Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Rückblicke - 4. Das Gebet.

(Den 3. Februar 1856.)

Meine lieben Freunde in Christo! unter den Gegenständen, auf die sich die schmerzlichen Rückblicke eines Christen, der sich seinem Ende nahe glaubt, erstrecken, ist ohne Zweifel keiner, an dem er mehr verbessern wollte, wenn er zum Leben wieder zurückkäme, als das Gebet. Was ist das Gebet wie es tatsächlich geübt wird für die Mehrzahl der gläubigen und betenden Christen? Einige der Sammlung geweihte Augenblicke des Morgens, einige Augenblicke des Abends, mehr oder weniger lang, mehr oder weniger kurz, manchmal sehr kurz, und dann eine Erhebung des Herzens zu Gott in außerordentlichen Umständen, die ein besonderes Bedürfnis, sich Gott zu nähern, fühlbar machen, auf diese dürftigen Verhältnisse beschränken viele Christen ihre Übung oder viele Menschen, die sich so nennen. Und weiter, die Früchte des Gebets, so oft in der heiligen Schrift verheißen, wie wenig sind sie bei der großen Mehrzahl bekannt! Wo sind sie, die mächtigen Früchte der Heiligung, welche die Seele über alle Versuchungen triumphieren lassen, wie Jesus in der Wüste triumphiert hat? und wo sind sie, die ihr mehr als Sieg verleihen in Dem, der uns geliebt hat? Wo sind sie, die Früchte des Trostes, welche über die Seele eine süße und unerschöpfliche Seligkeit ergießen, eine Seligkeit, die über alle Trübsal der Erde zu siegen vermag, so dass sie selbst in den bittersten Ängsten des Geistes und Herzens, oder des Fleisches, sich noch der vollkommenen Seligkeit zu erfreuen vermag, welche Jesus im Tod seinen Jüngern gewünscht hat, die in ein Leben fortwährenden Sterbens hineintraten? Wo sind sie, die Früchte der Erlösung, in welchen die Seele Alles von Gott erhält, was sie bittet, sei es, dass sie mit Jesus spreche: „Ich weiß, dass du mich allezeit erhörst,“1) sei es, dass sie, ohne sich so hoch zu schwingen, wenigstens mit David sagen könne: „Du erhörst Gebet.“2) - Lasst uns aufrichtig bekennen, dass zwischen den Gebetsverheißungen der heiligen Schrift und unseren Gebetsfrüchten ein so großer Abstand liegt, dass mehr als einmal unser schwacher Glaube darüber verwirrt, vielleicht auf Augenblicke sogar erschüttert worden ist und wir uns gesagt haben: Ist das Alles? Nein, das ist nicht Alles, was verheißen worden war, aber nur darum, weil wir nicht alles getan haben, was uns befohlen war. Ach, meine Freunde, das Gebet, wie ich es eben nach der Natur gezeichnet habe, ist etwas ganz Anderes, als das, welches die heilige Schrift darstellt und dem sie alle Verheißungen macht.

