Monod, Adolphe - Die Heiligung in der Wahrheit.
(1828.)
Joh. 17,17.
„Heilige sie in deiner Wahrheit.“ Diese Bitte unsers Heilandes, die ein Teil seines hohenpriesterlichen Gebetes ist, schließt folgenden Satz in sich, den ich vor euch zu entwickeln gedenke: Man kann nur durch die Erkenntnis der Wahrheit geheiligt werden.
Wir wollen damit anfangen, die einzelnen Ausdrücke dieses Satzes deutlich zu erklären. Geheiligt werden heißt lernen Gott zu lieben, und indem man ihn liebt, zu wollen, was er will. Vergesst also nicht, dass die Heiligung Gott vor Augen hat, und dass ein Mensch nicht geheiligt ist, weil er seine gesellschaftlichen Pflichten erfüllt, weil er kein Mörder, kein Räuber, kein Lügner ist, oder weil er ein treuer Gatte, ein zärtlicher Vater, ein guter Bürger ist. Ein solcher Mensch kann rechtschaffen, ja sogar tugendhaft sein, aber er ist nicht geheiligt, wenn nicht Gott der Hauptgegenstand seiner Liebe und der Wille Gottes der Grund seines Wandels ist.
Die Wahrheit ist die Erkenntnis des Wahren, ein klarer Begriff von irgend einem Gegenstand. Die politische Wahrheit ist ein klarer Begriff von dem, worin eine gute Regierung besteht. Die literarische Wahrheit ist ein klarer Begriff von dem, was ein gut geschriebenes Buch, eine beredte Rede ausmacht. Die wissenschaftliche Wahrheit ist ein klarer Begriff von den Grundsätzen der Wissenschaften und von ihren Anwendungen. Die religiöse Wahrheit (die heilige Schrift nennt sie in meinem Text „die Wahrheit aus Gott“ und sonst allein „die Wahrheit“) ist ein klarer Begriff von Gott und seinem Wesen oder um mich eines durch den Gebrauch geheiligten Ausdrucks zu bedienen: die religiöse Wahrheit ist eine reine Glaubenslehre.
Es wolle niemand an diesem Ausdruck Lehre Anstoß nehmen, der in unseren Tagen in eine Art Missachtung gefallen ist, als bezeichnete er notwendig etwas abstraktes, überschwängliches, abergläubisches. Eine Lehre ist nur eine Sammlung von Lehrsätzen, und ein Lehrsatz ist nichts als ein Glaube. Ihr glaubt, dass die monarchische Regierung besser als die republikanische ist oder umgekehrt: das ist ein politischer Lehrsatz. Ihr glaubt, dass man beim Schaffen dramatischer Werke die Regeln des Aristoteles beobachten müsse, oder ihr glaubt, es sei besser, sie nicht anzuwenden: das ist ein literarischer Lehrsatz. Ihr glaubt, dass das astronomische System des Copernicus dasjenige sei, das der Wahrheit am nächsten komme, oder ihr nehmt ein anderes an, so ist das ein wissenschaftlicher Lehrsatz. Ihr glaubt, dass es einen Gott gibt, und dass die Seele nicht mit dem Körper stirbt, so sind das religiöse Lehrsätze. Die Zusammenstellung eurer politischen Lehrsätze bildet eure politische Lehre; die eurer literarischen eure literarische Lehre; die eurer wissenschaftlichen eure wissenschaftliche Lehre, und die Zusammenfassung eurer religiösen Lehrsätze bildet eure Glaubenslehre.
Ihr werdet nach diesen Erklärungen ohne Mühe den in den Worten meines Textes enthaltenen Sinn verstehen, der sich so ausdrücken lässt: Man kann nur auf Grund der rechten Glaubenslehre geheiligt werden.
