Monod, Adolphe– Gott ist die Liebe
„Gott ist die Liebe.“
1 Joh. 4,8
In einer kleinen italienischen Stadt, die der Vulkan des Berges Vesuv vor achtzehnhundert Jahren unter einem Lavastrom begrub, findet man alte verbrannte Handschriften, die eher erloschenen Kohlen als Büchern gleichen und die man durch ein künstliches Verfahren langsam und mühsam eine Zeile nach der andern, ein Wort nach dem andern entfaltet. Denken wir uns, eine dieser Rollen Herculaneums enthielte ein Exemplar unsers Briefes und zwar das einzige, das noch vorhanden ist. Bei dem vierten Kapitel und beim achten Verse angelangt, hat man eben die zwei Worte entziffert: „Gott ist,“ man kennt das nächstfolgende noch nicht. Welche Spannung! Was die Philosophen so lange und so vergeblich gesucht haben, was die weisesten unter ihnen zu entdecken sich endlich bescheiden mussten, eine Erklärung des Wortes Gott, da haben wir sie endlich und zwar von Gottes Hand selbst. Gott ist … was wird man uns sagen, und wer ist Er?
Wer ist Er, dieser verborgene Gott, „der in einem Lichte wohnt, zu welchem Niemand gelangen kann, den Niemand gesehen hat noch sehen kann, den wir im Finstern suchen, ob Er gleich nicht fern ist von einem Jeden unter uns, und der uns nötigt, mit Hiob auszurufen: „Ach, dass ich wüsste, wie ich Ihn finden möchte; gehe ich nun stracks vor mich, so ist Er nicht da; gehe ich zurück, so spüre ich Ihn nicht; waltet Er zur Linken, so schaue ich Ihn nicht; verbirgt Er sich zur Rechten, so sehe ich Ihn nicht (Hiob 23,3.8.9).“ Wer ist Er, dieser mächtige Gott, dessen Wort Alles geschaffen hat. was ist, und der es mit einem Wort vernichten kann, in dem wir leben, weben und sind, der uns jeden Augenblick in Seiner Hand hält, und der nach Belieben über unser Dasein, unsere Stellung, unsern Aufenthalt, unsere Umgebung, unsern Leib, ja sogar über unsern Geist verfügen kann? Wer ist Er, dieser heilige Gott, dessen Augen zu rein sind, als dass Er das Böse sehen möchte; den beleidigt zu haben uns unser Gewissen überzeugt und dessen Zorn uns die Natur dunkel offenbart, ohne dass weder Gewissen noch Natur uns ahnen lässt, ob Vergebung bei Ihm ist; jener gerechte Richter, in dessen Hände wir beim Scheiden aus dieser Welt fallen, vielleicht heute, vielleicht morgen, ohne dass wir wissen, welches ewige Los Er uns beschieden hat, nur des gewiss, dass wir das Schlimmste verdient haben? Wer ist Er? Unsere Ruhe, unsere Seligkeit, unsere Ewigkeit hängt davon ab; und es scheint mir, als neigten sich alle Geschöpfe Gottes über das heilige Buch in stiller und feierlicher Erwartung dessen, was es der Welt über die Frage aller Fragen offenbaren wird.
Endlich wird das verhängnisvolle Wort entdeckt: Liebe. „Gott ist die Liebe.“ Was könnte die zuversichtlichste und kühnste Einbildungskraft Besseres wünschen. Herrlicheres ahnen? Dieser verborgene Gott, dieser mächtige Gott, dieser heilige Gott - Er ist Liebe. Was bedürfen wir mehr? Gott liebt uns; was sage ich. Er liebt uns? Alles in Gott ist Liebe. Liebe ist das eigentliche Wesen Gottes; wer Gott sagt, sagt Liebe. „Gott ist die Liebe!“ O, Antwort, die alle unsere Hoffnungen übertrifft! O selige Offenbarung, die aller unserer Angst ein Ende macht! O sicheres Pfand unseres gegenwärtigen, künftigen, ewigen Glückes!
Ja, könnten wir nur glauben; denn es ist nicht genug, dass Gott die Liebe ist, wir müssen mit Johannes auch sprechen können: „Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat.“ Die Liebe Gottes an sich kann uns weder trösten, noch erleuchten, noch heiligen, noch selig machen; die Liebe Gottes ist für uns nicht vorhanden, so lange sie nicht durch den Heiligen Geist in unser Herz ausgegossen und durch den Glauben in uns eingegangen ist. Als geistige und verantwortliche Wesen besitzen wir das herrliche, aber zugleich schreckliche Vorrecht, uns der Liebe Gottes zu öffnen oder zu verschließen, uns diese Liebe, diesen Schatz der Menschheit, diese Hoffnung des Weltalls erwerben oder entziehen zu können. Der Glaube an die Liebe Gottes ist daher das Gefühl, welches ich euch Allen einflößen möchte. O könnte ich euch doch von dem Gedanken: Gott ist die Liebe! gerührt, ergriffen und durchdrungen entlassen! Herr, wenn es wahr ist, dass Du die Liebe bist, so lass es uns dadurch erkennen, dass Du mir durch Deine Liebe die Zunge lösest und das Herz dieser ganzen Versammlung dieser Liebe öffnest!
Die wahre Liebe offenbart sich nicht bloß, sie betätigt sich auch als solche. oder um es mit einem schönen Ausdruck des Apostels Johannes noch besser zu verdeutlichen, „sie gibt sich (1 Joh. 3, 4).“ Daher hat es Gott nicht dabei bewenden lassen, uns zu sagen, dass Er die Liebe ist, sondern Er hat es uns durch sichtbare Zeichen und durch herrliche Tatsachen der Art bewiesen, dass diese rührende Lehre in eine noch rührendere Geschichte verwandelt ist. Öffnet die Ohren und höret, öffnet die Augen und sehet; mehr ist nicht nötig, um zu erkennen, dass Gott die Liebe ist.
Diese Tatsachen entnehme ich weder der Schöpfung noch dem natürlichen Leben. Nicht als ob beide nicht auch von der Liebe Gottes erfüllt wären, denn „der Ewige ist Allen gütig, und Alles, was Odem hat, lobe den Herrn (Psalm 145,9; 150,6);“ aber die Beweise, die sie hierfür liefern, können uns nicht hinlänglich überzeugen, weil sich Zeichen des Zornes mit Zeichen der Liebe im Schöpfungswerke Gottes vereinigen. Wenn auch die milde Wärme der Sonne die Natur mit Leben und Freude durchdringt; wenn auch majestätische Flüsse Fruchtbarkeit und Überfluss über unsere Felder ergießen; wenn auch der wohltuende Hauch der Winde die Luft, die wir einatmen, erfrischt und reinigt; wenn auch die Erde die Geschlechter der Menschen trägt und zugleich ernährt; haben wir nicht auch dieselbe Sonne in ein verzehrendes Feuer sich verwandeln sehen, diese Flüsse in verheerende Ströme, diese Winde in Stürme die in ein er Nacht hundert und fünfzig Schiffe an unsern Küsten zertrümmern, und war nicht diese Erde selbst, diese treue Erde, Erschütterungen ausgesetzt, die an einem Tage, in einer Stunde, in einem Augenblicke eine Stadt verschlingen und vom Erdboden vertilgen? Wenn auch der häusliche Herd uns die süßesten Freuden bietet in zärtlichen Herzensergießungen, in treuer ehelicher Hilfe, in den Sprösslingen, in denen wir wiederaufleben, in der Zärtlichkeit eines Kindleins und in dem Lächeln einer Mutter, ach, hat er nicht auch grausame Leiden, diese Stürme des Herzens, diese Entbehrungen der Armut, diese Angst in Krankheiten und früher oder später jenen Tod, welcher alle unsere Freuden, selbst ehe er sie zerstört, schon in aller ihrer Frische durch die Furcht erstarren lässt, dass wir sie jeden Tag unsern schwachen Händen entrinnen sehen? Es ist wahr, wollten wir uns bemühen, diese einander widersprechenden Zeugnisse zu entwirren, um dem Schöpfer zu geben, was dem Schöpfer, und dem Geschöpfe, was dem Geschöpfe gebührt, wir würden finden, dass die Zeichen des Zorns nicht in den Schöpfungsplan gehörten, und dass das Werk Gottes, wie es aus Seinen Händen hervorgegangen ist, jenes Werk, das nur durch die Schuld des Menschen nicht geblieben ist, wie es war, von Liebe strahlte wie die Sonne von Licht. Welche Liebe in dem Werke der sechs Tage, von denen jeder in der Erzählung des Moses mit den Worten schließt: „Und Gott sah, dass es gut war,“ und der letzte mit den Worten: „Und Gott sah an Alles, was Er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut!“ Welche Liebe in diesem Lichte des Himmels, in dieser fruchtbaren Erde, in dieser Ordnung der Jahreszeiten, in diesen Lichtern des Firmaments, in dieser lebendigen Menge, welche die ganze Schöpfung erfüllt und belebt! Welche Liebe in diesem Menschen, der, nach dem Bilde Gottes geschaffen, fähig ist zu denken, zu sprechen und zu lieben; denket daran, welche Liebe in jenem Worte: „Lasset uns Menschen machen nach unserm Bilde und nach unserm Gleichnis!“ Welche Liebe in jenem Eden, das heißt, in jenem wonnigen Wohnsitz und in jener dort verlebten Woche, die nach Gottes Vorbild zwischen leichter Arbeit und süßer Ruhe geteilt war! Welche Liebe in diesem aus einer Rippe Adams gebildeten Weibe, in dieser zärtlichen und reinen Verbindung, in diesem ganz unschuldigen Glück, das, mag es uns auch unbekannt sein, doch im Grunde unsers Herzens wie eine unbestimmte und schmerzliche Erinnerung zurückgeblieben ist! Welche Liebe selbst in jenem Baume der Erkenntnis; des Guten und Bösen, durch welchen Gott unsere ersten Eltern prüfte, und der, wenn sie sich treu bewiesen, ihre kindliche Unschuld in einen bewussten und freien Gehorsam umwandeln sollte! Ach, glaubt es, hätten wir den Adam vor seinem Fall fragen können, wir würden den Ausruf unsers Textes, Gott ist die Liebe! aus der Fülle seines Herzens vernommen und in jedem seiner Blicke gelesen haben. Doch von einer ganz andern Liebe will ich mit euch reden, von einer Liebe, mit der euch Gott heute liebt, euch liebt, so wie ihr seid. Diese Liebe will ich euch zeigen, wie sie in einer Tat zusammengefasst ist, in einer einzigen Tat, die unserm Apostel genügt und die auch uns, wenn wir sie recht überdenken, genügen wird. „Daran,“ fährt Johannes fort, indem er selbst seinen Gedanken weiter entwickelt, „daran ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, dass wir durch Ihn leben sollen. Darin stehet die Liebe, nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt hat und gesandt Seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden.“
