Monod, Adolphe - Des Menschen Elend und Gottes Erbarmen - Zweite Rede

Monod, Adolphe - Des Menschen Elend und Gottes Erbarmen - Zweite Rede

Gottes Erbarmen.

Gott hat sie alle beschlossen unter den Ungehorsam, auf daß er sich aller erbarme
Röm. 11,32

Mein Text führt die Lehre der Bibel auf ihre zwei Hauptartikel zurück: des Menschen Elend und Gottes Erbarmen, In der vorigen Betrachtung habe ich den ersten Theil behandelt, ich habe des Menschen Elend dargelegt. Heute will ich den zweiten Theil ausführen und euch das Heilmittel gegen dies Elend in der Barmherzigkeit Gottes zeigen. Um diese Rede ganz zu verstehen, müßt ihr euch die erste vergegenwärtigen, mit welcher sie in genauer Verbindung steht, und darum will ich zuvor den Inhalt derselben kurz zusammenfassen.

Der Text der ersten Rede war der erste Theil des Gesammttextes: „Gott hat Alle beschlossen unter den Ungehorsam,“

Ich erklärte zuerst meinen Text und zeigte, daß der Gedanke, der in diesen Worten enthalten ist, sich also ausdrücken läßt: Gott hat erklärt, daß jeder Mensch in seinem natürlichen Zustande ein Sünder ist. Nicht, als ob jeder Mensch lasterhaft wäre; aber jeder Mensch befindet sich in einem Zustande der Verirrung, der darin besteht, daß der Mensch, der Gott über Alles lieben soll, in seinem natürlichen Zustande etwas Anderes mehr liebt als Gott,

Diese beiden Punkte habe ich zuerst durch die Schrift bewiesen. Denn einestheils führt sie das ganze Gesetz Gottes auf das Grundgebot zurück: Gott über Alles zu lieben, ein Gebot, dem sie alle andern Pflichten, selbst die Nächstenliebe, unterordnet; anderntheils lehrt sie, daß der Mensch von Natur irgend etwas mehr liebt als Gott, und dies lehrt sie nicht blos in vereinzelten Behauptungen, sondern in ihrer Gesammtheit und an den Stellen, wo sie ihre Grundsätze am vollständigsten auseinandersetzt, besonders in den drei ersten Kapiteln des Römerbriefs. Sodann habe ich sie durch die Vernunft bewiesen. Denn einestheils zeigt sie dem Menschen, daß Gott sowohl an und für sich als auch nach Seinen Beziehungen zu uns, besonders in Seinem Verhältnis als Schöpfer uns, den Geschöpfen gegenüber, über Alles liebenswerth ist, und daß der Mensch nicht aufhören kann, Gott über Alles zu lieben, ohne seine ganze Natur zu verkehren. Anderntheils braucht man sich nur vorzustellen, was unser Leben wäre, wenn wir Gott über Alles liebten, um zu erkennen, daß der natürliche Mensch Ihn nicht in diesem Grade liebt, und daß er Ihm nur eine kalte Achtung zugesteht, indem er seine erste Liebe für einen andern Gegenstand zurückhält, die Meisten für die Welt, - die weltlichen Sünder, Viele für die Zuneigungen des Herzens - die liebevollen Sünder, Einige für das von Gott getrennte und darum gefälschte Gewissen - die tugendhaften Sünder. - Daher haben wir im Namen der Vernunft wie der Bibel mit Paulus den Schluß gezogen, daß der Mensch in seinem natürlichen Zustande ein Sünder ist. Das ist das traurige Ergebniß, zu dem uns meine erste Rede geführt hat.

Daher müßt ihr, die ich durch Gottes Gnade überzeugt habe, daß euer natürlicher Zustand ein Zustand der Sünde ist, die ihr euch in keinem Zeitraum eures Lebens einer Bekehrung, d. h. eines Uebergangs aus einer ersten Richtung in eine neue Richtung erinnert, daher müßt ihr euch selbst zugestehn. daß ihr noch in eurem natürlichen Zustande, in eurem sündhaften Zustande seid und deßhalb, wenn ihr verständig seid, nicht eher einen Augenblick Ruhe finden könnt, als bis ihr diesen Zustand verlassen habt. Denn dieser Zustand ist in zwiefacher Hinsicht traurig: es ist ein Zustand der Verdammung und ein Zustand des Elends. Es ist ein Zustand der Verdammung, in welchem ihr wegen eurer Schuld den gerechten Züchtigungen Gottes ausgesetzt seid. Das brauche ich euch, falls ihr ein Gewissen und ein Gedächtniß habt, nicht erst zu beweisen. Es ist aber auch ein Zustand des Elends, in welchem ihr, selbst wenn Gott euch nicht eurer Sünden wegen züchtigen müßte, eben durch eure Sünden unglücklich seid: ein Zustand, in welchem Gott selbst euch nicht glücklich machen kann, weil er nicht machen kann, daß eine Sache ist und zugleich nicht ist, daß ihr Sünder seid und folglich Seinem Willen euch widersetzt, und doch zu derselben Zeit glücklich, d. h. mit Seiner Regierung zufrieden. Daher müßt ihr, die ihr eben so schuldig seid als elend, eben so unwürdig als unfähig, glücklich zu werden, sowohl von der Strafe der Sünde als von der Sünde selbst erlöst werden; ehe dies nicht geschieht, ist für euch kein Glück möglich; was ihr mit diesem Namen bezeichnet, ist nichts als Betäubung. Sucht ihr diese doppelte Erlösung in euch selbst, dann wird euch nicht allein das Nachdenken, sondern auch die Erfahrung belehren, daß ihr sie vergebens sucht, Ihr könnt euch nicht von der Strafe der Sünde erlösen; denn ihr könnt das Verbrechen eures früheren Ungehorsams nicht durch einen verspäteten Gehorsam auslöschen, der, wenn er auch vollkommen sein könnte, doch nicht mehr leisten würde als das, was geboten ist, niemals aber durch seinen Ueberschuß etwas von der früheren Schuld abzutragen vermöchte. Ihr könnt euch auch nicht von der Sünde selbst erlösen; denn, mögt ihr auch den Entschluß gefaßt haben, in Zukunft Gott zu gehorchen, so gleicht ihr doch einem von Giftpflanzen überwucherten Felde, welches keine Heilpflanzen treibt; so kann, wie Jesus sagt, vom Fleisch doch nur Fleisch geboren werden, d. h. die Sünde kann die Heiligkeit nicht hervorbringen, noch euer böser Wille euren bösen Willen umwandeln. Habt ihr aber nun keine Hoffnung in euch selbst und müßt ihr sie anderswo suchen, so werdet ihr mit Angst ausrufen: Wer wird mich dann erlösen?