Was Alles ist nicht das Gebet nach der heiligen Schrift? Vor einigen Tagen sagte ich, die heilige Schrift, das Wort Gottes, sei der gepredigte Himmel; nun möchte ich, um bei diesem Bild zu bleiben, sagen: das Gebet gemäß der heiligen Schrift sei der Himmel, empfangen in unserm Inneren durch den heiligen Geist. Ohne das Wort ist das Gebet nichtig, es hat keine Nahrung: ohne das Gebet ist das Wort Gottes ohnmächtig und dringt nicht in das Herz. Aber wenn die Himmelswahrheiten, deren die Schrift ganz voll ist, durch das Gebet aufgenommen dem Wesen unserer Seele angeeignet werden und in's Innerste unseres inwendigen Menschen eindringen, dann erkennen wir, dass das Gebet den Himmel mit allen seinen Gütern, den heiligen Geist mit allen seinen Gnadengaben, Gott mit allen seinen Verheißungen uns zu eigen macht. Das Gebet ist der Schlüssel, welchen Gott in unsere Hände gelegt hat, um uns mit dem Unsichtbaren in Verbindung zu setzen: Alles mit dem Gebet, Nichts ohne das Gebet. Es ist der Schlüssel, sage ich, den Gott in unsere Hände gelegt hat; denn er hat noch einen anderen, den er in seiner Hand bewahrt, dessen er sich in seiner Gnade manchmal bedient, um uns die unsichtbare Welt zu öffnen; wenn wir es nämlich versäumt haben, sie uns selbst zu öffnen, uns mit ihm in Verbindung zu setzen und mit seiner göttlichen Tätigkeit zusammen zu arbeiten, wie geschrieben steht: „Wir sind Gottes Mitarbeiter.“3) So hat Gott dem Saul dadurch, dass er ihn auf dem Weg von Damaskus niederwarf und ihn als einen anderen Menschen wieder aufhob, den Himmel geöffnet, als Saul, weit davon entfernt ihn zu suchen, vielmehr die Jünger Christi suchte, um sie zu martern und zu töten. Aber das sind Gnadenschläge, auf welche wir nicht rechnen sollen, und die uns um so weniger zu Teil werden würden, je mehr wir darauf rechneten. Ohne Zweifel würde sich auch in solchen Fällen, wenn man auf den Grund geht, das aufrichtige Suchen nach Gott noch finden lassen, wenn man daran dächte: Dieser Saulus von Tarsus, der den Namen Jesu in den Seinigen verfolgen wollte, hatte dennoch ein aufrichtiges Herz, welches Gott suchte und von ihm die Wahrheit erbat; vielleicht hatte von dem Augenblick an, wo Stephanus für seine Mörder gebetet, der Funke eines neuen Lebens angefangen in die Seele Sauls zu dringen; was wissen wir davon? Wie dem auch sein mag, der gewöhnliche Weg Gottes ist der, auf das Gebet seine Gnadengüter zu verleihen und das Gebet abzuwarten, um sie zu verleihen. „Der Herr harrt,“ sagt Jesaias, „dass er euch gnädig sei.“4) Wessen harrt er? er harrt bis ihr ihn anruft. Und in Jeremias: „Ihr werdet mich anrufen und ich will euch erhören. So ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr.“5) Ebenso ists bei uns. Durch das Gebet können wir Alles erlangen, und dem wahren Gebet, wie es die heilige Schrift uns malt, gelten alle Verheißungen.

Und ferner, meine Freunde, das Gebet ist das unterscheidende Kennzeichen der starken Diener Gottes. Alle, obgleich mit beträchtlichen Verschiedenheiten, bieten uns diesen gemeinsamen Zug dar: es sind Männer, die viel beten und Männer, die inbrünstig beten. Seht an die Gebete eines Jakob: er kämpft mit dem Herrn eine ganze Nacht hindurch, bis er über den Herrn selbst triumphiert hat, der sich zu diesem Sieg hergibt, um den Glauben seines Dieners zu üben. Seht an die Gebete eines Moses und eines Samuel, eines Moses, des Gründers von Israel, eines Samuel, des Reformators von Israel, von denen Jeremias im Anfang seines 15ten Kapitels, um anzudeuten, dass Gott entschlossen war, eine gewisse Gnade nicht zu bewilligen, also spricht: Und „wenn gleich Mose und Samuel vor mir ständen, so habe ich doch kein Herz zu diesem Volk.