So spricht die Welt nicht. Da hört man alle Tage sagen: was am wichtigsten ist, ist nicht der Glaube, sondern die Redlichkeit; Rechtschaffenheit ist alles; ein unwillkürlicher Irrtum schadet nicht; man kann bei jedem Glauben einen guten Lebenswandel führen, denn ein sittliches Leben ist weder an diesen noch an jenen Glauben gebunden. Da aber die Leute, die so sprechen, dennoch eingestehen müssen, dass nicht jeder Glaube wahr ist1), so kommen ihre Grundsätze auf diesen zurück: es sei nicht nötig, dass man die reine Glaubenslehre besitze, um geheiligt zu werden. Ihr seht, dass dieser Grundsatz den geraden Gegensatz zu meinem Text bildet, und dass ich ihn zuerst umstoßen muss, um dann den Grundsatz Jesu Christi festzustellen.
Fragt ihr nun die Anhänger des Grundsatzes, den ich bekämpfe, worauf sie sich stützen, so werden sie euch antworten: Wir können es nicht mit der Gerechtigkeit Gottes vereinigen, dass die reine Glaubenslehre zur Heiligung notwendig sein soll, denn daraus würde ja folgen, dass alle Menschen, die keine Gelegenheit haben, dieselbe kennen zu lernen (und es gibt deren eine große Menge), nicht geheiligt werden, folglich auch nicht in den Stand der Seligkeit kommen können. Dieser Schluss erscheint beim ersten Anblick bündig, dringt ihr aber tiefer hinein, so werdet ihr seine Schwäche erkennen. Ihr sagt, dass man diese Meinung nicht mit Gottes Gerechtigkeit in Einklang bringen könne: ihr wollt sagen, dass ihr es nicht könnt. Aber glaubt ihr denn, dass alles, was ihr nicht könnt, unmöglich, dass alles, was ihr nicht vereinigen könnt, unvereinbar sei? Was würdet ihr von einem Mathematiker halten, der ein Problem für unauflösbar erklärt, weil er es nicht auflösen kann? oder von einem Ausleger, der, weil er einen Text nicht zu erklären im Stande ist, ihn für unerklärbar ausgibt? Ihr würdet ihre Anmaßung belächeln, welche sie anzunehmen hinderte, dass es auf Erden noch geschicktere Leute gebe als sie. Was anders würdet ihr nun von euch selbst sagen, wolltet ihr glauben, dass Gott das nicht vereinen könne, was euch unvereinbar erscheint; dass eine Maßregel seiner Gerechtigkeit gemäß sein könne, wenn sie auch der euren nicht gemäß ist; dass eine Sache, die nicht wahrscheinlich ist, doch wahr sein könne2)? Um genau zu erkennen, wie sehr wir dieser Art von Schlussfolgerung zu misstrauen haben, wollen wir versuchen, einige andere Anwendungen davon zu machen. Ich stelle gewiss eine sehr wahrscheinliche Behauptung auf, wenn ich sage: es ist unmöglich, dass ein Mensch seinen Bruder, der sich sein ganzes Leben lang sanft, weise und tugendhaft gezeigt hat, ermordet habe; und doch ist sie nicht wahr, denn sie hat die Geschichte gegen sich, die uns erzählt, dass Timoleon3) seinen Bruder erdolchen ließ. Eine andere gewiss sehr wahrscheinliche Behauptung: es ist unmöglich, dass ein barmherziger Gott Krieg und Zerstörung befiehlt; und doch ist auch diese Behauptung nicht wahr, weil sie die heilige Schrift gegen sich hat, die uns erzählt, dass Gott den Israeliten befahl, die Kanaaniter auszurotten. Oder: es ist unmöglich, dass unter der Regierung eines gerechten Gottes die Kinder für die Fehler ihrer Väter büßen müssen; und doch ist es nicht wahr, weil es die Erfahrung gegen sich hat, die uns belehrt, dass von einem lasterhaften Vater nicht nur oft die bitteren Folgen seiner Laster auf seine Kinder übergehen, sondern auch seine sündlichen Neigungen. Lasst uns denn bedenken, dass wenn diese Weise zu urteilen so oft täuscht, sie uns auch in der besonderen Anwendung auf den Gegenstand, womit wir uns beschäftigen, täuschen kann: dass der Grundsatz der Welt, der reine Glaube sei nicht durchaus notwendig zur Heiligung, wie wahrscheinlich er uns auch dünken mag, möglicher Weise doch unwahr sein kann; dass die Beweisführung, die man zu seinen Gunsten von der göttlichen Gerechtigkeit herzunehmen gedenkt, ohne Kraft ist und nicht stichhaltig vor den Beweisen der Wahrheit, nicht der Wahrscheinlichkeit, der Tatsachen, nicht der Mutmaßungen, worauf sich der Grundsatz Jesu Christi stützt, wie ihr es sehen werdet.
