dem Augenblick sehnen, wo Jesus zu ihnen sprechen wird: „Komm!“ es ist ebenso Wahrheit für alle, weil Keiner von uns sicher ist, bis heute Abend zu leben. Jetzt aber, da Ihr alle Eure Kräfte noch frei gebrauchen könnt, jetzt müsst ihr in die Gemeinschaft des Unsichtbaren eintreten durch das Wort Gottes und das Gebet. Was ich Euch da sage, sind freilich recht alte bekannte Dinge, aber ach, doch recht neu wegen unseres Unglaubens und unserer Trägheit!…. Sucht das Unsichtbare! Sucht Gott selbst auf seinem Thron mitten in dieser unsichtbaren Welt, sucht ihn durch Jesum Christum, der sie uns durch den Vorhang eröffnet hat, d. h. durch seinen gebrochenen Leib,1) und dessen Liebe und Schmerzen ein Maßstab sind für die Freude, welche er uns bereitet hat! Ob er aber verzieht, harre seiner, „denn er wird gewisslich kommen und nicht verziehen.“2)

Wie wird uns sein, wenn endlich nach dem schweren,
doch nach dem letzten ausgekämpften Streit
wir aus der Fremde in die Heimat kehren
und einzieh‘n in das Tor der Ewigkeit;
wenn wir den letzten Staub von unsern Füßen,
den letzten Schweiß vom Angesicht gewischt
und in der Nähe sehen und begrüßen,
was oft den Mut im Pilgertal erfrischt!

Wie wird uns sein, wenn wir vom hellen Strahle
des ew'gen Lichtes übergossen stehn
und, o der Wonne! Dann zum ersten Male
uns frei und rein von aller Sünde sehn;
wenn wir durch keinen Makel ausgeschlossen
und nicht zurückgescheucht von Schuld und Pein,
als Himmelsbürger, Gottes Hausgenossen,
eintreten dürfen in der Sel'gen Reih'n!

Wie wird uns sein! O was kein Aug gesehen,
kein Ohr gehört, kein Menschensinn empfand,
das wird uns werden, wird an uns geschehen,
wenn wir hineinziehn ins gelobte Land.
Wohlan, den steilen Pfad hinangeklommen!
Es ist der Mühe und des Schweißes wert,
dahin zu eilen und dort anzukommen,
wo mehr, als wir verstehn, der HErr beschert!

Philipp Spitta, 1801-1859

1)
Heb. 10,20
2)
Hab. 2,3.
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