“ Versucht es, für Moses oder Samuel unsere Namen zu setzen: Wenn der oder der unter uns gebetet hätten, würde es doch nicht gewährt werden, welch ein Abstand, welch eine Demütigung, wie widersinnig wäre dies! Seht an die Gebete eines David, die Psalmen, Gebete, welche nicht allein ihn selbst aufrecht zu halten vermochten, sondern welche gleichsam 150 Säulen sind, welche Geschlecht auf Geschlecht aufrecht halten und bis an's Ende der Welt alle Geschlechter des Volkes Gottes aufrecht halten werden! Seht an die Gebete eines Königs Josaphat, der nur durch das Gebet die vereinigten Armeen der Moabiter, Ammoniter und der Bewohner des Gebirges Seir vernichtet; die Gebete des Königs Hiskia, seines Urenkels, der in seine Fußstapfen trat und der durch das Gebet allein von dem Gott der Rache die Vernichtung einer Armee von 185.000 Mann herabruft, die nur eine Gelegenheit erwartete, um Jerusalem von Grund auf zu zerstören! Seht an, wie ein Nehemia und Esra gebetet haben, um ihr Volk nach dem Beispiel Mosis und Samuels wieder aufzurichten und zu reformieren, der Eine durch Aufrichtung des geistlichen Standes und der Gesetzesbeobachtung, der Andere durch den Wiederaufbau der Mauern Jerusalems und Wiederherstellung der Ordnung im Innern. Seht an die Gebete Jesu, „des Hauptes, des Anfängers und Vollenders des Glaubens,“ der, so sehr er Jesus, so sehr er Sohn Gottes ist, betet, ganze Nächte im Gebet zubringt, und Alles nur durch das Gebet vollbringt. Durch das Gebet beruft er die Schar der Apostel, durch das Gebet unterstützt er sie, durch das Gebet triumphiert er über den Versucher in der Wüste, in Gethsemane und auf Golgatha; durch das Gebet vollbringt er das ganze Werk unserer Erlösung, denn durch das Gebet vermag er die unerhörten Schmerzen zu ertragen, wovon unsere schrecklichsten Leiden uns kaum ein mattes Bild entwerfen können. Und nun seht, wie nach Jesu die Reihe der Beter wieder anfängt! Ein Paulus, welch ein Held des Gebetes! Das Gebet ist die Seele und Schwungkraft seines ganzen Werkes. Paulus ist Paulus vor allem durch das Gebet. Seht an die Gebete von Männern, wie der heilige Augustin, wie Calvin, wie Luther, der in der Zeit, wo er vor dem Reichstag zu Worms erschien, drei der besten Stunden des Tages in lautem Schreien zu Gott zubrachte, ohne zu wissen, dass sein getreuer Freund Dietrich unbescheiden horchte und zum Wohl der Kirche diese feurigen Gebete sammelte.6) Sehet an die Gebete eines Pascal, der, als er noch in zarter Jugend durch so anhaltende und heftige Schmerzen heimgesucht ward, dieselben mit einer Festigkeit und Frömmigkeit zu überwinden vermochte, deren scharf ausgeprägtes Siegel wir in den schönen und gewaltigen Gebeten wiederfinden, die wir von ihm noch haben. Seht an die Gebete aller Heiligen zu allen Zeiten: das ist ihr Glaube, das ist ihr Leben, das ist ihre Schwungkraft, das ist ihr Werk.

O meine Freunde, ich weiß nicht, ob Ihr durch diese Erinnerung an solche Männer eben so tief gedemütigt werdet, wie ich. Ich für meine Person fühle mich unaussprechlich gedemütigt, wenn ich mir vergegenwärtige, was meine Gebete gewesen sind im Vergleich zu dem, was sie hätten sein sollen und was sie hätten sein können. Gewiss würden auch wir in unserem niedrigen Berufskreise das sein, was diese Männer in der Geschichte der heiligen Schrift und der Kirche gewesen sind, wenn wir so zu leben wüssten, wie sie, und wenn wir, anstatt zu sagen: das war ihr besonderes Vorrecht, sagen könnten: „Herr lehre mich beten!