Gott! Er klagt euren sündhaften Zustand nur an, weil Er euch aus demselben erlösen will. Er hat euch unter den Ungehorsam nur beschlossen, um an euch Barmherzigkeit zu üben. Das versichert euch Sein Wort, und das ist der Plan, den Sein Erbarmen zu eurer Erlösung, wie eben dies Wort sie uns offenbart, gefaßt hat. Ich sage, so wie Sein Wort uns diese Erlösung offenbart; denn ich will euch in der folgenden Auseinandersetzung nur die Gedanken der Bibel darstellen, ohne die Zustimmung der menschlichen Vernunft zu erstreben; es ist zu klar, Gott hat von dem sündigen Menschen keinen Rath angenommen, Er ist Wege gegangen, die über unsre Wege sind, und in Gedanken, die über unsre Gedanken sind. Wenn es sich darum handelt, unser natürliches Elend zu beweisen, so kann die Vernunft herbeigerufen werden, um ihre schwache Stimme mit der allmächtigen Autorität Gottes zu verbinden. Die Vernunft hat ihre Art und Weise, um unser Bedürfniß des Evangeliums und die Merkmale der Göttlichkeit, die dies Evangelium an sich trägt, zu bezeugen; hat sie aber das gethan, so hat sie ihr ganzes Werk vollbracht, ihr Zeugniß ist erschöpft. Heute muß sie schweigen, sie höre Gott reden und maße sich nicht an, ihren Richter zu richten. Und Du, o Herr, entfalte frei vor den Augen der hier Versammelten „Deine Thorheit, die weiser ist als der Menschen Weisheit,“ (1 Cor. 1, 25) und durch die es Dir gefallen hat, die Sünder zu retten.

Zunächst verkündigt jeder Prophet des Alten Bundes und sodann das Evangelium gleich zu Anfang eine Mittheilung der göttlichen Barmherzigkeit, die so tröstlich ist für den sündigen Menschen, und die er so wenig erwarten durfte, daß sie dem Evangelium seinen Namen „die frohe Botschaft“ gegeben hat. Die erste Art der Erlösung, die ihr sucht, ist euch erworben: Gott will euch die Strafe eurer Sünde erlassen, Er verzeiht euch.

Nicht als ob die Verdammung, die euer Gewissen gegen euch ausspricht, nach der Bibel nicht gerecht wäre: fern davon, sie abzuschwächen, hebt sie dieselbe ihrerseits mit noch größerem Nachdruck hervor. Ich will nur ein Beispiel erwähnen. In demselben Kapitel des Römerbriefs, in welchem die Heilige Schrift, wie wir in der vorigen Betrachtung gehört haben, erklärt, daß jeder Mensch ein Sünder ist, erklärt sie auch, daß der Sünder keine Entschuldigung hat (Röm. 1, 20), und beweist dies durch die Art und Weise, wie sich das Verderbniß der alten Völker entwickelt hat. Und obgleich dieser Beweis aus der Geschichte der Völker und nicht der einzelnen Menschen genommen ist, so leidet er dennoch nach der Schlußfolgerung des heiligen Paulus seine Anwendung auch auf jeden Menschen im besondern, weil sich die Geschichte ganzer Völker in verkleinertem Maßstabe in der Geschichte jedes einzelnen Menschen wiederfindet. Denn so wie das Sittenverderben dieser Völker damit begonnen hatte, daß sie freiwillig ihre Augen dem Lichte, das Gott ihnen angezündet hatte, verschlossen, und wie Gott dadurch genöthigt war, ihnen dies Licht zu entziehen und sie ihrer Finsterniß zu überlassen, durch die sie wieder zu der entsetzlichsten Zügellosigkeit gelangten, - so muß auch jeder aufrichtige Mensch anerkennen, daß er selbst die Sünde in seinem Herzen genährt, weil er freiwillig gleich zu Anfang das Licht, welches Gott ihm gegeben, zurückgestoßen und dadurch Gott gezwungen hat, ihm dies Licht zu entziehen und ihn seiner Unwissenheit zu überlassen, die ihn wiederum der Sünde überliefert hat. Aus diesem Grunde ist nach Paulus jeder Mensch schuldig, hat unwiderruflich „die Rechtfertigung durch die Werke“ d. h. das ewige Leben, das durch ein dem göttlichen Gesetze gemäßes Verhalten erworben wird, verloren.

Aber nun fügt der Apostel hinzu, daß Gott, weil Er gesehen, wie kein Mensch auf diesem ersten Wege zur ewigen Seligkeit gelangte, noch gelangen konnte, uns einen ganz andern Weg eröffnet, daß Er dem Menschen „die Rechtfertigung durch den Glauben,“ d. h. das ewige Leben als eine dem Schuldigen gewährte Gnade anbietet. Warum? Nur weil Er barmherzig ist, „umsonst aus Gnade,“ nicht wegen irgend einer Würdigkeit des Menschen, sondern trotz aller seiner Verdienstlosigkeit und Unwürdigkeit. Und wie? Durch die Erlösung in Jesu Christo. „Christus ist das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt. Er ist die Versöhnung für unsre Sünde; nicht allein aber für die unsre, sondern auch für die der ganzen Welt.“ (1 Joh. 2, 2.) „Er hat unsre Sünden geopfert in Seinem Leibe an dem Holze.“ (1 Petr. 2, 24.) „Er hat unsre Krankheiten getragen und auf sich geladen unsre Schmerzen. Er ist für unsre Missethaten gemartert und für unsre Sünden zerschlagen worden; durch Seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, die sich verirrt haben, ein jegliches auf seinem Wege; aber der Herr ließ die Sünden Aller auf Ihn treffen und auf Ihn die Strafe fallen, die uns den Frieden brachte. (Jes. 53, 4-6.) Liebe Brüder, laßt uns die Schrift nicht verdrehen, ihre Offenbarungen können nur einen Sinn haben. Jesus Christus hat an unsrer Statt den Tod erlitten, den wir Alle verdient haben, damit wir durch Ihn das ewige Leben erhielten, welches Er allein erworben hat. Gott behandelt Seinen unschuldigen Sohn, als ob Er so schuldig wäre wie der Mensch, auf daß Er den schuldigen Menschen behandeln könne, als ob er so unschuldig wäre wie Sein Sohn. Auf diese Weise will Er unsre Uebertretungen so fern von uns halten als der Morgen vom Abend ist. Er will sie in die Tiefe des Meeres versenken und ihrer nicht mehr gedenken. (Ps. 103, 12; Hebr. 8. 12.) Er will uns aus dem Zustande unsrer Verdammung erlösen.

