Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Rückblicke - 2. Das Forschen im Wort Gottes.

Monod, Adolphe - Abschiedsworte - Rückblicke - 2. Das Forschen im Wort Gottes.

(Den 20. Januar 1856.)

Meine lieben Freunde, ich habe vergangenen Sonntag unter dem Titel: „Schmerzliche Rückblicke eines Sterbenden,“ den neuen Gesichtspunkt angefangen auseinanderzusetzen, welcher demselben über viele Dinge aufgeht, die er jetzt anders gemacht haben und gern noch anders machen möchte, wenn er von dem halb geöffneten Grab zurückberufen würde; einer der wichtigsten Punkte nun in dieser Gedankenreihe ist unser Forschen im Wort Gottes. Ach, sicher sagt man sich dann: Wie hätte ich in Betracht des Wortes Gottes andere Handeln, tiefer darin forschen, und es mehr zu eigen haben sollen, um es besser zu tun und anderen es besser mitteilen zu können! - Lasst uns einige kurze Augenblicke bei diesem heilsamen Gedanken verweilen, damit Diejenigen sich demütigen mögen, für die das Ende naht, und Diejenigen erleuchtet werden mögen, welchen noch Zeit gegeben ist, welche aber nicht wissen bis wann.

Was ist die heilige Schrift? Niemals werden die Menschen es erklären können, wie sie entstanden ist, noch insbesondere wie sich der Geist Gottes und der Geist des Menschen darin vereinigt haben, um daraus ein Wort zu machen, das göttlich und himmlisch erhaben, und zugleich menschlich und uns so nahe ist; dies zu erklären ist eben so schwierig wie zu erklären, wie die göttliche und menschliche Natur sich in Jesu Christo vereinigen: und nicht ich mache diese Vergleichung, sondern die heilige Schrift selbst, die sich selbst das geschriebene Wort und Jesum Christum das lebendige Wort nennt. - Wie es sich nun auch mit der Entstehung der heiligen Schrift verhalten mag, sie ist der Himmel, gepredigt auf Erden; in ihr sind die Wahrheiten des Himmelreichs in der Sprache der Menschen den Menschen mitgeteilt, als ob das unsichtbare Reich mitten unter sie herabgestiegen und ihnen vor die Augen gestellt wäre. Es gibt kein anderes Buch, selbst die besten nicht ausgenommen, welches wie dieses uns die Geheimnisse des Himmelreiches mitteilt. Sie alle sind mit menschlichen Irrtümern vermengt; die heilige Schrift allein ist davon ausgenommen; sie ist das Buch Gottes und voll von der Wahrheit Gottes; in ihr hören wir reden Gott durch den heiligen Geist; in ihr sehen wir Gott und den Menschen, Gegenwart und Zukunft, Zeit und Ewigkeit beschrieben, wie sie in Wahrheit sind.

Hat sich auf diese Weise ein Mensch so Rechenschaft davon gegeben, was die heilige Schrift ist, so wird es ihm leicht sein zu bekennen, welchen Gebrauch er davon machen muss. Wir müssen die Schrift befragen, wie wir einen Engel des Himmels fragen möchten, den Gott in diesem Augenblick ganz ausdrücklich zu unserer Belehrung senden würde, oder noch besser, wie wir unseren Herrn Jesum Christum selbst fragen würden, wenn wir ihn in diesem Augenblick bei uns hätten, mit ihm sprechen und ihn hören könnte. Und in Wahrheit wir reden mit ihm, wir hören ihn, wenn wir die heilige Schrift lesen; weil sie ihn uns offenbart, so offenbart sie uns Alles durch seinen heiligen Geist und aus seinem Mund. O, wie können wir je dieses Buch genugsam mit unserer Aufmerksamkeit und mit unserer Ehrfurcht umfassen! Gewiss, es ist nicht die seligmachende Wahrheit selbst, aber doch der Weg dazu; es ist nicht das Heil, aber die Offenbarung unseres Heils: wie könnten wir dies ohne jenes Buch erkennen? aber mit ihm werden wir, je besser wir damit bekannt werden, um so mehr auch Jesum, den Heiland unserer Seelen kennen lernen. Kein Christ wird die Wahrheit dieser Grundsätze bestreiten; und doch wie selten sind Diejenigen, welche die heilige Schrift in ihrer Tiefe durchforschen! Die Meisten lesen sie oberflächlich und beschränken sich auf einige große allgemeine Wahrheiten, anstatt immer weiter vorwärts zu dringen und sich von Allem nach Vermögen Rechenschaft abzulegen, wie geschrieben steht: „Das Geheimnis des Herrn ist offenbart uns und unsern Kindern ewiglich.“1) Und warum dieser sonderbare Widerspruch mit uns selbst? Das kommt von den Schwierigkeiten eines solchen Bibellesens. Man muss gestehen, wenn man anfängt so zu lesen, so stößt man auf viele Schwierigkeiten, auf vieles Dunkle, und da es viele Mühe kostet, sich hier durchzukämpfen, der Geist des Menschen aber von Natur feig und träge ist, so verliert man nach und nach den Mut, und begnügt sich beim Lesen und Wiederlesen der Bibel immer mit derselben eintönigen Arbeit, welche kaum die Oberfläche durchdringt, nichts Neues lehrt, immer dasselbe wiederholt, und uns sogar manchmal eine Art Ermüdung verursacht, als ob das Wort Gottes langweilig, als ob es nicht fähig wäre, uns immer und immer wieder zu unterrichten, als ob es nicht ein unerschöpflicher Born wäre, wie Gott selbst! Lasst uns aber doch ja nicht glauben, diese Schwierigkeiten seien unüberwindlich! Nein, meine Freunde; aber man muss sich Mühe geben; hier wie beim Gebet, wie überall im Christenleben will Gott, dass der Mensch selbst mit ihm an die Arbeit gehe. Kenntnis der Bibel, Geschmack an der Bibel ist die Frucht und Belohnung solcher demütigen, aufrichtigen und ausdauernden Arbeit.