Ich könnte ihn unerschütterlich auf die Autorität der Bibel stützen. Er ist, wie gesagt, in meinem Text enthalten, wo Jesus Christus um die Heiligung seiner Apostel betet mit den Worten: „Heilige sie in deiner Wahrheit!“ Denn er gibt uns dadurch zu verstehen, dass Gott nur durch die Erkenntnis der Wahrheit heiligt. Die Bibel erklärt dieselbe Sache an tausend andern Stellen4). Sie versichert, dass uns, der Sünde Knechte, nur die Wahrheit, wenn wir sie erkennen, frei machen wird„5). Sie verwechselt in ihrer Sprache überall die Heiligkeit mit dem Licht und die Verderbtheit mit der Finsternis. Gleiche Verwechslung erscheint vorzüglich bei den Wörtern Irrtum und Sünde, die nicht nur für einander gesetzt werden, sondern die auch in der Ursprache dieselbe Bedeutung: Verirrung haben. Endlich was in genauester Beziehung zu meinem Gegenstand steht: das neue Testament bestätigt oder setzt überall voraus, dass der Mensch nur durch den Glauben geheiligt werde, der die Wahrheit ist, erwachsen aus dem Worte Gottes6). Indessen wenn es möglich wäre, so möchte ich gern auch die, welche sich der Autorität der Bibel nicht unterwerfen, davon überzeugen, dass die Philosophie und der gesunde Menschenverstand mit der Bibel darin im Einklang stehen, dass sie die Heiligung von einer reinen Lehre abhängig machen.
Nämlich zuvörderst, wie es zur Hervorbringung eines gewissen Baumes eines gewissen Samens bedarf, so bedarf es zur Erlangung einer gewissen Gesinnung, z. B. der Heiligung, einer gewissen Lehre. Denn wie die Lehre, so ist auch die Gesinnung; wie der Glaube, so der Charakter; wie die Grundsätze des Verstandes, so die Gefühle des Herzens.
Meine Worte setzen euch durch ihre Neuheit in Erstaunen, weil ihr im Gegenteil zu hören gewohnt seid, dass man nicht immer seinen Grundsätzen gemäß handle; dass der Glaube eines Menschen etwas anderes sei als seine Sittlichkeit; dass man oft Menschen sehe von rechtem Glauben, aber schlechten Sitten und andere von schlechtem Glauben und guten Sitten. Allein ein wenig Nachdenken reicht für uns hin zu der Erkenntnis, dass solche Behauptungen unhaltbar sind. Ein Mensch, der anders ist in seinen Ansichten als in seinen Sitten, anders in seinem Glauben als in seinem Charakter, wie reimt sich das vor unserem Verstand? Gibt es etwas Unphilosophischeres, etwas Unvernünftigeres, als einen Menschen so in zwei Teile zu trennen, ihn gleichsam zu zerreißen und zu behaupten, der eine Teil sei gut, der andere schlecht, als gehörten sie zwei verschiedenen Individuen an? Meine Ansichten so gut wie meine Sitten, mein Glaube so gut wie mein Charakter, bin das nicht immer ich selbst? Glaubt man etwa, weil die menschliche Sprache meinem Wesen verschiedene Benennungen gibt, je nachdem sie es von verschiedenen Gesichtspunkten ansieht, sie mache daraus so viele verschiedene abgelöste Teile, als sie ihnen verschiedene Namen gibt? Lasst uns, um die Unmöglichkeit einer solchen Spaltung zu beweisen, einen Augenblick denken, sie sei verwirklicht, und ihr werdet an der ungereimten Folgerung, zu der das führt, erkennen, wie falsch die Voraussetzung war. Denkt euch also einen Menschen, der in seinen Ansichten anders ist, als in seinen Sitten, der nicht seinem Glauben gemäß handelt. Er glaubt z. B. an ein ewiges Gericht, aber handelt, als würde er nie gerichtet werden. Er glaubt an eine andere Welt, lebt aber nur für diese. Er glaubt, es gebe kein anderes