Hier namentlich müßt ihr euch daran erinnern, daß ich mich nur auf die Autorität der Bibel beziehe. Ich berufe mich nicht auf die Zustimmung der Vernunft, die ich vielleicht nicht erhielte und deren ich auch nicht bedarf, da ich nicht meine Gedanken, sondern Gottes Gedanken auseinandersetze, sie auseinandersetze nicht mit meiner Sprache, sondern mit der Sprache der Bibel, Fragt ihr mich, welche Beziehung die Vergebung unserer Sünden auf Christi Tod hat; durch welche sonderbare Vertheilung die göttliche Gerechtigkeit sich dadurch Genugthuung verschafft, daß sie die Sünde, aber nicht den Sünder straft; warum Gott den Unschuldigen für den Schuldigen schlägt und dem Schuldigen für den Unschuldigen verzeiht, so kann ich nur ein Wort erwiedern: Ich weiß es nicht. Und fordert ihr von mir eine Rede, in welcher die Versöhnung bewiesen würde, so würde ich mir jenen Philosophen des Alterthums zum Vorbilde nehmen, von dem man das Wesen Gottes erklärt wissen wollte. Ich würde zuvor von euch eine Woche verlangen, um diese Rede auszuarbeiten, nach Verlauf dieser Woche würde ich eine zweite und nach der zweiten eine dritte fordern, bis ich endlich erklärte, daß ich nie zu Ende kommen würde. Denn je länger jener Philosoph über Gott nachdachte, desto weniger konnte er Sein Wesen erklären; und je länger ich über die Versöhnung nachdenke, desto weniger kann ich sie erklären. Kann ich aber auch die Versöhnung nicht direkt erklären, so besitze ich doch ein Mittel, dies indirekt zu thun; kann ich sie nicht an sich und durch das, worin sie besteht, begreifen, so fasse ich sie doch einigermaßen durch das, was ihr vorangeht, und durch das, was auf sie folgt. Mit dem, was ihr vorangeht, meine ich das Bedürfniß meines Gewissens, dem sie entspricht; und mit dem, was ihr folgt, meine ich den Frieden, den sie dem Gewissen schafft. Als Gott, von Moses angefleht, „ihn Seine Herrlichkeit schauen zu lassen, vor den Augen desselben Seine ganze Schönheit vorübergehen ließ,“ so wußte Moses, schon ehe Gott vorüberging, daß er vorübergehen werde, und nachdem er vorübergegangen, daß es geschehen war; aber zu der Zeit, wo Gott vorüberging, sah Moses nichts, weil Gott, wie die Schrift sagt „ihn mit Seiner Hand bedeckt hatte.“ (2 Mos. 33, 18-23). Dasselbe gilt auch von der Versöhnung. Gott geht an uns vorüber, indem er Seinen Sohn zur Sühne unsrer Sünden opfert. In der Zeit, wo das Opfer vollzogen wird, sehen wir nichts, Gott hat Seine Hand auf Unsere Augen gelegt. Bevor es aber ausgeführt wird, schauen wir es in der Ahnung unseres geängstigten Herzens, und nach der Ausführung nimmt Gott Seine Hand hinweg, und wir begreifen dies Opfer in dem Frieden, den es uns zurückgegeben hat. Begnügen wir uns damit! Seien wir nicht so unverständig, darüber zu erstaunen, daß Gott uns in unserm jetzigen Zustande nicht Alles hat erklären wollen noch können. Es wird ein Tag kommen, wo wir erkennen werden, wie wir erkannt sind; glauben wir bis dahin Gott auf Sein Wort; nehmen wir die frohe Botschaft wie eine Botschaft aus. Gott will Allen Alles verzeihen um Christi willen, der Alles für Alle erduldet hat.

Der Sünder ist aber vergeblich von der Strafe der Sünde befreit, wenn er nicht auch von der Sünde selbst erlöst ist, - auch diese zweite Erlösung bietet uns Gott an. Zu derselben Zeit, wo Er uns verzeiht und - wunderbarer Weise - durch dasselbe Mittel, legt Er in unser Herz den Keim der Heiligkeit, nach dem tiefen Worte des 130. Psalms: „Bei Dir ist Vergebung, auf daß man Dich fürchte.“