In dem Augenblick jedoch, wo ich euch diese Lehre erschließe, um euch den Schatz der Liebe zu zeigen, der in ihr verborgen ist, kann ich mich einer geheimen Furcht nicht erwehren. Ich weiß, dass hier ein Wunder der Liebe vorliegt, das uns überraschen, beschämen, entzücken muss; aber ich fürchte, kalt angehört zu werden, ja, soll ich mich ganz offen aussprechen, ich fürchte selbst kalt davon zu reden. Wie der tägliche Anblick der Natur uns beinahe gegen die Schönheiten, in denen sie strahlt, unempfindlich gemacht hat, so hat auch die Gewohnheit, das Evangelium zu hören, uns gegen jene unaussprechliche Gabe abgestumpft, welche würdig zu fühlen und zu preisen alle Kräfte unserer Seele unzureichend sind. Um die Aufmerksamkeit seiner Leser zu erregen, nimmt ein Philosoph des Altertums, der die Wunder der Schöpfung beschreibt, an, sie erschlössen sich zum ersten Mal den Blicken eines Menschen, der sein ganzes Leben in einer dunkeln Höhle zugebracht hat; und nun erforscht er die Eindrücke, welche ein solches Schauspiel auf einen solchen Zuschauer hervorbringen wird. Ich will mit euch etwas Ähnliches tun. Fragen wir uns, welche Wirkung das Evangelium, das heißt, die frohe Botschaft auf die Seele eines Heiden hervorbringen würde, der sie zum ersten Mal hört; nachdem er bis dahin in der geistlichen Finsternis seines groben Götzendienstes gewandelt hat. Doch lassen wir die Voraussetzungen, nehmen wir eine geschichtliche Tatsache. Die Missionare der mährischen Brüdergemeinde, die den Grönländern das Evangelium predigten, glaubten, sie müssten diese wilden Gemüter zu der Annahme desselben dadurch vorbereiten, dass sie mit ihnen zuerst nur von den allgemeinen Religionswahrheiten redeten, vom Dasein Gottes, von dem Seinen Gesetzen schuldigen Gehorsam und von einer künftigen Vergeltung. So vergingen einige Jahre, während welcher sie keine Frucht ihrer Arbeit sahen. Eines Tages endlich wagen sie es, ihnen von dem Heilande zu erzählen und Seine Leidensgeschichte vorzulesen. Kaum hatten sie geendigt, als einer ihrer Zuhörer, Kajarnak genannt, sich dem Tische näherte, an welchem der Missionar Beck saß, und mit einer starken, aber bewegten Stimme sagte: „Was erzählst du uns da? Wiederhole uns das! Ich will auch selig werden!.“ Und Kajarnak glaubte, lebte als Christ und starb in Frieden, als gesegneter Erstling einer reichen Ernte. Versetzen wir uns an die Stelle dieses Heiden, dessen Gewissen endlich erwacht ist, und suchen wir uns den lebendigen Eindruck zu vergegenwärtigen, den er von diesem für ihn ganz neuen Evangelium empfängt. Wir brauchen zu dem Ende unserm Apostel nur Schritt für Schritt in dieser eben so kurzen, als reichen Entwicklung, die ich so eben mitgeteilt habe, zu folgen. Wir sehen daraus: Auch der sündige Mensch kann noch an dem ewigen Leben Anteil haben. Gott hat Seinen Mensch gewordenen Sohn in die Welt gesandt und zur Tilgung unserer Sünden dem Tode überliefert; und dies Alles hat Er für uns, die wir nur Seinen Zorn verdient hatten, aus freier Gnade getan.
Das Erste, was Kajarnak zu der Erkenntnis bringen muss, dass Gott die Liebe ist, ist der Zweck, den Gott sich im Evangelium vorgesetzt hat und den der Apostel in den Worten ausdrückt: „Damit wir das Leben haben.“ Obgleich der Sünder tausendmal den Tod verdient hat, will Gott doch nicht, dass er sterbe, sondern dass er lebe. Er hat es erklärt. Er hat es bei sich selbst geschworen: „So wahr Ich lebe,“ spricht der Herr, „Ich habe kein Gefallen an dem Tode des Gottlosen, sondern dass er sich bekehre und lebe (Ezech. 33,11).“ Je mehr man dem Kajarnak jenes Leben entwickelt, welches Gott dem Sünder geben will, desto mehr wird er von einer solchen Liebe überrascht, erfreut, gerührt. Dies Leben ist das Leben der Gnade, ist die Vergebung aller seiner Vergehungen, eine Vergebung, welche die Sünden tilgt und wegnimmt. Meine Sünden wegnehmen, sagt dieser schlichte Mensch zu sich selbst, welch eine Sprache! Besudelte ich meine Hände mit dem Blute meines Feindes, so habe ich sie mit dem Wasser des Meeres oder mit dem Schnee des Himmels rein gewaschen; aber die Sünde von meinem Gewissen nehmen und mir den Frieden wiedergeben, den ich vor Begehung derselben besaß, - welche Gnade, welche Liebe! Dies Leben ist das Leben des Himmels, der Besitz der Herrlichkeit Gottes in den Wohnungen der Seligen und in der Gesellschaft der heiligen Engel. Und ein Sünder wie ich zu einer solchen Herrlichkeit berufen, an einen solchen Ort zugelassen, in eine solche Gesellschaft aufgenommen: - welche Berufung, welche Liebe! Dies Leben ist das Leben Gottes, ist der Geist Gottes, ist Gott selbst, der da kommt, um im Herzen des Sünders Wohnung zu machen, ist Gott, der sich ihm gibt, mit ihm sich vereinigt; ist das nicht das Eigentümliche der Liebe? Gott schlägt Seine Wohnung auf in meiner Seele wie in einem Heiligtum Seines größten Wohlgefallens, in dieser Seele, die nur für den Teufel und seine Engel aufbewahrt zu sein schien: - welche Herablassung, welche Liebe! Aber ist diese Botschaft, diese herrliche Botschaft auch wahr? Kann sie wahr sein? Und was wird denn aus dem Gesetze Gottes, das ich übertreten, und aus dem Worte Gottes, das die Sünde mit dem Tode strafen muss, und aus der Gerechtigkeit Gottes, die dabei beteiligt ist, dass meine Verbrechen ihre Strafe erhalten?
Vielleicht scheint es mehren von euch, dass ich dem Kajarnak sehr unnatürliche Gedanken unterlege. In dieser Verzeihung Gottes, an die er kaum glauben kann, findet ihr nichts Überraschendes, ihr, die ihr mit evangelischer Wissenschaft gesättigt seid, aber das Evangelium nicht in euer Herz aufgenommen habt; ihr könnt in derselben, statt einer wunderbaren Gnade, nur eine ganz einfache Tatsache sehen, die Gott Seinen Geschöpfen und sich selber schuldig war. - Bedarf es denn zum Vergeben so vieler Umstände? Ist das nicht der edelste Gebrauch, den ein Herrscher von seiner Gewalt machen kann? Und wie sollten die Vollkommenheiten, die wir Gott zuschreiben, uns weniger von Seiner Seite erwarten lassen? Wir sind Sünder, das ist wahr, aber für jede Sünde Vergebung. - Das ist einer jener gewöhnlichen Grundsätze, in denen man Wahrheit und Irrtum auf eine verwerfliche Weise mit einander vermengt und das Evangelium benutzt, um das Evangelium zu vernichten. Für jede Sünde Vergebung: ein wahrer Grundsatz, ein heiliger Grundsatz, ein göttlicher Grundsatz, wenn ihr mit Überraschung, mit Entzücken und wie von einer beinahe unglaublichen Sache sprächet: Es ist also wahr, dass es eine Vergebung für alle unsre Sünden gibt! Aber ein falscher Grundsatz, ein sündlicher Grundsatz, ein verderblicher Grundsatz, wenn ihr ohne Freude, ohne Rührung, und wie von einer aus Gottes Vollkommenheiten und dem menschlichen Elende ganz natürlich sich ergebenden Sache sprecht: Für jede Sünde Erbarmen! Ach, es kommt dies daher, dass ihr Gott nach euch selbst beurteilt und euch so den schweren Vorwurf zuzieht, den Er an die schlechtesten unter den Menschen richtet „Du meinst, ich werde gleich sein wie du.“ (Ps. 50,21.) Für euch, die ihr in Schuld geboren und in Sünden empfangen seid, ist es etwas ganz Einfaches, dass ihr ohne Entrüstung und ohne Befremden an Andern duldet, was euch selbst zur zweiten Natur geworden ist. Aber ist es ebenso bei jenem Gott, „Dessen Augen zu rein sind, als dass Er das Böse sehen könnte,“ der den Schuldigen nicht für straffrei hält und der Tod und Fluch allen denen verkündigt hat, die Seine Gebote übertreten? Es darf, es kann nicht sein, dass Sein Wort leer erfunden, Sein Gesetz mit Füßen getreten, Seine Gerechtigkeit entwaffnet werde; Gott wäre nicht mehr Gott, wenn Er in eurem Sinn vergeben wollte. Wisset, dass es auf dem Wege dieser Vergebung ein Hindernis gibt, ein unermessliches Hindernis;, ein Hindernis, unübersteiglich für jeden Andern, nur nicht für Den, dem Nichts unmöglich ist.