Heil als in Jesus Christus, aber er bleibt ihm ferne. Er glaubt, man könne durch das Gebet die köstlichsten Gnadenbezeugungen erhalten, aber er betet nicht. Was müssen wir von einem solchen Menschen denken? Wir müssen denken, dass er ein Gut sieht und es nicht wünscht; dass er eine Gefahr sieht und sie nicht fürchtet; dass er absichtlich gegen seinen eigenen erkannten Vorteil handelt; dass er sich selbst hasst; dass er sich nicht darum kümmert, glücklich zu werden. Das ist ungereimt. Wenn es eine einleuchtende Sache, einen zu allen Zeiten und von allen Geistern anerkannten Grundsatz gibt, so ist es dieser, dass der Mensch durch ein Gesetz seiner Natur gezwungen wird, sein Glück zu suchen; dass, was einen Menschen von einem andern unterscheidet, nicht darin besteht, dass der eine sein Glück wünscht, der andere sich um das seinige nicht kümmert, sondern nur darin, dass sie es auf verschiedenen Wegen suchen: der Tugendhafte sucht es in der Tugend, der Lasterhafte im Laster, der Christ im Christentum und das Weltkind in der Welt. Der Lasterhafte wäre nicht lasterhaft, wenn er nicht dächte, es sei besser, seinen bösen Neigungen zu folgen, als sie zu besiegen; der Tugendhafte könnte nicht tugendhaft sein, wenn er nicht glaubte, dass es besser sei, seine Neigungen zu bekämpfen, als ihnen nachzuhängen. Das Weltkind würde kein Weltkind sein, glaubte es nicht, es sei vorteilhafter, auf sich und die Welt zu hören, als ihnen zu entsagen; und der Christ könnte kein Christ sein, wenn er nicht glaubte, dadurch, dass er heute seinen Willen zum Opfer bringe, werde derselbe später erfüllt werden, und wer sein Leben auf dieser Welt hasse, der werde es erhalten zum ewigen Leben.“7).
So ist der Mensch. Wir müssen also eingestehen, dass, wenn ihr einen Menschen euch vorstellt, der anders in seinen Ansichten als in seinen Sitten sei, und der, wie wir von da aus geschlossen haben, sich nicht darum kümmere, glücklich zu sein, dieses kein Mensch ist, sondern ein Wesen der Einbildung, und dass eure Voraussetzung ein Hirngespinst war. Begegnet uns aber ein Mensch, in dem es verwirklicht zu sein scheint, so können wir sicher annehmen, dass uns der Schein trügt: dieser Mensch hat eine Handlungsweise, die nicht den Ansichten entgegengesetzt ist, welche er wirklich hegt, sondern nur denen, die er zu hegen vorgibt; er handelt nicht gegen die Grundsätze, die er in der Seele hat, sondern gegen die Grundsätze, die er im Munde führt; und diese können sehr von einander abweichen, sei es nun, dass er wissentlich andere, sei es, dass er sich selbst ohne sein Wissen damit täuscht. Wie dem auch sein mag, ein Mensch ist nie ein zweifacher Mensch; er ist im Grunde immer mit sich selbst im Einklang; es ist immer eine notwendige und beständige Übereinstimmung zwischen seinem Verstand und seinem Willen. Wie ein Baum aus seinem Samen hervorgeht, so entstehen seine Neigungen, sein Charakter, seine Sitten aus seinen Meinungen, seinen Grundsätzen, aus einer diesen zu Grunde liegenden Lehre; und wie der Same eines Baumes der ganze Baum ist mit Stamm, Zweigen, Blättern, Blüten und Früchten in dem Sinn, dass er den Keim enthält, wovon dieses alles die Entwicklung ist, so ist die Überzeugung eines Menschen, oder die Lehre, der er folgt, dieser ganze Mensch samt seinen Gefühlen, Neigungen, Reden, Handlungen in dem Sinn, dass sie die Grundlage bildet, von der dies alles die Entfaltung ausmacht.