“7) Ach wenn ich dem Leben wiedergegeben würde, ich wollte mit Hilfe Gottes und ohne auf mich zu trauen, dem Gebet viel mehr Zeit widmen, als ich getan habe, und mich viel mehr auf das Gebet verlassen als auf die Arbeit, die wir freilich pflichtgemäß nie vernachlässigen dürfen, die aber nur dann Kraft hat, wenn das Gebet ihre Stütze und Seele ist. Ich möchte besonders, dass sich die Salbung und das Feuer des heiligen Geistes in meine Gebote ausgösse, was sich nicht in einem Tag erlernen lässt, sondern die Frucht einer langen und oft schmerzlichen Lehrzeit ist. O, meine Freunde, Ihr, die Ihr noch voll von Leben seid, Ihr, deren Laufbahn ihrem Ende nach nicht nahe zu sein scheint, obgleich wir nichts darüber wissen und ich noch länger leben kann als Ihr - ergreift die Gelegenheit, kauft sie aus; fangt ein neues Gebetsleben an! Bringt in das Gebet, mit diesem brünstigen Geist, einen Geist der Ordnung und der Methode. welcher seine Kraft vermehren wird, wie er die Kraft alles Irdischen vermehrt und selbst der göttlichen Kraft zur Seite steht; eine Ordnung und Methode, wovon Jesus Christus selbst uns in dem Mustergebete, in dem Vater Unser, ein Beispiel gegeben hat. Bittet endlich Gott, Euch zu leiten und verlasst diese Stätte ganz von dem Gebet erfüllt: „Herr lehre mich beten.“ Ich werde mich mit Euch an die Arbeit machen, so kurze Zeit es auch vielleicht sein mag: Gott sieht nicht auf die Kürze der Zeit, sondern er sieht auf die Aufrichtigkeit des Herzens. Wir Alle in Einem Geist und Sinn, gedemütigt durch die Feigheit unserer Gebete, wollen den heiligen Entschluss fassen, endlich aus Erfahrung kennen zu lernen, welches die wahren Gebet-Verheißungen sind, damit wir das glückliche Erbteil davontragen in der unsichtbaren Welt, mit welcher uns das Gebet allein durch das Wort Gottes in Verbindung setzt; in dieser unsichtbaren Welt, die den Einen näher, den Andern ferner ist, als sie denken oder wünschen, und die, wie dem auch sein mag, in zehn, in zwanzig, in fünfzig Jahren, in hundert Jahren eine ungeheure Zeit und doch nur ein Augenblick! für alle Die von uns sich öffnen wird, welche ihre ganze Hoffnung auf Jesum Christum gesetzt haben, den Gekreuzigten und Wiederauferstandenen. Das ist mein inbrünstiges Gebet für Euch, und wenn der Herr mich zu sich ruft, ist es das Erbteil, welches Jedem von Euch, vor Allem meiner geliebten Familie, hinterlassen möchte! Amen.

1)
Joh. 11,42
2)
Ps. 65,3
3)
1. Kor. 3,9
4)
Jes. 30,18
5)
Jer. 29,12-14
6)
Folgendes schrieb Dietrich an Melanchthon (Schreiben an Philipp Melanchthon, Walch, Teil XVI, p. 2139) über den Aufenthalt Luthers zu Coburg, während des Reichstages zu Augsburg: „Ich kann nicht genug seine Festigkeit, seine Freude, seinen Glauben und seine Hoffnung in diesen trostlosen Zeiten bewundern. Jeden Tag stärkt er sich in diesen Sinn durch ein beständiges Lesen des Wortes Gottes. Kein Tag vergeht, an dem er nicht wenigstens 3 Stunden von der besten Arbeitszeit dem Gebiete widmet. Eines Tags war es mir vergönnt, ihn beten zu hören. Großer Gott, welch ein Geist, welch ein Glaube in seinen Worten! Er betet mit aller Andacht eines Menschen, der vor Gott steht, aber auch mit dem Vertrauen eines Kindes, das zu seinem Vater redet: „Ich weiß.“ sagte er, „dass du unser Gott und unser Vater bist, deshalb bin ich gewiss, dass du die vertilgen wirst, welche deine Kinder verfolgen. Wenn du es nicht tust, so ist die Gefahr für dich eben so groß, wie für uns. Unsere Sache ist deine: was wir getan haben, haben wir nicht lassen können; an dir ist es jetzt, barmherziger Vater, uns zu schützen.“ Während ich ihn so von ferne mit lauter Stimme beten hörte, brannte mein Herz in mir vor Freude; vornehmlich stützte er sich so fest auf die Verheißungen der Psalmen, dass er ganz sicher zu sein schien, dass Alles, um was er bat, in Erfüllung gehen müsste.“
7)
Luk. 11,1.
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