Die Gedanken, die wir dem Kajarnak unterlegen, gehen nicht allein über die Wahrheit nicht hinaus, sie bleiben noch weit hinter ihr zurück, Kajarnak hat noch zu wenig Einsichten in die göttlichen Vollkommenheiten, als dass er die Schwierigkeiten der Vergebung recht würdigen könnte; je mehr er an Einsicht wächst, desto größer werden sie in seinen Augen werden. Aber gebt es Vorgerückteren auf, sie zu heben. Gebt sie jenem lange schon mühseligen und beladenen Sünder auf zu lösen, der sich nicht überzeugen kann, dass es für ihn Vergebung gibt, - so sehr ist er von seinem Elende und Gottes Heiligkeit ergriffen - und ihr werdet ihn in seinem stillen Kämmerlein also beten hören: Vergib mir, o mein Gott, wenn Du mir ohne Verletzung Deines heiligen Gesetzes vergeben kannst! Gebt sie jenem tiefdenkenden Theologen auf zu lösen, der sich Tag und Nacht in der Betrachtung der göttlichen Gnade übt, und ihr werdet ihn in sein Tagebuch, dem er seine geheimsten Gedanken anvertraut, die Worte niederschreiben sehen: „Ich möchte keine Seligkeit, wo das Gesetz nicht geehrt und meine Sünde gesühnt würde!“ Tut noch mehr: Gebt sie den Engeln des Himmels auf zu lösen. Stellt euch mit ihnen zwischen den Fall und die Verheißung und fragt sie um ein Mittel, durch welches Gott vergeben kann, ohne dass Er aufhört, gerecht zu sein, durch welches er dem Sünder Gnade erweist, ohne dass Er die Sünde schont. Kommt, ihr himmlischen Geister, die ihr, an erhabene Betrachtungen gewöhnt, so tief in die Gedanken der göttlichen Liebe eingedrungen seid, versucht, diese große Aufgabe zu lösen. Nehmt alle Kräfte eures unsterblichen Geistes zusammen; rufet alle Weisheit von Oben zu Hilfe; suchet, sinnet, steigt zum dritten Himmel hinauf, fahrt in den tiefsten Abgrund hinunter, und sagt uns, ob ihr ein Mittel wisst, wie vergeben werden kann, ohne dass der Gerechtigkeit Abbruch geschieht, und wie dem Sünder Gnade erwiesen wird, ohne dass die Sünde ungestraft bleibt. Doch wie wäret ihr im Stande gewesen zu entdecken, was jetzt noch, da es offenbart ist, euren Geist mit Staunen und Bewunderung erfüllt? Wie konntet ihr den Gedanken Gottes im Evangelium ahnen, ihr, die der Heilige Geist uns darstellt, wie ihr gleich den Cherubim an der Bundeslade, gesenkten Hauptes über diesen Gedanken nachsinnt und doch nie den verzehrenden Wunsch, ihm auf den Grund zu schauen (1 Petr. 1,12), befriedigen könnt?
Schweigt lieber und hört mit uns die Stimme Gottes, die vom Himmel herabruft: „Ich habe die Versöhnung gefunden.“ (Hiob 33, 24.) Er hat sie gefunden, und man möchte sagen, Er staunt selbst darüber, dass Ihm ihre Entdeckung gelungen; so sehr ist dieser Erfolg ein überraschendes Wunder, bei dem die ganze Fülle Seiner Gottheit sich beteiligen musste. Er hat sie gefunden, aber Er hat sie ganz in sich selber gefunden; „Sein eigener Arm hat Ihn geleitet, und Seine eigne Gerechtigkeit hat Ihn getragen“ (Jes. 59, 16). Dieses Werk ist ganz von Ihm, durch Ihn und zu Ihm. Er hat sie gefunden; „Ehre sei Gott in der Höhe, Frieden auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen!“ Dieser Gott, der die Versöhnung gefunden hat, dieser Gott, der uns so bestimmt das eben hat geben wollen, dass Er gleichsam über Seine Gerechtigkeit und Sein Gesetz triumphiert hat, ist dieser Gott nicht die Liebe?
Rührt schon der Zweck, den sich Gott in unsrer Erlösung vorgesetzt hat, das Herz des Kajarnak, so rührt ihn das Mittel, das Er gebraucht, um uns zu erkaufen, noch mehr. Gott hat die Versöhnung gefunden und diese ist: „Er sandte Seinen eingeborenen Sohn in die Welt.“ Gott hat einen Sohn - welch überraschende Botschaft! Von Geburt an gewöhnt, von diesem Sohne Gottes reden zu hören, fühlen wir nicht Alles, was in dem bloßen Begriff der Vaterschaft, der Zeugung, wenn wir sie mit dem Namen Gottes des Schöpfers in Verbindung bringen, Wunderbares liegt. Kajarnak erhält davon einen weit lebendigeren Eindruck als wir; aber der fromme Missionar richtet seine Aufmerksamkeit nicht zu lange auf dieses Wunder, und da es ihm vor allem darum zu tun ist, zu seinem Herzen zu reden, so berührt er dies Geheimnis nur so weit als es nötig ist, um ihm etwas von der unbegreiflichen Liebe, die diesen Vater mit diesem Sohne verbinden muss, begreiflich zu machen. Schon der bloße Name Sohn lässt es erkennen: Denn welch zärtlicheren Namen hätte der Heilige Geist wählen können, wenn Er uns durch eine irdische Verbindung ein Bild jener ewigen Liebe geben wollte? Dies ist jedoch noch nicht genug für Ihn: mit dem Namen Sohn verbindet Er andre, die ihn noch erhöhen. Es ist der eingeborene Sohn Gottes, Sein eigener Sohn, Sein geliebter Sohn. Sein eingeborener Sohn, der mit Ihm eine Verbindung unterhält, an der kein andres Wesen Teil hat; Sein eigner Sohn, der Ihm in Wahrheit angehört und, ohne bildlich zu reden, wirklich aus Ihm geboren ist; Sein geliebter Sohn, „an dem Er alle Seine Lust hat.“ O, wie viel Kraft und zugleich wie viel Einfalt liegt in dem Worte: „Der Vater hat Seinen Sohn lieb!“ Er liebt Ihn und teilt Ihm Seine ganze Macht mit: „Der Vater liebt den Sohn, und hat Ihm Alles in Seine Hände gegeben“ (Joh. 3,35). Er liebt Ihn und vertraut Ihm alle Seine Geheimnisse. „Der Vater hat den Sohn lieb und zeigt Ihm Alles, was Er tut“ (Joh. 5,20). Er liebt Ihn von Ewigkeit her: „Vater, Du hast mich geliebt, ehe denn die Welt gegründet ward“ (Joh. 17,24). Er hat Ihn lieb, und diese Liebe des Vaters zu Seinem Sohne ist das ewige Vorbild aller wahren Liebe; jede andre Liebe ist nur ein Abglanz dieser Liebe, und das Herrlichste, was der Sohn für Seine teuersten Jünger erbitten kann, ist, „dass der Vater sie liebe, wie Er Ihn geliebt hat.“ O, wer kann es aussprechen, was dieser Sohn diesem Vater ist! Wer kann uns die innigsten Herzensergießungen, die unaussprechliche Liebe, das ewige Wohnen des Sohnes im Schoße des Vaters beschreiben! Wer kann vor unsern Augen die ganze Bedeutung jenes Wortes entfalten. „Damals war ich der Werkmeister bei Ihm und hatte meine Lust täglich!“ (Sprüche 8,30).
Wie wird es aber Kajarnak ergreifen, wenn er hört, dass dieser Sohn Gottes, dieser eingeborene Sohn, dieser geliebte Sohn, der ist, den der Vater in die Welt sendet, den Er von Seinem Tron, von Seiner Herrlichkeit, aus Seinem Schoße entlässt, damit wir durch Ihn leben! Wenn der Sohn Gottes in Seinen Augen so groß, so köstlich, so teuer ist, was müssen wir Ihm dann sein, wir, für die Er diesen so großen, so köstlichen, so teuren Sohn dahingegeben hat? Wenn ein Heerführer um vieles Geld seine vom Feinde zurückgehaltenen Gefangenen erkauft, beweist er damit nicht, das ihm die Freiheit seiner Gefährten eben so teuer, noch teurer ist als das Gold, mit dem er sie erkauft? Wenn Abraham seinen Sohn Isaak als Brandopfer dahingibt, beweist er damit nicht, dass ihn der heilige Wille Gottes eben so teuer, noch teurer ist, als das Leben dieses geliebten Sohnes? Wenn Gott „an Israels Statt Menschen und Völker für sein Leben gibt“, beweist Er damit nicht, dass Israel Ihm eben so teuer, noch teurer ist als die Menschen, als die Völker, die Er für seine Erlösung dahingibt? Und wenn der Vater, dem nur die Wahl blieb, entweder uns zu strafen und Seinen eingeborenen Sohn zu verschonen, oder Seinen eingeborenen Sohn dahinzugeben, um uns zu schonen, diesen Seinen Sohn dem Tode überantwortet, und uns rettet - wie könnten wir dann diese Liebe, mit der Er uns liebt, anders als im höchsten Grade irrtümlich und sonderbar finden, wenn wir nicht die Wahrheit, die Gewissheit, die Offenbarung Gottes selbst für uns hätten? Wie dem auch sein mag. Er gibt und sendet Ihn in die Welt, in diese Welt, welche durch die Sünde verloren ging, aber deshalb auch Sein bedurfte, um gerettet zu werden.