Sagt uns nun jemand dessen ungeachtet, dass er die Heiligung wünsche, ohne sich darum zu bekümmern, durch welche Lehre man zu ihr gelange, so ist es, als wenn er uns sagte, ich will in meinem Weinberg Trauben lesen, aber gleichgültig dabei wäre, ob man Disteln oder Reben dahinpflanze. Unverständiger: jede Frucht hat ihren bestimmten Baum: die Traube den Weinstock, die Feige den Feigenbaum; und jedes sittliche Verhalten beruht auf einer Lehre, das Laster wie die Tugend. Und so beruht auch die Heiligung auf einer Lehre, und eben diese wollen wir mit einander suchen.
Wo finden wir nun diese Lehre, welche die Heiligung hervorbringt? Mein Text antwortet: in der Wahrheit. Die einzige Lehre, die da heiligt, ist die wahre; ein Satz, der zufolge der Erklärung, die wir oben von der Heiligung (Liebe Gottes) und der Wahrheit (Erkenntnis Gottes) gegeben haben, mit folgenden Worten ausgedrückt werden kann: Man kann nur dadurch lernen, Gott zu lieben, dass man ihn erkennt, wie er ist.
Die bloße Aufstellung dieser Behauptung genügt fast zu ihrem Beweis. Die Liebe zu einem unvollkommenen Wesen steht nicht immer im Verhältnis zu der Erkenntnis, die wir von seinem Charakter haben. Im Gegenteil lieben wir oft eine Person weniger, weil wir sie besser kennen lernten, sei es nun, weil wir in ihr nicht alle erwarteten Eigenschaften fanden, sei es, weil wir bei ihr gewisse unerwartete Fehler entdeckten. Dieser Irrtum ist bei der Betrachtung des vollkommenen Wesens unmöglich. Gott besitzt im höchsten Grad alle Vortrefflichkeit ohne irgend einen Mangel; also weit entfernt, unsere Erwartungen zu täuschen, übertrifft er sie immer; mithin je näher wir ihn erkennen, desto liebenswerter erscheint er uns. Ihn erkennen heißt ihn lieben: jeder Fortschritt oder Rückschritt in seiner Erkenntnis ist ein Fort- oder Rückschritt in seiner Liebe; diese beiden Seiten sind in Beziehung auf Gott so unzertrennlich, wie in den Sonnenstrahlen das Licht und die Wärme.
Durch jeden richtigen Begriff von Gott wird somit die Liebe zu Gott vergrößert; die Heiligung also wird durch einen Zusammenhang richtiger Begriffe von Gott erlangt: eben durch die rechte Lehre, durch die Wahrheit. Durch jeden falschen Begriff von Gott wird im Gegenteil die Liebe zu Gott vermindert; die Heiligung also wird durch einen Zusammenhang falscher Begriffe von Gott, durch eine schlechte Lehre, durch den Irrtum verhindert.