Die zweite Hälfte des Planes göttlicher Erbarmung, die. welche den Menschen von der Sünde selbst befreien, oder mit andern Worten, ihn dahin bringen will, daß er Gott zum Hauptgegenstande seiner Liebe macht, ist auf ein göttlich einfaches und fruchtbringendes Prinzip gegründet, das man die Theorie der göttlichen Heiligung nennen kann. Die Liebe läßt sich nicht befehlen, sie entspringt ohne Zwang beim Anblick gewisser Eigenschaften, welche sie von selbst anziehn. Erscheint uns ein Wesen von diesen Eigenschaften entblößt, erscheint es uns nicht als liebenswürdig, so können wir es nicht lieben, was wir auch thun mögen. Erscheint uns dagegen ein Wesen mit diesen Eigenschaften ausgestattet, erscheint es uns liebenswürdig, so lieben wir es nicht blos ohne Zwang, sondern wir können gar nicht anders, wir müssen es lieben. Sündigen wir nun, lieben wir Gott nicht, so geschieht es nur aus dem Grunde, weil Gott uns nicht liebenswerth erscheint. Erscheint uns Gott aber nicht liebenswerth, so kommt es daher, daß wir Ihn nicht kennen. Kennten wir Ihn, so würden wir wissen, daß Er von allen Eigenschaften diejenige im höchsten Grade besitzt, welche am meisten geeignet ist, Ihm unsre Liebe zu erwerben Eine große Liebe zu uns. „Wer da sündigt oder wer nicht liebt, sagt Johannes, der kennt Gott nicht, denn Gott ist die Liebe“ (1 Joh. 3. 6; 4, 8). Um den Menschen dahin zu bringen, daß er Gott liebt, braucht man ihn folglich nur zu der Erkenntniß zu bringen, wie sehr Gott ihn liebt. In dieser Absicht hat Gott, um den Menschen Seinen wahren Namen, den Namen Vater zu offenbaren, ihnen Seinen Sohn Jesus Christus gesandt, der allein zu allen Zeiten in dem Schoße Gottes gewohnt, allein Gott gesehen hat und allein Sein ganzes väterliches Wesen kennt.

Wie gut hat Jesus Christus diese Aufgabe erfüllt! Wie unmöglich ist es, den Sohn zu schauen und an der Liebe des Vaters zu zweifeln! Christus ist gekommen. Er hat drei und ein halbes Jahr von Gott geredet, und Alles, was Er von Ihm gesagt hat, läßt sich auf das eine Wort zurückführen: Gott liebt euch. Was Er in Seinem Leben verkündigt hatte, das hat Er durch Seinen Tod bewiesen; und am Kreuze hat Er nicht blos gesagt: Gott liebt euch, sondern: Sehet, wie euch Gott liebt: Denn welche Liebe kommt derjenigen gleich, die Gott in dem Opfer Seines Sohnes für uns hat erscheinen lassen! Wenn ich mir eine Vorstellung davon machen will, so denke ich mir zuvor einen armen Sünder wie ich bin, der zum Richterstuhle Gottes schreitet, in seinem Gedächtniß alle Sünden seines Lebens wieder durchnimmt, und in dem geringen Theil, dessen er sich noch erinnern kann, Grund genug findet, sich tausendmal zu verurtheilen; wie er sich sagen muß, daß, wenn schon sein Herz ihn verdammt, Gott, der viel größer ist als sein Herz, ihn noch viel strenger richten wird, weil Er an ihm all die Sünden bemerkt, die er selbst nicht sieht, und sich alles dessen erinnert, was er selbst vergessen hat, wie er an sein Ohr die schrecklichen Drohungen der Schrift schlagen hört, jene in voraus gefällten Gerichte einer ewigen Gerechtigkeit, die den Fluch über den Uebertreter des Gesetzes ausspricht und die als Uebertreter des ganzen Gesetzes denjenigen ansieht, welcher nur ein einziges Gesetz nicht gehalten hat; wie er vertieft in diese Betrachtungen, voller Gewissensbisse über das Vergangene, voller Unruhe wegen seiner Zukunft, doch gezwungen ist, in einer Verzweiflung, die mit jedem Schritte wächst, immer weiter zu wandern; wie er vor dem Heiligen aller Heiligen anlangt, er, der Sünder aller Sünder, und in dem Richter - zu dem er seine Augen nicht aufzuheben wagt und von dem er in düsterem Schweigen ein furchtbares Gericht erwartet - einen Vater findet, der zu ihm spricht: „Mein Kind, ziehe hin in Frieden, deine Sünden sind dir vergeben.“ Ist durch dies eine Wort sein Dasein ein anderes geworden; fällt damit eine unerträgliche Last von seinem Herzen; kehren Friede und Hoffnung zurück - was sage ich? überwältigen sie sein Herz; erhebt er zu seinem väterlichen Richter Augen, in denen man nicht weiß, ob das Erstaunen nicht die Freude übermannt, sollte da nicht zuerst aus seinem Munde das Wort hervordringen: Welche Liebe, mein Gott, welche Liebe! - Ja, sage ich mir dann, die Liebe, welche mir Gott in dieser Voraussetzung erzeigt haben würde, ist schwach im Vergleich zu der, welche Er mir durch den Tod Seines Sohnes erwiesen hat. Dort ist Alles, was Sein Erbarmen Zärtliches hat, in ein glänzenderes Licht gestellt durch Alles, was Seine Heiligkeit Schreckliches bietet. Dort bin ich in demselben Augenblicke, wo ich erfahre, daß Er mich begnadigt, auch belehrt, daß Sein Gesetz so unbeugsam und meine Sünde so furchtbar ist, daß er mir nicht hat Gnade erweisen wollen, ohne Gerechtigkeit zu üben, daß meine Schuld hat bezahlt werden müssen und daß Er sie allein für mich hat bezahlen können. Hier ist die Verzeihung ein Opfer, wo Seine durch die Freisprechung des Schuldigen kundgegebene Liebe nach seinem Abscheu vor der Sünde bemessen wird. Welche Liebe, mein Gott, welche Liebe! - Und welches Opfer gibt Er denn für mich dahin? Ist es ein Mensch? nein, sagt die Schrift. Ist es ein Geschöpf? nein, sagt die Schrift. Es ist der Sohn Gottes, Sein eingeborner Sohn, in den Er alle Seine Liebe niedergelegt hat, der im Anfang bei Gott war, Eins ist mit Gott, selbst Gott ist, und der Schöpfer gibt sich dahin für das Geschöpf in der Person Seines Sohnes. Welche Liebe, mein Gott, welche Liebe! - Aber warum endlich so viele Liebe? Ist etwas in mir, was sie hat verdienen können? Bin ich nur Seiner Liebe durch die meinige zuvorgekommen? Nein, Er hat mich zuerst geliebt. Das Geheimniß Seiner Erbarmung liegt ganz in der Erbarmung selbst; Er begnadigt nur, weil es Ihm gefällt zu begnadigen; Er rettet mich nur, weil ich verloren war. Als ich, ein Kind des Aufruhrs und des Zornes, Ihm Feind war, hat er gerade diese Zeit auserwählt, um Seinen Sohn für mich zu opfern. Welche Liebe, mein Gott, welche Liebe! - Und doch sehe ich nur die Umrisse dieser Liebe, sie ist ein Abgrund, in welchem ich nicht bis auf den Grund sehen kann; aber dieser Abgrund hat keine Tiefe, welche die Liebe nicht ausfüllte. In dem engen Kreise, den ich überschaue, entdecke ich eine Liebe, die meine ganze Einbildungskraft erschöpft, und da, wohin mein Auge nicht dringt, ahne ich eine Liebe, die alle meine Gedanken verwirrt, erschöpft, vernichtet,.. Also hat Gott die Welt geliebt, daß er Seinen eingebornen Sohn sandte, um die Sünden der Welt zu tilgen. Gott ist die Liebe. Wer ihn nicht liebt, der kennt ihn nicht. Aber ich, der ich Ihn erkannt habe, der ich die Liebe des Vaters angeschaut habe, wie könnte ich anders, als Ihn lieben? So theuer erkauft, gehöre ich nicht mehr mir selbst an, ich gebe Ihm mein ganzes Herz!