Er tut noch mehr: Er sendet Ihn in der Gestalt des sündigen Menschen, „und in einem Fleische, das unserm sündigen Fleische ähnlich ist.“ „Denn Er musste,“ sagt uns Paulus, „aller Dinge seinen Brüdern gleich werden; und weil die, die Er selig zu machen gekommen ist. Fleisch und Blut an sich haben, so ist auch Er desselben teilhaftig geworden, damit Er durch den Tod dem die Macht nähme, der des Todes Gewalt hat, nämlich dem Teufel.“ Habt ihr je darüber nachgedacht, liebe Brüder, welche Ehre unserer Natur, dieser armen gefallenen Natur, widerfahren ist, dass der Vater seinen Sohn sie hat annehmen lassen, „den Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild Seiner Person,“ diesen Sohn, der, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, sich selbst erniedrigte und Knechtsgestalt annahm und an Gebärden als ein Mensch erfunden wurde?“ Aber auch welche Erniedrigung für den Sohn, welches Wunder der Herablassung und Liebe von Seiten des Vaters, der ihn gegeben hat! Was lag darin für den König der Könige und den Herrn der Herren, von einem Weibe geboren zu werden und aus dem Schoße Seines Geschöpfes auf die fluchbeladene Erde zu fallen! Was lag darin für den Sohn des Allerhöchsten, den Schoß des Vaters gegen einen Wohnort zu vertauschen, dessen Fürst Satan heißt; für den starken und mächtigen Gott, Arbeit, Ermüdung und Schmerz zu leiden; für Den, den alle Engel Gottes anbeten, einen Leib aus Staub und Erde mit sich zu tragen; für den Herrn der Herrlichkeit, sich den Gebrechen und Demütigungen des Fleisches unterworfen zu sehen; für den Erben aller Dinge, einen vergänglichen Leib mit einer vergänglichen Nahrung erhalten zu müssen; für den Allerheiligsten, vom Teufel versucht zu werden; für den Fürsten des Lebens, der Erniedrigung des Todes und des Grabes anheim zu fallen? Sehet deshalb auch, welchen wunderbaren Gedanken dies Geheimnis dem Apostel Paulus einflößt. Was der Herr hier für uns getan, das hat Er für uns allein getan; Er hat selbst für die Engel nichts ähnliches getan. „Denn“, sagt der Apostel, „nicht der Engel nimmt Er sich an, sondern des Samens Abrahams nimmt Er sich an.“ (Hebr. 2,16). O was ist das für eine Liebe, die, um uns von unserm Elende zu erlösen, den Gedanken gefasst hat. unser Elend dem Sohne Gottes selber aufzubürden! Der Gott, der Seinen Sohn in die Welt gesandt hat. auf dass wir durch Ihn leben sollten, ist dieser Gott nicht die Liebe?
Doch mit welcher Botschaft hat der Vater den Sohn betraut, und welches Werk hat Er Ihm zu vollführen gegeben, als Er Ihn in die Welt sandte? „Er hat Ihn“ antwortet der Apostel, „zur Versöhnung unserer Sünden gesandt;“ und das Werk, womit Er Ihn beauftragt, ist die Sühnung unserer Missetat durch Sein Blut. Sühnung; welch ein nichtssagendes Wort unter uns, eine verbrauchte Lehre, die jedes Kind auswendig weiß; doch welch ein Wort, welch eine Lehre für den Schüler des Missionar Beck! Du hast so eben vernommen, Kajarnak, dass Gott Seinen Sohn in die Welt gesandt hat. um dich selig zu machen; höre jetzt, wie Er dich selig macht. Dieser Heilige und Gerechte muss an deiner Statt die Schläge leiden, die du verdient hast, die aber der Vater von dir abwenden will. „Wir gingen alle in die Irre wie Schafe“, fern von Gott und Seinem Gesetz; „aber der Ewige warf unser Aller Ungerechtigkeit auf Ihn,“ die meinige, die deinige - verstehe es wohl! sodann „hat Er Ihn um unserer Missetaten willen verwundet, und um unserer Sünden willen zerschlagen.“ Er hat Ihm die Strafe auferlegt, „auf dass wir Frieden hätten, und durch Seine Wunden sind wir geheilt.“ Höre weiter; „Er hat Den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir würden in Ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt.“ Was sagst du dazu? Hättest du dies vorhergesehen, hättest du es dir vorstellen, hättest du es träumen können, dass ein beleidigter Gott zur Tilgung deiner Sünden das Blut Seines eigenen Sohnes vergießen würde? Ich könnte dir in fernen und besonders gesegneten Ländern, aus denen man dir diese staunenswerte Botschaft zuträgt, Menschen zeigen, ganze Versammlungen, die das ganz einfach finden; aber - sollten diese dich auch der Übertreibung und der Schwärmerei zeihen, - was sagst du dazu, was kannst du dazu sagen?
Doch komm, folge mir zum Kreuz des Sohnes Gottes: das ist ein Schauspiel, welches man näher betrachten muss. „Die Stunde ist gekommen und die Macht der Finsternis;“ die Stunde, deren Herannahen schon Ihm so grausame Angst bereitet, dass aus Seinem Leibe ein Blutschweiß dringt, der in Tropfen zur Erde fällt, die Stunde, die der Vater Ihm nicht erlassen konnte, wenn Er uns verschonen wollte. Indem Abraham sein Opfer vollziehen will, hört er die Stimme eines Engels, die ihm zuruft: „Abraham, Abraham, lege deine Hand nicht an den Knaben.“ Aber dieser zweite Abraham hat Niemand über sich, der bereit ist, die Hand, die da treffen will, zurückzuhalten; was Er von Seinem Diener nicht verlangt hat, das legt Er sich selber auf, und Er hält nicht eher inne, als bis das Opfer vollendet ist. Lasst die Hölle toben, lasst die Erde wüten, lasst den Zorn des Himmels mit Allem, was er schreckliches hat, an diesem unschuldigen Haupte sich erschöpfen, auf dass Alles vollendet werde, was Seine Hand und Sein Rat zuvor bestimmte, dass es werden sollte.“
„Satan, die alte Schlange,“ ungeduldig, die erste Prophezeiung zu erfüllen, erhebt zischend ihr entsetzliches Haupt und „sticht den Weibessamen in die Ferse.“ Erst vor kurzem von dem besiegt, den er versuchte, hatte er sich eine Zeit lang zurückgezogen. Aber nun erlaubt ihm der Vater zurückzukehren, das ganze Heer seiner bösen Geister gegen den Sohn in den Kampf zu führen, in Judas zu fahren, um Ihn zu verraten, in Kaiphas, um Ihn zu verurteilen, in Pilatus, um Ihn zu überliefern; und hat er den Allerheiligsten nicht in der Wüste zu Falle bringen können, so wird er doch auf Golgatha den Fürsten des Lebens erwürgen können; er wird es können, um Ihm Gelegenheit zu geben, „durch Seinen Tod alle die zu befreien, welche die Furcht des Todes geknechtet hatte.“
Es zeigt sich jedoch noch etwas Entsetzlicheres. Dass dieser furchtbare Engel, der ewige Feind Gottes und der Menschen, seine ganze Wut gegen den Sohn Gottes und den Heiland der Menschen loslässt, ist abscheulich, lässt sich jedoch begreifen; aber wie behandeln Ihn die Menschen, die Er retten wollte, diese Menschen, deren Natur Er angenommen hatte? Denn der Vater hat Ihn in ihre Hände gegeben, und „sie tun mit Ihm, was sie wollen.“ Sie behandeln Ihn nicht als Sohn Gottes, nicht als König, nicht als Propheten, nicht als Gerechten, sie behandeln Ihn nicht einmal als Menschen. Sie, die Erdenwürmer, nötigen Ihn, den Sohn Gottes, unter der Last ihres Hasses und ihrer Verachtung auszurufen: „Ich bin der Hohn und die Verachtung des Volks, ich bin ein Wurm und kein Mensch.“ Einer verkauft Ihn dem Andern; sie halten Ihn dreißig Silberlinge wert, in dem Augenblicke, wo Er sie Seines göttlichen Blutes wert erachtete; mit Schwertern und Stangen bewaffnet, überfallen sie Ihn bei Nacht; sie binden Ihn; sie schleppen Ihn von Pilatus nach Herodes und von Herodes nach Pilatus. Sie verspotten Ihn als König, schmücken Ihn mit Purpur und krönen Ihn mit Dornen; sie verspotten Ihn als Propheten, geben Ihm Backenstreiche und sagen Ihm: „Weissage, wer dich schlug;“ sie höhnen Ihn als Sohn Gottes und rufen Ihm zu: „Wenn du Gottes Sohn bist, so hilf dir selber!“ Sie geißeln Ihn, sie speien Ihm ins Angesicht, sie verurteilen Ihn zum Tode, sie ziehen Ihm den Barrabas vor, sie kreuzigen Ihn mit einem Übeltäter zu Seiner Rechten und einem andern zu Seiner Linken; und während selbst die größten Verbrecher wenigstens in diesem einen Augenblick selbst ihren grausamsten Feinden mehr Mitleid als Zorn einflößen, ist Ihm allein vom Vater das entsetzliche Vorrecht vorbehalten, an Seinem Kreuze, in Seinem Todeskampfe, durch die Worte seines Schmerzes und durch Seine Gebete das Lachen, den Spott und den Hohn Seiner Verfolger zu erregen!