Ach kehre doch Jeder mit einem neuen Eifer zu seiner Bibel zurück! Nehmt ein Buch nach dem andern vor Euch, und sucht beim Lesen nicht bloß allgemeine Empfindungen einer gefühlsmäßigen Frömmigkeit in Euch aufzunehmen, sondern eine tiefe und immer wachsende Erkenntnis des Reiches Gottes. Studiert ein Buch, bis Ihr es so gut als möglich verstanden habt, dann geht an ein zweites, dann an ein drittes und so fort; so werdet Ihr finden, dass beim zweiten und beim dritten Lesen viele scheinbar unübersteigliche Schwierigkeiten schwinden werden; und sollten noch welche übrig bleiben, so werdet Ihr deshalb nicht weniger Frucht von der Arbeit haben, die Ihr vor Gottes Augen getan habt. Nehmt von diesem Studium selbst die schwierigsten Bücher nicht aus, wie die Propheten, besondere die kleinen, welche viele Christen als unverständlich bei Seite lassen; wenn man sich die Mühe geben will, sie aufmerksam zu lesen, so kann man gar vieles Anziehende darin finden. Es gibt übrigens durch Gottes Gnade gute Bücher, gute Erklärungen zu einzelnen Teilen der heiligen Schrift, welche als Schlüssel für die anderen dienen können; mit Hilfe dieser guten Bücher dringt man immer tiefer in das Verständnis des Wortes Gottes ein; dann kann man sich ganz besonders mit den Teilen der Schrift beschäftigen, welche ganz besonders an die Christen gerichtet sind; aber ich wiederhole es, ohne andere zu vernachlässigen. Und die Frucht, die Belohnung derer, die so treu und ausdauernd sein werden, das wird sein, Erkenntnis von Gottes Wort, Liebe dazu und immer tieferes Eindringen, ja man wird immer die Zeit zu kurz finden, es verstehen zu lernen. Ich habe einen Mann gekannt, der täglich 7 Stunden mit dem Lesen der Bibel zubrachte und in dieser Beschäftigung immer größere Freude fand. Wenn jemand im Glauben sich der Hilfsquellen bedient, welche Gott ihm zur Verfügung gestellt hat, wenn er im Vertrauen auf Gottes Leitung diesen Gedanken, welchen ich für jetzt nur andeuten kann, Folge geben wollte: er würde in dem Wort Gottes Schätze finden, die er noch nicht geahnt; dann würde es für ihn eine eben so feste Stütze werden, wie einst für Jesum Christum bei seiner Versuchung in der Wüste. Dann würde es für ihn das werden, was es für die Heiligen des Neuen Testamentes gewesen ist und auch für die des Alten Testamentes in den Teilen der heiligen Schrift, welche vor ihnen vorhanden waren; was es für David, für Daniel, für Paulus, für alle Heiligen Gottes gewesen ist. Gott möge uns Allen diese Gnade zu Teil werden lassen! Möge er, der eben so leicht in wenig Zeit oder in viel Zeit, bei wenig Kraft oder bei viel Kraft zu segnen vermag, meine Worte so in Euer Herz eindringen lassen, dass sie in Eurem Bibellesen eine Veränderung bewirken, wofür Ihr Gott in Ewigkeit danken möget! Amen.

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5. Mos. 29,29
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