Durch einen so schlagenden Beweis der Liebe Gottes für den sündigen Menschen hätte Jesus Christus Alles gethan, um denselben zur Liebe Gottes zu bewegen, wenn dieser Beweis in dem sündigen Menschen einen Geist fände, der bereitwillig wäre, ihn aufzunehmen; aber ein solcher findet sich nicht in ihm. Die in der göttlichen Erlösung ausgedrückten göttlichen Gedanken sind so weit von unsern menschlichen Gedanken entfernt, daß sie keinen Eindruck auf unsere Seele ausüben können, wenn diese nicht zuvor eine besondere Vorbereitung erlangt bat. Der Beweis ist klar, unwiderleglich, aber in einer Sprache geführt, die uns so fremd ist, daß wir, um sie zu verstehen, zuvor in unserm Innern einen Dolmetscher derselben aufnehmen müssen. Und auch dieser vorbereitende, die Versöhnung erklärende Geist ist uns versprochen unter dem Namen „der Heilige Geist.“

Glaubt ja nicht, daß das Versprechen des Heiligen Geistes nur den Aposteln gegeben wäre: es gilt allen Christen aller Zeiten. Was unter den geistlichen Gaben der Apostel zu einer raschen Verbreitung des Christenthums nothwendig war, ist uns nicht wie ihnen nothwendig, ist auch nur ihnen verheißen. Aber was unter den geistlichen Gaben der Apostel zur Bekehrung ihres eigenen Herzens gehörte, was sie für sich erhielten, ist für uns wie für sie nothwendig, ist uns wie ihnen verheißen. Vor einem ganzen Volke sprach Jesus: „Gott wird den Heiligen Geist Jedem geben, der Ihn darum bittet.“ (Luk. 11, 13.) In Briefen, die an ganze Kirchen gerichtet sind, haben die Apostel geschrieben: „Ihr habt die Salbung des Heiligen empfangen,“ d. h. des Heiligen Geistes (1 Joh. 2, 20); „euer Körper ist der Tempel des Heiligen Geistes, der in euch ist“ (1 Kor. 6, 19); „wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein“ (Röm. 8, 9). Könnten euch so klare Versicherungen noch irgend einen Zweifel lassen, so wird dies nicht mehr möglich sein nach der Erklärung, mit welcher Petrus seine Rede am Pfingstfeste schließt und durch die er ganz klar im Geiste seiner Zuhörer demselben Irrthum vorbeugen will, den ich jetzt in eurem Geiste bekämpfe. „Ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfahen; denn die Verheißung gilt euch und euren Kindern und Allen, die ferne sind, so viel ihrer der Herr unser Gott herzurufen wird.“ (Apost. 2, 39). Liebe Brüder, hat Gott also geredet, so laßt uns nicht mehr zweifeln: der Heilige Geist ist allen Christen verheißen worden.

Und wißt ihr, was der Heilige Geist bedeutet? Lernen wir es aus der Bibel! Hören wir sie ohne Unglauben; schwächen wir nicht den Sinn ihrer Ausdrücke; fordern wir nicht mehr und nicht weniger, als was uns Gott deutlich versprochen hat. Der Heilige Geist ist nicht eine Rückwirkung unsers Geistes auf sich selbst im Nachdenken oder im Gebet. Der Heilige Geist ist auch nicht ein Eindruck, der auf natürliche Weise durch wahre oder heilsame Gedanken auf unsern Geist hervorgebracht wird. Der Heilige Geist ist eine unmittelbare, wirkliche, übernatürliche Thätigkeit, die von Gott, welcher so gut der Herr unsers Herzens, als der Herr der Natur ist, auf unsern Geist ausgeübt wird und der nach seinem Gefallen uns Empfindungen und Gedanken geben und nehmen kann. Oder, um uns genauer an die Ausdrücke der Schrift zu halten, der Heilige Geist ist der Geist des denkenden, wollenden, liebenden, in dem Geiste des Menschen thätigen Gottes. Der Heilige Geist ist Gott im Menschen (1 Cor. 3, 16; Ezech. 36. 26 u. 27; Joh. 14. 17; 17, 21; 1 Joh. 4. 12 u. 13).