Das ist noch nicht Alles, es ist noch wenig im Vergleich mit dem, was uns noch zu sagen übrig bleibt - wem? euch? nein; dem Kajarnak, einem Heiden, der glücklicherweise von diesen Geschichten nichts weiß, oder sie wenigstens nicht so kennt wie ihr, die ihr die Leiden eures Heilandes kennt, wie man die Fabeln des Homer oder die Geschichten der verflossenen Jahrhunderte gelernt hat. Als der Sohn allein war, allein bei der Versuchung in der Wüste, allein mit Seinem Zittern und Zagen in Gethsemane, allein an Seinem Kreuze, da konnte Er sagen: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir;“ aber wie, wenn der Vater selbst Ihn verlässt? Gegen die Wut des Teufels, gegen den Hass der Pharisäer, gegen das Geschrei des Volkes, gegen die Feigheit des Pilatus, gegen den Spott der Priester stärkte und tröstete Ihn Gott, Sein Gott, Sein Vater wer aber tröstet, wer stärkt Ihn gegen den Zorn, gegen den Fluch, gegen die schreckliche Gerechtigkeit Gottes selbst? Dieser Tod, diese Kreuzigung, dieser gemarterte Leib, dieses vergossene Blut, diese Schmähungen sind ohne Zweifel Qualen des Kreuzes; aber die Bitterkeit des Kreuzes, die Ursache Seines Blutschweißes, der Kelch, den Er, wenn es möglich gewesen, gern nicht getrunken hätte, das Alles liegt ganz anderswo. Dass die Sünde auf Ihn lastete, mit allen ihren Folgen, mit dem Zorn und dem Fluche des Vaters, das ist die eigentliche Bitterkeit des Kreuzes. Ich habe gesehen, wie der Vater auf den Sohn alle unsere Sünden häufte; wie Er Ihn an Seinem Leibe unsere Sünden tragen ließ; wie Er Ihn für uns zur Sünde machte: wie Er Ihm unsere Missetaten aufbürdete, so dass sie Ihm über Sein Haupt gingen und Ihn unter ihrer Last darnieder beugten. Ich habe gesehen, wie Er uns vom Fluch des Gesetzes dadurch loskaufte, dass Er Ihn zum Fluch für uns machte, wie Er Ihn verschmachten ließ, wie Seine Hand schwer auf Ihm lag. Ihn mit Pfeilen durchbohrte. Seinen Leib völlig zerschlug um Seines Zornes willen und Seinen Gebeinen keinen Frieden gönnte um der Sünde willen. Ich habe Ihn gesehen, wie sich Ihm in Seinem Sohne, in Seinem einzigen geliebten Sohne ein Anblick darbot, der Seine Majestät beleidigte, wie Er Seine Schmerzenslaute abweist. Ihn mit matter Stimme und trocknem Gaumen vergeblich rufen lässt, ja wie Er Ihm endlich jenen Angstruf auspresst: „Eli, Eli, lama asabthani!“ Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“ Lässt auch das euer Auge trocken und euer Herz kalt? Dann gebe man mir andere Zuhörer. Dann versammelt um mich Grönländer, Heiden, Juden, die zum ersten Mal von den Wundern einer solchen Liebe reden hören, und ihr sollt sehen, wie sie gerührt, zerknirscht ausrufen: „Was sollen wir tun, dass wir selig werden?“ Was sage ich? Gebt mir den Erdboden, gebt mir die Felsen, gebt mir den Vorhang des Tempels, gebt mir die Sonne als Zuhörer, und ihr sollt sehen, wie die Erde zittert, die Felsen sich spalten, der Vorhang zerreißt, die Sonne ihr Angesicht verhüllt, wie das Weltall, als Zeuge ihrer Trauer und eurer Gleichgültigkeit, sich fragt, ob etwa der Sohn Gottes für sie und nicht für euch gestorben ist! Sagt es uns, ihr Grönländer, Heiden, Juden, sagt es uns, Erde, Felsen, Vorhang des Tempels, Sonne, ist der Gott, der Seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden gesandt hat, ist der nicht die Liebe?
Was aber das Herz des Kajarnak vollends zerknirscht, das ist die Ursache dieser Liebe. Denn wenn Gott uns also geliebt hat, was hat Ihn zu all dieser Liebe bewogen? Was uns anlangt, so lieben wir das Liebenswürdige; namentlich lieben wir die, welche uns lieben. Waren wir liebenswert in den Augen Gottes, oder hatten wir Ihn zuerst geliebt? Nein. „Darin stehet die Liebe, nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt hat.“ Gott, sagt Kajarnak zu sich, hat Seinen eingeborenen Sohn zur Versöhnung meiner Sünden in die Welt gesandt, und was habe ich für Ihn getan? Was habe ich getan, um mir diese Liebe zu erwerben, mit der Er mir entgegenkommt, mit der Er mich überhäuft, überschüttet? Wo sind meine Ansprüche, mein Entgegenkommen, meine Werke, meine Wünsche, meine Gedanken, die von Seiner Seite eine solche Liebe hätten hervorrufen können? Als Er sich meiner erinnerte, als Er Seine freie Gnade auch auf mich erstreckte, als Er für mich Seinen eigenen Sohn opferte, als Er mir diesen Missionar über das Meer zusandte, um mir ein Zeugnis Seiner Liebe zu geben, erst gestern, ja sogar diesen Morgen noch, was tat ich? Ich vergaß Ihn, ich beleidigte Ihn, ich trat Sein heiliges Gesetz mit Füßen. Ich lebte in der Verirrung, in der Empörung, im Götzendienst, in der Lüsternheit, im Hass, in der Lüge, im Raube, in den Lüsten. Ach, wenn von meinem Entgegenkommen die Rede sein soll, so sehe ich nichts anderes als meine Sünden, und was meine Ansprüche an Seine Liebe anlangt, so sehe ich keine andere, als diese Liebe selbst.
Ja, Kajarnak, du sprichst wahr; und je mehr du dich selbst kennen lernst, desto mehr wirst du dich als schuldig, ungerecht und ungehorsam betrachten, kurz, dich als Feind Gottes durch deine bösen Gedanken und Werke der Hölle des ewigen Fluches würdig ansehen. Könntest du daran einen Augenblick zweifeln, so müsste der Anblick dieses Kreuzes, das du vor dir hast, genügen, um dir jede Täuschung zu benehmen. Denn wenn es dir einerseits zeigt, wie Gott also den Sünder liebt, dass Er den eingeborenen Sohn zu seiner Rettung dahingibt, so zeigt es dir andererseits, wie Er die Sünde also verabscheut, dass zu ihrer Sühnung nichts Geringeres, als der Tod dieses eingeborenen Sohnes nötig war. Ein und dasselbe Blut beweist uns zu gleicher Zeit die Liebe Gottes zu uns und Gottes Abscheu vor unsern Sünden. Was müssen aber das für Sünden sein, die den Sohn Gottes dem Toben der Hölle, der Wut der Welt, ach, und dem Zorne Gottes ausgesetzt haben! Was müssen das für Sünden sein, die Gott an Seinem eigenen Sohn nicht anschauen konnte, ohne Ihn, den Sohn, mit der Last Seines Fluches zu beladen! Die schrecklichsten Beweise des Hasses Gottes gegen die Sünde, die in der Sündflut ersäufte Welt, die fünf vom Feuer des Himmels zerstörten Städte der Ebene, ganze in Kanaan ausgerottete Völker, jene Donner und Blitze, jener Rauch und jenes Beben des Sinai, alles das ist etwas Geringes im Vergleich zu dem eingeborenen, am Kreuze sterbenden Gottessohne. Komm heran, Kajarnak, und lies vollends in dem Todeskampfe deines Heilandes die Hölle, die du verdient hast. Und doch, als du so hassenswert warst, dass nur das Blut des Gottessohnes dich mit Gott versöhnen konnte, da hat dich Gott also geliebt, dass Er für dich dies kostbare Blut vergossen hat. Ist das der Menschen Weise? Du hast ein Weib, ein Kind, einen Freund lieben können; aber einen Feind lieben, ihm mit deiner Liebe nachgehen, bis du über seinen Hass triumphiert hast; für ihn in dem Augenblicke deinen köstlichsten Schatz opfern, wo seine Feindseligkeit gegen dich den höchsten Grad erreicht hatte, hast du je etwas Ähnliches getan, gesehen, nur etwas Ähnliches dir ausgedacht? Gott hat dich geliebt, nicht weil Er etwas Liebenswertes an dir wahrgenommen, sondern trotz alles Schlechten und Verwerflichen, was Er an dir bemerkte. Er hat dich um Seiner selbst willen, aus freier Neigung geliebt; Er hat dich geliebt, weil Er die Liebe ist. Kajarnak ist nicht der Einzige, den dieser Gedanke rührt. Alle heiligen Schriftsteller haben hierüber nur eine Stimme; und in den rührenden Schilderungen, die sie von der Liebe Gottes entwerfen, ist die freiwillig dargebotene Gnade dieser Liebe der am stärksten hervortretende Punkt und derjenige Zug, der ihr eignes Herz durchdrungen hat. „Da wir Kinder des Zornes waren wie alle anderen, hat Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit, durch Seine große Liebe, mit der Er uns geliebt hat, da wir tot waren in unsern Sünden, uns samt Christo lebendig gemacht; aus Gnaden seid ihr selig worden.“ (Ephes. 2,1-5). Und an einer andern Stelle: „Ist doch Christus, da wir noch schwach waren, zu seiner Zeit für Gottlose gestorben. Nun stirbt kaum Jemand für einen Gerechten. Darum preiset Gott Seine Liebe gegen uns, dass Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren.“ (Röm. 5,6-8). Und noch weiter: „Denn wir waren weiland Unweise, Ungehorsame. Irrige, den Begierden und mancherlei Wollüsten Dienende, in Bosheit und Neid wandelnd, feindselig und einander hassend. Da aber erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unsers Heilandes: nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach Seiner Barmherzigkeit machte Er uns selig“ (Tit. 3, 3-5). Doch Alles bleibt hinter dem Ausdrucke unsers Apostels zurück: „Darin steht die Liebe, nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass Er uns geliebt hat.“ Fühlt ihr die Macht des Gedankens: „Darin stehet die Liebe.