Aber, mögt ihr denken, muss man nicht, wenn man die sittliche Wirkung der Wahrheit und des Irrtums würdigen will, darauf Rücksicht nehmen, wie sie in eine Seele gekommen sind? Soll man denn glauben, dass die Wahrheit heilige, o auch wenn sie ohne Forschung und persönliche Anstrengung, nur durch Erziehung und Beispiel, ohne Mühe und ohne Verdienst erkannt ist? Oder dass der Irrtum die Heiligung verhindere, selbst da, wo er unwillkürlich ist, und wo der, welchem er sich findet, ihn unbefangen mit der Wahrheit verwechselt? Lasst mich auf diese Frage mit einer andern Frage gleicher Art antworten. Muss man, um zu wissen, welche Pflanze aus dem Samen des Korns, welche aus dem Samen des Unkrauts entstehen wird, erst untersuchen, wie sie auf ein Feld gekommen sind? Wird das Getreidekorn nicht Getreide hervorbringen, selbst wenn es nicht der Landmann vorsichtig auf den gewählten Platz in die Erde gelegt hat, sondern wenn es nur zufällig aus dem Schnabel eines Vogels, der durch die Lüfte flog, dahin gefallen ist? Wird der Unkrautsame nicht Unkraut hervorbringen, selbst wenn er unwillkürlich und von einer Hand gesät wäre, die ihn für Getreide hielt? Ohne Zweifel; woher der Same gekommen ist, das ändert seine Natur nicht; er kann immer nur die Pflanze hervorbringen, deren Keim er in sich trägt. Das Getreide, sei es nun mit oder ohne Absicht gesät, wird immer Getreide hervorbringen; und das Unkraut, willkürlich oder unwillkürlich gesät, wird immer nur Unkraut hervorbringen. Und so müssen wir denn, um zu wissen, was wir auf einem Feld ernten können, fragen, was man gesät hat, nicht was man hat säen wollen? Ebenso verhält es sich mit einer Lehre; woher sie gekommen ist, das ändert nichts an ihrer Natur. Eine Lehre kann überall nur dasjenige Verhalten aus sich entwickeln, dessen Keim sie in sich trägt. Die Wahrheit wird immer ihre selige Frucht; die Heiligung, tragen, mag sie mit vielem oder wenigem Verdienst erlangt sein; der Irrtum, mag er willkürlich oder unwillkürlich sein, wird immer seine traurige Frucht bringen: die Verhinderung der Heiligung. Wollen wir also den sittlichen Zustand einer Seele würdigen, so müssen wir nicht fragen: auf welchem Weg ist die Wahrheit oder der Irrtum zu ihr gelangt? sondern hat die Wahrheit oder der Irrtum bei ihr Wohnung gemacht?
Damit sage ich nun nicht, das der redliche Wille zu nichts gut sei. Er dient nicht zur Heiligung: wohl aber dazu, uns zur Wahrheit zu führen, die uns heiligen wird. Der redliche Wille des Sämanns, das heißt seine Absicht, nur Getreide auf seinen Acker zu säen, ist wertvoll; denn wenn derselbe auch nicht bewirken kann, dass er Getreide erntet, wo er Unkraut säte, so bringt er ihn doch dahin, dass er alle möglichen Vorsichtsmaßregeln trifft, um nur Getreide zu säen und das Unkraut zu verwerfen. Auch bei dem Menschen, der die Heiligung wünscht, ist der redliche Wille, das heißt seine Absicht, die Wahrheit zu erkennen, von Wert; denn wenn derselbe auch nicht bewirken kann, dass der Mensch in seinem Irrtum geheiligt werde, so bringt er ihn doch dahin, dass er alle möglichen Vorsichtsmaßregeln ergreift, die Wahrheit zu erkennen und den Irrtum zu vermeiden. Und diese Vorsichtsmaßregeln gehen keineswegs verloren, denn Gott hat verheißen, dass wer da sucht, finden wird. Wohl denn dem Menschen, der redlichen Willen hat, nicht aber, weil dieser ihn heiligt, sondern weil er ein Weg zur Wahrheit ist, die da heiligt. Bedenkt es wohl, der redliche Wille ist nur ein Weg, er reicht nicht hin; er nützt nur dem, der es weiß, dass er ungenügend ist. Ein Mensch, der auf dem Weg zu einem gewissen Ziel ist, wird, wenn er sich überredet, es reiche hin, dass er auf dem Weg sei, sich auf dem Weg aufhalten, nie ans Ziel gelangen und so seines ganzen Vorteils verlustig gehen, den er vor dem voraus hatte, der den Weg gar nicht betreten hatte. Ebenso wird der Mensch, der auf dem Weg zur Wahrheit begriffen ist, wenn er sich überredet, sein redlicher Wille sei genügend, es dabei bewenden lassen, nicht zur Wahrheit gelangen und so seinen Vorteil über den verlieren, der nicht einmal redlich will. Nein, nein! es genügt nicht, dass wir auf dem Weg sind: wir müssen auch das Ziel erreichen; es genügt nicht, redlichen Willens zu sein: man muss in der Wahrheit sein!