Die Schrift schreibt diesem Geiste vielfachen Einfluß auf unsern Geist zu, namentlich den, dessen Bedürfniß wir so eben anerkannt haben: er öffnet ihn der Offenbarung, der Liebe Gottes, welche in der Versöhnung enthalten ist. Sie sagt: „Der Geist Gottes gießt in unsere Herzen die Liebe Gottes“ d. h. er offenbart, oder vielmehr, er theilt uns die Liebe Gottes gegen uns mit; „dieser Geist gibt Zeugniß unserm Geiste, daß wir Gottes Kinder sind,“ d. h. mit Ihm durch den Tod Seines Sohnes versöhnt sind; so daß wir durch diesen Geist und durch ihn allein Jesum Christum als den Herrn, den Messias und den Versöhner empfangen können. Und von dieser Lehre handelt Paulus ganz besonders, indem er an die Korinther schreibt: „Wir haben nichts unter euch wissen wollen denn Jesum Christum, und zwar Jesum Christum den Gekreuzigten… Das sind Dinge, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und in keines Menschen Sinn gekommen sind;“ ihr seht, der Apostel redet von der Versöhnung und erklärt, daß sie in dem Menschen einen Geist findet, der an sich fähig ist, sie anzunehmen. „Aber jetzt“ fügt er hinzu, „hat Gott sie uns durch Seinen Geist geoffenbart… Wir haben den Geist aus Gott empfangen, daß wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist,“ (l Kor. 2, 2.9.12.) Habt ihr also diesen Geist empfangen, so könnt ihr die Erlösung glauben und empfinden. Und indem ihr dadurch eine lebendige Ueberzeugung der Liebe Gottes zu euch erlangt, wendet sich euer Herz ganz von selbst Ihm zu und ihr fangt an, Ihn eurerseits zu lieben. Dann kommt etwas ganz Neues in euch: neue Einsicht, neue Empfindungen, neuer Geschmack, neue Erinnerungen, neue Hoffnungen, mit einem Worte, wie die Schrift sagt, ein neues Leben. Dann seid ihr, obgleich ihr noch gegen die Sünde zu kämpfen habt, nicht mehr Sklaven der Sünde; ihr strauchelt noch auf dem Wege des Heils, aber ihr wandelt nicht mehr die Bahn des Verderbens; ihr macht euch immer mehr von jedem Dienst der Sünde frei. Kurz, dann nennt euch die Schrift Heilige, Bekehrte, Wiedergeborene, Erkaufte Jesu Christi, Kinder Gottes, frei geworden von dieser Welt, reif für die andere, dann wißt ihr zu leben, dann könnt ihr sterben.

So hat es das göttliche Erbarmen an nichts fehlen lassen für das Heil des sündigen Menschen. Der sündige Mensch bedarf einer doppelten Erlösung. Da er schuldig ist, bedarf er der Verzeihung, da er elend ist, bedarf er einer Umwandlung seines Herzens: Gott bietet ihm das Eine wie das Andere in Jesu Christo an. Er verzeiht ihm um Christi willen, der für ihn die Strafe erlitten hat, die seinen Sünden gebührte. Er wandelt ihm das Herz um, indem Er ihm Seine Liebe in der Versöhnung offenbart, die Er ihn durch den Heiligen Geist glauben und empfinden läßt.

Haben wir aber, um in diesen Plan des Erbarmens einzugehn, von unserer Seite nichts zu thun, oder was müssen wir thun?

Ja, wir haben etwas zu thun. „Gott, der uns ohne uns geschaffen hat, will uns nicht ohne uns erlösen,“ sagt Augustin. Jeder, welcher für die beiden Gnadenerweisungen, die Christus bringt, die Verzeihung und die Umwandlung des Herzens für sich annehmen will, muß sich in einem gewissen Seelenzustande befinden, der den Namen „Glauben“ trägt. Die Schrift fordert ihn klar und entschieden, fordert nichts als ihn. Ich will mich nicht in Beweisen dafür erschöpfen; es genügt, wenn ich euch an zwei Hauptpunkte erinnere, der eine ist das Amt Christi, der andere das Amt der Apostel. Wurde Christus von den Kranken angefleht, ihnen Heilung des Leibes zu gewähren, durch die Er die Heilung der Seele bildlich darstellte, so sagte Er ihnen: „Glaubst du? Glaube; dem Gläubigen ist Alles möglich;“ und als Paulus von dem Kerkermeister zu Philippi gefragt wurde, was er thun müsse, um selig zu werden, so antwortete er ihm: „Glaube an den Herrn Jesum Christum und du wirst selig werden.“ Wie ihr also einerseits nur durch die Gnade selig werden könnt, so werdet ihr andererseits dieser Gnade nur durch den Glauben theilhaftig.

Aber was bedeutet denn dieser Glaube? Lernt auch dies aus der Schrift. Der Glaube hat in der Bibel zwei Bedeutungen, je nachdem er seinem Prinzip oder seiner Anwendung nach betrachtet wird. Seinem Prinzipe nach ist er die allgemeine Ueberzeugung, daß die Bibel das Wort Gottes ist, und Alles, was sie sagt, wahr ist: es ist dies der Glaube an Gott. Seiner Anwendung nach ist er die besondere Ueberzeugung, daß wir verloren sind und nur durch Jesum Christum selig werden können, weil es Gott in Seinem Worte also gesagt hat: es ist dies der Glaube an Jesum Christum. Dieser zweite Glaube, der Glaube an Jesum Christum, der übrigens nur eine Folge des Glaubens an Gott ist, ist der Glaube, welchen Paulus vom Kerkermeister zu Philippi fordert, und den er auch von uns zu unserer Seligkeit verlangt. Wollt ihr von diesem Glauben die genaueste und zugleich die einfachste Erklärung haben, so findet ihr sie in dem Worte des Aussätzigen an Jesus: „Herr, wenn Du willst, so kannst Nu mich gesund machen.“ (Mark. l. 40-42) Ich bin verloren, ich kann mich selbst nicht erretten; aber Du kannst mich erretten, errette mich, Herr! - siehe, das ist der Glaube. Von dem Tage an, wo ihr in diese Gesinnung eingeht, gibt es in den Verheißungen der Schrift nichts mehr, was ihr nicht auf euch persönlich anwenden könnt; Jesus Christus ist dann nicht nur der Erlöser, sondern euer Erlöser.