“ Alles, was wir bis jetzt gesehen haben; eine für unsere Sünden gefundene Versöhnung, der in die Welt gesandte Sohn Gottes, der für unsere Sünden dahin gegebene Sohn Gottes, alles das ist eine Offenbarung der Liebe Gottes, eine so herrliche Offenbarung, dass neben ihr alle anderen Zeichen der göttlichen Liebe, die ein Mensch oder selbst ein Engel aus dem ganzen Weltall zusammen holen könnte, erbleichen. Doch hier ist mehr als eine Offenbarung der Liebe, hier ist ihr Wesen selbst und ihr Grund: „Gott hat uns zuerst geliebt;“ und wenn die Größe dieser Liebe uns nötigt, bewunderungsvoll auszurufen: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass Er Seinen eingeborenen Sohn gab,“ so reißt die freie Gnade eben dieser Liebe unsere gedemütigten und zerschlagenen Herzen zu dem rührenden, zu dem tiefen Worte hin: „Gott ist die Liebe!“ Ja, Gott ist die Liebe: dies allein kann erklären, dass Er so geliebt hat und zwar wen? Engel? Heilige? nein, uns. Seine Feinde, uns ganz besonders, mich, der zu euch redet, und euch, die ihr mir zuhört. Gott ist die Liebe: die Liebe ist Sein Wesen, Seine Grundeigenschaft, Sein Leben. Gott ist die Liebe: die Liebe fasst alle Seine Werke zusammen und erklärt alle Seine Wege. Die Liebe hat Ihn zur Erschaffung eines heiligen und zur Erlösung eines gefallenen Geschlechts bewegen. Die Liebe hat das Nichts besiegt, um uns ins Dasein zu rufen, und über die Sünde triumphiert, um uns das ewige Leben zu geben. Die Liebe bildet den Gegenstand der Bewunderung der Engel und wird der Gegenstand unserer Bewunderung durch alle Ewigkeiten hin sein. Die Gedanken Gottes sind Liebe, Sein Wille ist Liebe, Seine Vorsehung ist Liebe, Seine Gnadenerweisungen sind Liebe, Seine Heiligkeit ist Liebe, Seine Gerichte sind Liebe, Alles in Ihm ist Liebe: „Gott ist die Liebe.“
Doch mehr als alle unsere Reden sagt dem Kajarnak sein Herz. So wie der Heide, wenn wir ihn anders noch so nennen dürfen, diese frohe Botschaft hört, so ruft er, sein Auge unverwandt auf den Missionar gerichtet, mit bewegtem Herzen und erschüttertem Gewissen aus: „Was sagst du da? Wiederhole uns das, ich will auch selig werden.“ Und warum sollte er eher selig werden als ihr? Und warum sollte dasselbe Wort, welches aus diesem Heiden an den Gestaden Grönlands einen Christen gemacht hat, nicht auch heute in dieser Versammlung aus mehr als einem Namenchristen einen Christen des Geistes und der Kraft machen? Um euch aus eurer gewöhnlichen Erstarrung herauszureißen, habe ich euch eingeladen, euch an die Stelle jenes Grönländers zu versetzen, der das Evangelium zum ersten Mal in seinem Leben hört; glaubt aber ja nicht, diese Bedingung müsse durchaus stattfinden, um vom Evangelium gerührt zu werden, das Evangelium habe dadurch seine Kraft verloren, dass es euch so oft verkündigt ist, und diese Kälte, die wir eben an euch beklagten, sei eine durch eure Stellung bedingte Notwendigkeit. Nichts weiter als die Sünde, die Gleichgültigkeit, die Undankbarkeit, der Unglaube sind schuld an diesem traurigen Ergebnis. Eure Stellung ist ein Vorrecht, wenn ihr sie nur zu würdigen wisst, und das könnt ihr, sobald ihr nur wollt. Man hat euch oft das Evangelium verkündigt, so habt ihr also, was Kajarnak so inbrünstig wünschte: „Wiederhole uns das, wiederhole uns das.“ Man hat für euch getan, was Paulus mit so großer Sorgfalt für seine lieben Philipper tat: „Dass ich euch immer einerlei schreibe, verdrießt mich nicht, und macht euch desto gewisser“ (Phil. 3,1). Ersetzt den Mangel der Neuheit durch eifriges Forschen und in dem fortwährenden Verkehr mit dem Evangelium werdet ihr ein Mittel finden, euch um so inniger von der Liebe Gottes zu überzeugen. Menschenwerke verlieren, wenn man sie allzu nahe betrachtet; die Werke Gottes aber, die Zeugnisse Seiner Liebe, vor allem die unaussprechlich hohe Gabe Seines Sohnes könnt ihr nie so bewundern, dass ihr nicht noch weit hinter der Wahrheit zurückbleibt. Ihr könnt es weder in dieser noch in jener Welt; die Engel selbst können es nicht, sie strengen sich vergeblich an, ihr bis auf den Grund zu schauen.
Wie viele Seiten wären hier noch zu betrachten, die alle Predigten, alle Bücher, alle Betrachtungen so wenig erschöpfen könnten, als ihr das Meer mit eurer Hand auszuschöpfen vermöchtet! Bald ist es die Tiefe des Abgrundes, aus den, uns Gott gezogen hat: was ist das für eine Liebe, die uns von der Sünde, von der Hölle, vom ewigen Feuer, aus der Gemeinschaft des Teufels und seiner Engel erlöst hat! „Deine Güte gegen mich ist groß, denn Du hast meine Seele aus einem tiefen Grabe errettet.“ Bald ist es die Zahl, die Unermesslichkeit der Gaben, die uns in dem Sohne geschenkt sind: was ist das für eine Liebe, die uns Gnade um Gnade, ewiges Leben, Frieden, Licht, Stärke, Freude und, um Alles mit einem Worte zu sagen, Anteil an der göttlichen Natur gewährt (2 Petr. l,4). Bald ist es die Größe, die Fülle der Vergebung, welche Gott uns in Christo darbietet: was ist das für eine Liebe, welche die Sünde vernichtet, „sie in die Tiefe des Meers versenkt und sie so weit von uns entfernt, als der Morgen von dem Abend ist,“ die von uns nur Buße und Glauben verlangt, und die uns, die wir unter der Last des göttlichen Fluches erliegen, erhebt, befreit, rechtfertigt, herrlich und selig macht! Bald ist es die neue Richtung, welche die Gnade Gottes in Jesu Christo jenen schweren Sorgen des Lebens gibt, die wir vom ersten Adam erben: was ist das für eine Liebe, die sich all dieser Früchte des Todes bemächtigt, sie ihrem Plane dienstbar, sie zu Helfern unserer Glückseligkeit macht, die den Fluch in Segen verwandelt und alle Kreaturen, selbst die feindseligsten, nötigt, nur unser Bestes zu befördern! Bald ist es dieser oder jener besondere Ruf, den Gott an einen jeden unter uns ergehen lässt, um uns zur Annahme dieses großen Heils zu bewegen: was ist das für eine Liebe, die, wenn sie wahrnimmt, dass wir so langsam sind, dem zukünftigen Zorn zu entrinnen, uns eine Aufforderung nach der andern, eine Warnung nach der andern, eine Botschaft nach der andern, ja, wenn es sein muss, eine Trübsal nach der andern sendet und Schlag auf Schlag an die Tür unsers Herzens klopft! Bald ist es die feste Zuversicht der Gnade, welche der Heilige Geist einer Seele zu Teil werden lässt, sogar der Seele eines Zachäus, einer Maria Magdalena, eines gekreuzigten Schächers: was ist das für eine Liebe, die eine solche Seele fähig macht, das ewige Leben zu ergreifen, in voraus vom Tode zu erwachen, vom Paradiese Besitz zu nehmen, mit Jesus Christus in den himmlischen Wohnungen sich niederzulassen und das Loblied anzustimmen: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu, unsern Herrn!“ (Röm. 8.37-38). Aber vor allen Dingen, was ist das für eine Liebe, die den eingeborenen, geliebten Sohn, für uns dahingegeben und geopfert hat! Hierauf muss man immer wieder zurückkommen; hierin drängt sich Alles zusammen, was Gnade heißt im Himmel und auf Erden; „denn wie sollte Der, welcher Seines eignen Sohnes nicht verschont, sondern Ihn für uns Alle dahingegeben hat, mit Ihm uns nicht Alles schenken!“ Da schauen wir unverhüllt in dem Angesichte Christi des Gekreuzigten die in dem Schoß des Vaters verborgene Liebe. Da öffnet sich das Herz Gottes vor uns, und wir lesen darin wie in einem Buche unaussprechliche Dinge, die keine menschliche Sprache würdig erklären kann. Da empfangen wir ein neues Maß, um diese Liebe zu messen, für die jeder irdische Maßstab unzulänglich ist, und in der Liebe eingewurzelt und gegründet, können wir mit allen Heiligen begreifen, welches da sei ihre Breite und ihre Länge und ihre Tiefe und Höhe, und erkennen nun die jegliche Erkenntnis übersteigende Liebe Christi. Und doch, vergebliches Bemühen! Nein, wir können sie nicht unverschleiert betrachten Unser armes Herz würde dazu nicht ausreichen! Kein sterblicher Mensch vermöchte es, eine solche Liebe zu schauen und zu leben. Unser ganzes Sein und Wesen würde durch sie erschüttert, vernichtet werden! Hier auf Erden schauen wir nur den Schatten dieser Liebe. Und wenn wir mit Moses Gott bitten. Er möge sich uns in aller Seiner Herrlichkeit zeigen, so wird Er zwar alle Seine Güte vor unsern Augen vorübergehen lassen, aber wir können ihr nicht ins Angesicht schauen. Und während diese Erscheinung sich vor uns entfaltet, „wird uns Gott in der Felskluft stehen lassen und Seine Hand über uns halten.“ Nur eine Stimme wird an unser Ohr schlagen, aber nicht die, welche Moses hörte, sondern eine lieblichere und zärtlichere, die Stimme des Heiligen Geistes in unserm Texte: „Gott ist die Liebe! Gott ist die Liebe!“
Und was wollt ihr nun mit dieser Liebe machen? Wollt ihr ihrem Ruf Gehör geben, wie Kajarnak, und sagen: „Auch ich will selig werden? Ich frage euch nicht, ob ihr an die Wahrheit der Lehre glaubt, die der Herr euch so eben vernehmen ließ, ihr könnt nicht daran zweifeln. Tiefe Lehre gibt sich selbst ein zu offenkundiges Zeugnis. Wäre sie nicht wahr, so wäre sie nicht in der Welt: „Das sind Dinge, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört hat und die in keines Menschen Sinn gekommen sind/ und es ließe sich weit weniger erklären, wie der Mensch einen solchen Plan hätte fassen können, als dass Gott ihn ausgeführt hat.