Wenn ich so spreche, will ich nicht den willkürlichen Irrtum mit dem unwillkürlichen vermischen. Ich weiß sehr wohl, dass es ein anderes Ding ist, nicht Gelegenheit gehabt zu haben zur Erkenntnis der Wahrheit, ein anderes, die Wahrheit zurückzustoßen, die man Gelegenheit gehabt hat kennen zu lernen; und ich verkenne nicht, dass Kapernaum, welches des Heilandes Wunder gesehen hat, strenger gerichtet werden wird, als Sodom, welches dieselben nicht gesehen hat. Aber wie diese Städte beide verdammt werden, obgleich nicht beide mit gleicher Strenge, so sind auch der willkürliche und der unwillkürliche Irrtum beide unheilbringend, obgleich sie es nicht im selben Grad sind. Der Irrtum, mag er noch so unwillkürlich sein, verhindert immer die Heiligung. Dieser Satz scheint mir so klar durch das Vorhergehende erwiesen zu sein, dass man sicher nicht umhin kann, ihn als Tatsache anzuerkennen, selbst wenn man ihn nicht im Grundsatz begriffe. Übrigens haben wir ihm auch nichts als unsere natürlichen Vorstellungen über Würdigkeit und Unwürdigkeit entgegenzusetzen, das heißt ein blindes Vorurteil, welches durch das eine Wort des Evangeliums, dass durchaus keine Würdigkeit in irgend einem Menschen sei, zu Boden geworfen wird. Auf diese so ganz unhaltbare Grundlage stützt die Welt ihren Lieblingsgrundsatz: das redliche Streben sei alles, und ein Irrtum könne, wenn er unwillkürlich sei, nicht schaden. Dieser Grundsatz verführt anfänglich durch den Anschein von Sittlichkeit und Gerechtigkeit, aber bald erkennt man unter dem schönen Äußern eine gänzliche Gleichgültigkeit gegen alles Heilige und Wahre. Man braucht nur seine Früchte anzusehen: es ist jene Trägheit, die stehen bleibt, wo sie steht, weil sie einmal da steht; es ist jener Unglauben, welcher nicht nur selbst keine Gewissheit besitzt, sondern dieselbe auch nicht bei andern findet, ohne sie des Hochmuts zu zeihen; es ist jene hochgerühmte Duldsamkeit, die alles duldet, nur nicht die Wahrheit. Möchten doch diese Früchte mit dem Baum verderben! möchte jedermann erkennen, dass es nicht auf den redlichen Willen, sondern auf die Wahrheit ankommt, um geheiligt zu werden!