Wie können wir aber diesen Glauben erlangen? Muß Gott ihn uns geben? Ja, denn die Schrift sagt: „Er hat euch das Glauben gegeben (Phil, 1, 29; Ephes. 2, 8).“ Muß man denn müßig abwarten, bis Er sich unsers Geistes bemächtigt? Nein, denn die Schrift sagt auch: „Mühet euch, suchet den Ewigen, arbeitet an eurer Seligkeit (2 Petr. 3, 14; Jes. 55, 6; Phil. 2, 12).“ Aber wie lassen sich zwei Dinge vereinigen, die sich so zu widersprechen scheinen? In der Theorie halte ich die Sache für unmöglich, in der Praxis aber ist sie leicht. Ihr vereinigt sie, wenn ihr um den Glauben bittet. Denn bitten bedeutet anerkennen, daß wir des Gebens bedürfen, und zu gleicher Zeit heißt es auch suchen und thätig sein. Darum bittet, betet, um den Glauben zu erlangen. Um euch zu erhören, legt Gott euch nur eine Frage vor, es ist die, welche Jesus an den Kranken von Bethesda richtet: „Willst du erhört werden? Willst du glauben, nicht blos: verlangst du, wünschest du, sondern: willst du? Willst du es mehr als alles Andere und um jeden Preis? Willst du die Wahrheit erkennen, d. h. willst du, um sie zu erkennen, alle Opfer bringen, die Gott von dir verlangt? Das Opfer deiner Trägheit, deiner Nachlässigkeit, deiner vorgefaßten Meinungen, deiner Interessen, selbst deiner persönlichen Meinungen und deiner angemaßten Unabhängigkeit? willst du Gott in der Schrift hören, um mit aufrichtiger Entschiedenheit Sein Zeugniß anzunehmen, mag es mit dem, was du bis dahin geglaubt hast, übereinstimmen oder nicht? Willst du Verzeihung haben? Willst du begnadigt werden wie ein niedriger Verbrecher? Willst du in eine allgemeine Vergebung mit Räubern, Zöllnern und Sündern zusammengefaßt werden? Willst du geheiligt werden? Willst du Alles thun, was du im Worte Gottes geboten findest, mag es deinen Neigungen angenehm sein oder nicht? Willst du keinen eigenen Willen mehr haben, sondern den Willen Gottes allein folgen und ihm Alles geben, was du hast und was du bist? Willst du, um Alles mit einem Worte zu sagen, willst du - o Bitterkeit, o Kreuz der Natur - willst du dich selbst verleugnen? Willst du nichts gelten, nichts verdienen, nichts wissen, nichts können, nichts sein und nichts für dich behalten? Willst du dies, ist dies deine Gesinnung, so bitte Gott ohne Scheu um den Glauben, fürchte nicht, mit allzu großer Zuversicht die Gewährung dieser Bitte zu erwarten; fürchte vielmehr, daß dein Vertrauen zu gering ist; denn zweifeln, daß Gott dich erhören will, das hieße zweifeln an Seiner bestimmten Verheißung. Wollt ihr dies nicht, ist diese Gesinnung nicht die eurige… Doch warum soll ich euch entmuthigen? Fühlt ihr auch diese Gesinnung nicht ganz in euch, fühlt ihr nur, daß sie in euch sich regt, daß ihr das Verlangen nach ihr habt, wohlan, so bringt diese Regung, dies Verlangen Gott dar. Beruft euch bei Ihm auf das Beispiel des unglücklichen Vaters, der Jesum um die Heilung seines Sohnes anflehte und der, als der Heiland ihn fragte, ob er glaube, mit Thränen antwortete: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!“ Und siehe, der Heiland versagte ihm seine Hilfe nicht. So bittet auch ihr, wenn auch noch nicht mit vollem Glauben, doch wenigstens mit dem geringen Glauben, den ihr habt; wenn nicht mit voller Selbstverleugnung, doch mit der gelingen Selbstverleugnung, die ihr habt. Durch diese ersten unvollkommenen Bitten erlangt ihr die ersten Gnadenerweisungen, die, mögen sie auch noch unvollkommen sein wie eure Bitten, euch doch zu besseren Bitten ermuntern, und diese wiederum bereiten euch reichlichere Gnadenerweisungen, und so gelangt auch ihr stufenweise von Bitten zu Gnadenerweisungen und von Gnadenerweisungen zu Bitten zwar langsam zur Wahrheit, aber endlich betretet doch auch ihr den Weg göttlichen Erbarmens.

Liebe Brüder, in dieser wie in der vorhergehenden Rede habe ich euch die Notwendigkeit der Erlösung durch Jesum Christum dargelegt.