Indem ich also rede, weiß ich recht wohl, dass gerade die Größe der Liebe, die Gott uns nach dem Evangelium bewiesen hat, viele Menschen nicht an sie glauben lässt. Dass Gott Seinen eingeborenen Sohn dahingibt, dass dieser Sohn unsere Natur annimmt und für unsere Sünden stirbt, das ist zu viel Liebe, das ist eine Herablassung, die zu grenzenlos ist, als dass sie vollen Glauben im Herzen finden sollte, die, wie die unsrigen, von der Selbstsucht geknechtet sind. Wie sollten wir glauben, dass Gott uns zuerst geliebt hat, wenn wir nur die lieben, die uns lieben? Wie sollten wir glauben, dass Gott unsere Sünden getilgt hat, wenn wir so tief das Andenken an empfangene Beleidigungen bewahren? Wie sollten wir glauben, dass Gott für uns Seinen einzigen und geliebten Sohn dahingegeben hat, wenn es uns so schwer fällt, für Andere, ich sage nicht einen einzigen und geliebten Sohn, sondern nur etwas von unserer Zeit, unserer Arbeit, unserm Notwendigen, unserm Überfluss, unserm Wohlsein herzugeben? Denkt hierüber nach und ihr werdet erkennen, dass gerade das, was unsern Unglauben veranlasst, ihn beschämen sollte.
Denn wie hätte der menschliche Geist ein Wunder der Liebe ersinnen können, dass nach allen Seiten hin über seine Fassungskraft hinausgeht? Wie wäre er im Stande gewesen, zu erfinden, was er nicht einmal glauben kann? Woher hat er sie genommen, diese überwältigende Vorstellung von einem um unserer Sünde willen ans Kreuz geschlagenen Sohne Gottes? Aus welchem unbekannten Gebiet, aus welchen Tiefen seines Nachdenkens oder seiner Philosophen, aus welchem Traume seiner Dichter? Ach, wenn ich dies System des Evangeliums in der Wüste fände, fern von den Propheten, die es verkündigt, fern von den Wundern, die es bezeugt haben, ich würde es sofort für das Werk eines Gottes anerkennen, dessen Wege nicht unsere Wege, und dessen Gedanken nicht unsere Gedanken sind. Wenn Gott liebt, so liebt Er, wie Er alles Andere tut, d. h. als Gott. Will Er Seine Macht beweisen, so zerteilt Er die Wogen des Meeres; will Er Seine Gerechtigkeit offenbaren, so lässt Er eine Sündflut über die Erde sich ergießen; will Er Seine Herrlichkeit entfalten, so gebeut Er und eine Welt geht aus dem Nichts hervor; will Er dartun, dass Er der unumschränkte Herrscher ist so spricht Er abermals, und die Sonne verliert ihren Schein, und der Himmel „rollt sich zusammen wie ein Buch“; will Er aber Seine Liebe offenbaren, die über alle Seine Werke geht so schickt er Seinen Sohn in die Welt und gibt Ihn für unsere Sünden dahin. Macht darum ein Ende mit allen euren Zweifeln, allen euren Spitzfindigkeiten, allen euren Bedenklichkeiten Macht es wie Kajarnak! hört auf euer Herz und ihr werdet glauben. Oder fühlt ihr dies Herz nicht? Wird es ihm zu eng, fehlt es ihm an Licht und Luft und Leben, so gönnt ihm doch das Freie und Weite; vertauscht den kalten, toten Gott, dem ihr bis jetzt gedient habt, mit jenem Gott, der die Liebe ist, und der Seinen Sohn zu eurer Rettung dahingab. Welches andere Heil könntet ihr auch finden, suchen, an welches andere nur denken Angesichts dieser Erscheinung der Liebe? Wo sind die Ansprüche, die Verdienste, die Werke, welche dieser Strom der Liebe nicht mit euren Sünden fortschwemmt? Wollt ihr eure Tugenden wägen, eure Dienste aufzählen, eure elenden Almosen in Anschlag bringen beim Anblick des für euch vom Sohne Gottes vergossenen Blutes? Entschlagt euch bei diesem Anblick wie der Furcht wegen eurer Sünden, so der Hoffnung auf eure Werke. Werst das besteckte Kleid eurer eignen Gerechtigkeit eilends weg wie Bartimäus seinen Mantel. Taucht euch in jenen zu Jerusalem wider die Sünde und Unreinigkeit geöffneten Born. „Wem, eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie gleich rot ist, wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden.“ Kommt zu Dem, der zuerst „gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren war“ und der eine so freundliche Einladung an euch erlässt: „Ihr Alle, die euch dürstet, kommt her zum Wasser; und ihr, die ihr kein Geld habt, kommt her und kaufet ohne Geld und umsonst, beides Wein und Milch.“ Kommt „und man wird euch ein gut, gedrückt, gerüttelt und überfließend Maß in euren Schoß geben.“ Kommt, wie ihr seid; solltet ihr auch das Evangelium zum ersten Mal vernehmen, das genügt; Kajarnak hatte es nicht öfter vernommen. Ihr sollt nur sprechen wie er: Auch ich will selig werden; ihr sollt nur an die Liebe Gottes glauben, in Seinen Heilsplan eingehen und das Blut des Kreuzes nutzen. Heute noch, hier noch, an dieser Stätte noch glaubt, erschließt euer Inneres, überlasst euch Ihm, ergebt euch!
Und wenn ihr euch nicht ergebt, was denkt ihr dann? Gründet ihr etwa - lasst mich eine Frage an euch richten, die sich mir aufdrängt und die zurückzuhalten mir die Aufrichtigkeit verbietet - gründet ihr etwa auf diese Liebe eine geheime Berechnung, werdet ihr in eurem Unglauben durch den Gedanken ermutigt, dass ein so liebevoller Gott euch nicht für ewig unglücklich machen könnte? Wenn dem so ist, so brauchen wir euch nicht erst lange vorzustellen, wie unwürdig diese Berechnung ist. Wie, wenn Gott nach Seiner unverdienten, unermesslichen, unaussprechlichen Liebe an das Edelste und Beste in unsrer gefallenen Natur sich wendet, so vereitelt ihr, so viel an euch ist, den Zweck einer so liebevollen Einladung, und denkt nur daran, das überströmende Erbarmen Gottes gegen Ihn selber geltend zu machen! Doch dabei wollen wir nicht stehen bleiben, weil, wenn unsere Annahme begründet wäre, diese Sprache wahrscheinlich für euch unverständlich sein würde. Wir wollen euch nur Eins sagen, das aber ernstlich genug ist: diese Liebe, die euch so zuversichtlich macht, sollte euch Furcht und Schrecken einjagen. Hütet euch, Gott mit jenen schwachen Personen zu vergleichen, deren unbesonnene Güte das Laster oder die Undankbarkeit, welche die Güte missbraucht, begünstigt: eine Güte, die schon eines gerechten Mannes, noch mehr eines rechtschaffenen Beamten, wie viel mehr des Richters der ganzen Welt unwürdig ist!
Die Liebe Gottes ist eine heilige Liebe, mit der sich der Abscheu vor der Sünde verbindet, und nirgends, ich sage es noch einmal, weder in der Sündflut, noch in Sodom und Gomorrha, noch in Ägypten, noch in Kanaan, noch am Sinai ist dieser Abscheu so laut ausgesprochen worden als am Kreuze. Verharrt ihr in euren Sünden und in eurem Unglauben, so findet die Liebe Gottes keinen Eingang in euch und Gott kann euch keine Gnade erzeigen. Er kann es nicht, ohne Seine Heiligkeit zu verletzen und Sich selbst bloß zu stellen; Er kann es nicht, wie Jesus bei den Nazarenern um ihres Unglaubens willen keine Wunder zu tun vermochte; Er kann es nicht, weil ihr dann Seinen Ratschluss mit euch vereitelt habt. Es steht geschrieben; „Glauben wir nicht, so bleibt Er treu. Er kann sich selbst nicht verleugnen“ (2 Tim. 2,13).