Wollte Jemand diese Reden verwerfen, so würde ich ihn zuerst fragen, was er in ihnen verwirft. Ist es nur die Form, die Sprache, die Verbindung der Ideen? Dies zu verwerfen, steht Jedem frei, denn dies kommt von mir. Ist es aber der Grund der Gedanken, sind es die Ideen selbst? Haltet ihr es nicht für wahr, daß der Mensch von Natur ein Sünder ist, daß er der Vergebung bedarf, die nur durch den Versöhnungstod des Sohnes Gottes erlangt werden kann; daß er einer Umwandlung des Herzens bedarf, die nur der Geist Gottes in ihm zu bewirken vermag; daß er verloren ist und nur in Jesu Christo aus Gnaden, durch den Glauben selig werden kann? Verwerft ihr dies, so füge ich nur eine Betrachtung hinzu. Handelt wenigstens als Sachverständige, wisset, was ihr verwerft, nämlich nicht einen Menschen und das Wort eines Menschen, sondern das Evangelium, Jesum Christum. Denn es gibt nur ein Evangelium (Gal. 1, 7; Ephes. 4, 5; 2 Cor. 11, 4), und dies lehrt gerade das, was ihr verwerft: den verlorenen Menschen, den rettenden Gott, den sich opfernden Christus, den erneuernden Heiligen Geist. Darüber sind stets alle Menschen, die ihren Glauben aus der Schrift geschöpft haben, einig gewesen. Es ist das Evangelium der evangelischen Kirche, das Evangelium Calvins, Luthers, Pascals, Fenelons, der Nachfolge Christi, des Johannes Huß, des heiligen Bernhard, des heiligen Augustin, des heiligen Polykarp, des heiligen Paulus, des heiligen Johannes, des heiligen Jakobus; es ist das Evangelium Jesu Christi, das Evangelium Gottes. Verwerft ihr dies Evangelium, so könnt ihr noch Christen genannt werden, euch selbst noch für Christen halten; aber ihr seid dann ebensowenig Christen, als ein Philosoph, der die platonische Philosophie verwirft, ein Schüler Platons ist. Was ich euch gepredigt habe, ist nicht meine Meinung, es ist die Wahrheit. Es ist nicht meine Lehre, sondern die alleinige Lehre. Es ist noch mehr: es ist das Leben, und glaubt ihr nicht daran, so bleibt ihr im Tode. Was sage ich? Glaubt ihr nicht daran, was glaubt ihr dann? Was seid ihr? Wem gehört ihr an? Woher kommt ihr? Was thut ihr hier? Wenn wir schwiegen, so würden die Steine dieser Kirche schreien, daß die Verehrung, die ihr hier Gott darbringt, widersinnig ist. Denn abgesehn von den Tagen der Communion, wo die Liturgie, in deren Namen man euch einladet, euch dem heiligen Tische zu nahen, und die ihr als wahr anerkennt, weil ihr ihre Einladung annehmt, wo diese Liturgie erklärt, daß ihr elende Sünder seid, die keine andre Hoffnung haben als in dem göttlichen Erbarmen, daß Jesus Christus das wahrhaftige Osterlamm ist, welches für euch geopfert wurde, und daß der Geist Gottes euch zu neuen Kreaturen umwandeln muß, - abgesehn davon, so begleitet ihr nicht mit dem Herzen, sondern nur mit den Händen das Gebet, mit welchem der Gottesdienst eröffnet wird: denn dies Gebet besteht aus zwei Theilen, von denen der erste der Inbegriff meiner ersten Rede ist, und der zweite Theil der Inbegriff meiner zweiten Rede. Wenn der Pastor laut sagt: „Wir bekennen vor Deiner heiligen Majestät, daß wir arme Sünder sind, geboren im Verderben, geneigt zum Bösen, durch uns selbst unfähig, das Gute zu thun, wir übertreten Tag für Tag auf mancherlei Weise Deine heiligen Gebote, wodurch wir uns durch Dein gerechtes Gericht die Verdammniß und den Tod zuziehn,“ - so müßt ihr, sofern ihr meine erste Rede verwerft, leise sprechen: Ich bin kein armer Sünder, ich bin nicht in Sünden geboren, neige mich nicht zum Bösen, bin nicht unfähig, durch mich selbst das Gute zu thun; ich übertrete nicht Tag für Tag auf mancherlei Weise Gottes Gebote, ich habe die Verdammniß und den Tod nicht verdient. Und ferner, wenn der Pastor laut sagt: „Wir flüchten uns demüthig zu Deiner Gnade und bitten Dich, unsers Elends Dich zu erbarmen. Habe Mitleid mit uns, lieber Gott, Du Vater der Barmherzigkeit, verzeihe uns unsere Sünden um Deines Sohnes Jesu Christi willen! Gewähre uns auch und vermehre uns beständiglich die Segnungen Deines Heiligen Geistes“ - so müßt ihr, wenn ihr meine Rede verwerft, leise sprechen: Da ich die Verdammung nicht verdiene, so brauche ich auch nicht um Gnade zu bitten: da ich nicht in Sünden geboren bin, so brauche ich nicht durch den Heiligen Geist erneuert zu werden, und da ich nicht glaube, daß der Unschuldige für den Schuldigen leidet, so kann ich auch nicht im Namen Jesu Christi um Verzeihung bitten. Könnt ihr aber, so lange ihr diese Lehre verwerft, weder mit der protestantischen Kirche noch mit den Reformatoren, weder mit den frommen Katholiken noch mit den Christen aller Zeiten, weder mit den Kirchenvätern noch mit der ersten Kirche, weder mit den Aposteln noch mit Christus, weder mit Gott noch mit euch selbst übereinstimmen: - so müßt ihr auf irgend eine Weise eine so verkehrte Stellung verlassen: ihr müßt entweder vorwärts oder rückwärts gehen, entweder die Sache erfassen oder den Namen aufgeben, entweder diese Lehre annehmen oder darauf verzichten, Christen zu sein.

O ihr Alle, wer ihr auch seid in dieser Versammlung, die Gott durch diese Reden zu ernstem Nachdenken gebracht hat, macht von dieser ernsten Stimmung einen treuen Gebrauch. Heute noch, so ihr Seine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht.“ (Hebr. 4, 7.) Wer weiß, ob hier nicht „euer angenehmer Tag ist, euer Tag des Heils,“ (2 Cor. 6, 2.) der, wenn ihr ihn versäumt, nicht wiederkehrt, aber auch, wenn ihr ihn getreulich benützt, für euch den Wendepunkt eines neuen Lebens bilden kann. Vergeßt allen menschlichen Einfluß, alle menschlichen Eindrücke; sehet nur Gott und euch, sagt Ihm: mein Gott, ich glaubte bis jetzt ein Christ zu sein, aber ich fange an einzusehn, daß ich es nur dem Namen nach war. Ich fühle, daß nicht Alles gut in mir ist, daß ich mit Dir nicht in Frieden lebe. Gib ihn mir, diesen Frieden, o Herr, müßte ich auch auf alles Andre verzichten! Willst Du mein Hab und Gut? Hier ist es. Willst Du meinen Ruhm? Hier ist er. Willst Du mein Wohlleben? Hier ist es. Willst Du selbst die Gegenstände meiner Zuneigungen? Muß ich mich trennen von meinem Vater, von meiner Mutter, von meinem Weibe, von meinem Kinde? Siehe hier, das Opfer ist angenommen. Dein Wille, Deine Wahrheit, Dein Geist, meine Bekehrung gehe Allem vor! Bekehre mich, o Herr, und ich bin bekehrt! Mein Gott! Bittet Dich Jemand also, so ist er nicht fern vom Himmelreiche, Mache, daß er den letzten Schritt thue, und sende, um ihn zu treiben, zu ängstigen, um das Werk fortzusetzen und zu beendigen, jenen Heiligen Geist in sein Herz, den himmlischen Sachwalter der Wahrheit, ohne welchen der irdische Sachwalter nichts ist als ein tönendes Erz und eine klingende Schelle! Amen.

Quelle: Sechs Reden von Adolf Monod
mit einem biographischen Vorwort.
Aus dem Französischen
Bielefeld.
Verlag von Velhagen und Klasing.
1860

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