Damit ist jedoch noch nicht Alles gesagt. Die Liebe Gottes wird bei dem Ungläubigen Eingang finden, aber nur, um sich gegen Ihn zu kehren und seine Lage schrecklicher zu machen. Beharrt ihr auf eurem Wege, so wird eine Zeit kommen, wo ihr wünschen müsst, nie so geliebt worden zu sein, weil die Liebe Gottes, grade diese Liebe, euch ohne Trost, ohne Entschuldigung und ohne Rettung lassen wird. Ohne Trost; wäret ihr weniger geliebt worden, so könntet Ihr in eurem Verderben vielleicht hoffen, es würden die Vorwürfe eures Gewissens, es würde die Bitterkeit eures Kummers sich in etwas mildern; aber wo wollt ihr ein Mittel zu ihrer Milderung hernehmen, wenn ihr bedenkt, wie Gott euch also geliebt hat, dass Er Seinen eingeborenen, geliebten Sohn für euch in den Tod gab? Welch namenlose Angst liegt in dem Gedanken; wir gingen verloren und hatten doch einen solchen Heiland; wir sind so sehr geliebt worden und doch zu diesem Ort der Qual gelangt! Ohne Entschuldigung; wäret ihr weniger geliebt worden, so könntet ihr noch irgend eine Rechtfertigung vor dem Richterstuhl des höchsten Richters versuchen; aber was wollt ihr Ihm antworten, wie wollt ihr nur den Mund auftun, wenn Er euch daran erinnert, wie sehr Er euch geliebt und wie hoch Er euer Lösegeld bezahlt hat? Erwägt die Worte; Wenn Jemand das Gesetz Mosis gebrochen hatte, so musste er ohne Barmherzigkeit auf die Aussagen von zwei oder drei Zeugen sterben. Wie viel ärgerer Strafen, meint ihr, wird der wert geachtet werden, welcher den Sohn Gottes mit Füßen trat und das Blut des Testaments, durch welches er geheiligt war, unrein achtete und den Geist der Gnade schmähte? Schrecklich ist s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. Schrecklich, und warum? Ihr habt es gehört; Grade der Gnade wegen, die wir empfangen haben, der Liebe wegen, die Gott uns erwiesen hat. Endlich und vor Allem, ohne Rettung: wäret ihr weniger geliebt worden, so könntet ihr vielleicht von einer neuen Liebesoffenbarung träumen, die euer Verbrechen wieder gut machen und eurem Elende abhelfen könnte. Wie dürft ihr aber etwas Ähnliches hoffen, nachdem Gott Seinen eignen Sohn dahingegeben und nicht verschont hat? Wollt ihr darauf warten, dass ein andres Opfer ganz besonders für euch geschlachtet werde, ein Opfer, noch kostbarer vor Gott als Sein eingeborener, geliebter Sohn; noch glorreicher als das Abbild Seines Wesens und der Abglanz Seiner Herrlichkeit; noch rührender als das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt; noch größer als der König der Könige und der Herr aller Herren; noch reiner als der Allerheiligste; noch fähiger euch zu erlösen als der „Wunderrat, der Gottheld, der Ewigvater, der Friedefürst!“ Nein, nein: „So wir mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, ist kein anderes Opfer für die Sünden mehr übrig, sondern ein schreckliches Warten des Gerichts und ein Feuereifer, der die Widerwärtigen verzehren wird“ (Hebr. 10, 26). Gott ruft uns selbst zu Zeugen gegen uns auf, dass Er nichts weiter für uns tun kann, als Er getan hat: „Nun richtet, ich bitte euch, zwischen Mir und Meinem Weinberge. Was kann man noch mehr tun an Meinem Weinberge, das ich nicht getan habe an ihm?“ Alles ist erschöpft, durch die Liebe erschöpft, und die Rettungsmittel fehlen nur deshalb, weil Gottes Liebe sich schon ganz und ohne Rückhalt gegeben hat.
Man muss es also sagen, mit wie großem Widerstreben wir auch derartige Betrachtungen bei einem solchen Gegenstande anstellen, man muss es denen sagen, die sich auf Gottes Liebe verlassen und sie benutzen wollen, ohne daran zu glauben. In dieser Liebe, die ihr euch zueignen wollt, um ihr zu widerstehen, besteht vielleicht in der Zukunft eure größte Qual. Dieser Gedanke ist nicht neu; viele Gottesgelehrten haben ihn ausgesprochen. Vielleicht ist es wesentlich diese Liebe, die euren Krummer um so bitterer, euren Unglauben um so strafbarer, eure Lage um so verzweiflungsvoller machen wird. Vielleicht ist es diese Liebe, welche dereinst die Gerechtigkeit des zukünftigen Gerichts dartun und das unerklärliche Geheimnis einer ewigen Strafe erklären wird. Vielleicht wird unser Text in der Hölle eine auffallende, aber entsetzliche Bestätigung finden. Vielleicht wird man von der Liebe Gottes nicht minder, obgleich mit ganz andern Gefühlen, in dem Aufenthalte der Verdammten als in den Wohnungen der Seligen reden. Und es gibt hier nicht bloß einfache Vermutungen, Man hat Gottlose auf ihrem Sterbebette gesehen, wie sie, von düstern Ahnungen gepeinigt, wider Willen und durch ihre Lästerungen hindurch, der für sie hinfort verschlossenen, aber nur durch ihre eigene Schuld verschlossenen Liebe Zeugnis ablegten. Der Heilige Geist zeigt uns in der Offenbarung die Feinde des Herrn, wie sie Ihn, obwohl mit Schrecken, als das Lamm Gottes erkennen und zu den Bergen und Felsen sprechen: „Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Angesichte Des, der auf dem Tron sitzt, und vor den, Zorn des Lammes. Denn es ist gekommen der große Tag Seines Zorns, und wer kann bestehen?“ Der Zorn des Lammes! Seltsame, schreckliche Ideen-Verbindung! Der Zorn des Löwen ist in der Natur begründet- aber der Zorn des Lammes ist eine ungewohnte und deshalb um so entsetzlichere Vorstellung. Je mehr dieser Zorn seinem Charakter widerstrebt, um so mehr muss er gerecht, verdient und unausbleiblich sein, wenn er ausbricht; und wenn seine unglücklichen Opfer auch noch entdecken, dass es das Lamm ist, welches sie schlägt, so entlockt dieser Charakter der Liebe ihnen ihre Huldigungen nur, um ihre Leiden desto furchtbarer zu machen. Ach, brauchtet ihr doch nie vor dem Zorn des Lammes zu fliehen! Möchte nie eine Zeit kommen, wo euer größtes Unglück das sein würde, mit einer so großen Liebe geliebt und um einen so hohen Preis erkauft worden zu sein! Eine Zeit, wo ihr zu spät die Wahrheit unsers Textes erkennen und bekennen, aber mit Verzweiflung im Herzen bekennen würdet, dass Gott die Liebe ist.
„Wir versehen uns aber, obgleich wir also reden, besserer und eurer Seligkeit angemessener Dinge von euch.“ O gewiss, ihr wollt euer Herz nicht länger der Liebe Gottes verschließen, noch ohne Glauben vor einem Gott, der die Liebe ist, leben! Durch diesen Glauben rettet ihr eure Seele; durch ihn werdet ihr andere Menschen. Diese Liebe Gottes, die ihr vor Augen habt, wird sich euch mitteilen und euer ganzes Wesen erneuern. Wer sich geliebt fühlt, der lernt lieben, und die Selbstsucht herrscht nur, weil man die Liebe Gottes nicht kennt. „Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht,“ Ihr werdet lieben, wie ihr geliebt seid. Ihr werdet Gott lieben, weil Gott euch zuerst geliebt hat. Ihr werdet euren Nächsten lieben, weil Gott euch Beide geliebt hat. Ahnt ihr das neue Leben, das diese Veränderung euch bereitet? Ich sehe euch, wie ihr „als Gottes Nachfolger, als Seine lieben Kinder“ nur noch lebt, um rings um euch die Hebe zu verbreiten, mit der Gott euer Her; erfüllt hat. Ich sehe euch, wie ihr nach dem Vorbilde Christi, der euch geliebt hat „von Ort zu Ort geht und wohltut“, und in den Entbehrungen, Anstrengungen und Opfern der Liebe eure Freude findet. Ich sehe euch, wie ihr, von der Liebe Gottes getrieben und erfüllt, eurem Eigenwillen, dem Mammonsdienst und den eitlen Freuden der Welt entsagt, die Betrübten tröstet, die Armen unterstützt, die Kranken besucht und überall Christum und Seine Segnungen mit euch tragt. Dann wird das Bild und die Ähnlichkeit Gottes sich von neuen, in unserm Herzen gestalten. Dann bleibt ihr in Gott und Gott in euch! Wenn geliebt werden das Leben unsrer Seele ist, sollte da nicht lieben ihre Freude sein? Wenn geliebt werden die ganze Glaubenslehre des Evangeliums ist, so ist lieben seine ganze Moral. Lieben, wie wir geliebt worden sind, ist der Himmel auf Erden, bis dass es der Himmel im Himmel wird. Selig seid ihr, wenn die Liebe Gottes euch so durchdringt, dass man euren Charakter, nach welcher Richtung man ihn auch betrachten mag, nicht besser bezeichnen kann, als mit den Worten, die dem h. Johannes eingegeben wurden, um die Liebe Gottes zu beschreiben! Selig seid ihr, wenn man von euch sagen kann: Er ist die Liebe! Seine Worte sind Liebe! Seine Werke sind Liebe! Sein Eifer ist Liebe! Seine Arbeit ist Liebe! Seine Freuden sind Liebe! Seine Tränen sind Liebe! Seine Vorwürfe sind Liebe! Sein Richten ist Liebe! Selig seid ihr zumal, wenn der Gott, der Herzen und Nieren prüft, hinzufügen kann: Auch sein Herz ist Liebe! Amen.