Sind diese Beweise noch nicht hinreichend, euch zu überzeugen, dass wir nur durch die Wahrheit geheiligt werden können, so fragt die Erfahrung. Die Geschichte zeigt euch, dass das sittlich Gute immer eine Frucht der Wahrheit und das sittlich Schlechte eine Frucht des Irrtums ist. Was veranlasste Adam im Anfang Gottes Wort zu achten? die Wahrheit: denn er wusste, dass welches Tages er von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen essen würde, er aufhören würde, von dem des Lebens zu essen, und dem Tod anheim fallen müsse. Was veranlasste Adam später, dies selbe Verbot zu übertreten? der Irrtum: er hatte sich von der Schlange überreden lassen, er würde mitnichten sterben, sondern seine Augen würden aufgetan werden, und er würde sein wie Gott8).- Was brachte Noah dazu, dass er sich eine Arche baute, als die Erde noch trocken war, dass er der erste war, der auf dem ersten Schiff den Winden und den Wellen Trotz bot? die Wahrheit: er wusste, dass derselbe Gott, der ihm den Bau der Arche befohlen hatte, den Boden, den der Mensch mit Füßen trat, überschwemmen werde, und dass er ihn eben so leicht auf dem Wasser als auf der Erde behüten könne9).
Was brachte dagegen Noahs Zeitgenossen dazu, in ihrem Unglauben zu verharren? der Irrtum: sie glaubten nicht, dass Gott zürne, dass er durch den Mund Noahs zu ihnen rede, und dass die Sintflut kommen werde10). Was vermochte Abraham, die Hand an seinen Sohn Isaak zu legen, in welchem Gott ihm ein ewig gesegnetes Geschlecht verheißen hatte? die Wahrheit: er wusste, Gott könne auch wohl von den Toten erwecken11); und er werde seine Verheißung nicht brechen. Was bewog Hagar, an dem Leben Ismaels zu verzweifeln, in welchem ihr Gott eine zahlreiche Nachkommenschaft verheißen hatte? der Irrtum: sie kannte Gottes Treue nicht, und ihre Augen wurden gehalten, dass sie den Wasserbrunnen neben sich, der ihrem Kind das Leben retten sollte, nicht sah12). Was trieb Moses und die Israeliten, dass sie kühn sich mitten ins Meer begaben, um dem Befehl Gottes zu gehorchen: „Sage den Kindern Israel, dass sie ziehen“? die Wahrheit: sie wussten, dass das Wasser durch Gottes Macht aufgehalten, einen Weg zu eröffnen, zur Rechten und Linken eine Mauer bilden und sich erst nach ihrem Durchgang wieder schließen werde13). Was veranlasste Pharao und sein Heer, die Israeliten gegen Gottes ausdrückliches Gebot: „Lass mein Volk, dass sie mir dienen“, bis ins Meer zu verfolgen? der Irrtum: sie dachten nicht, dass das Wasser sich nur für das Volk Gottes geöffnet habe, dass es nur den letzten Schritt des letzten Israeliten abwartete, um auf seinen Platz zurückzukehren und die Verfolger zu verschlingen14). - Was bewog die Apostel, vor ganz Jerusalem das mutige Zeugnis, das mehrere mit ihrem Tod versiegelten, abzulegen? die Wahrheit: sie hatten geglaubt und erkannt, dass Jesus sei Christus, des lebendigen Gottes Sohn, und sie konnten nicht umhin zu bekennen, was sie gesehen und gehöret hatten15). Was brachte die Juden und ihre Oberen dazu, dass sie den König der Ehren kreuzigten? der Irrtum: sie erkannten in dem demütigen Sohne der Maria nicht den Messias, den sie erwarteten als Herrscher über ihr Volk; sie begriffen nicht, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei; sie wussten nicht, was sie taten, als sie ihn kreuzigten, noch wussten sie, was sie sagten, als sie riefen: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“16). -
Was veranlasst einen Christen, Gott zu lieben und sich seinem Dienst zu weihen? die Wahrheit: er weiß, dass „Gott ihn zuerst geliebt hat“; dass er sich uns in seinem Sohn gegeben hat, und dass nur für diejenigen, die hier ihrem eigenen Willen entsagen, Heil in jenem und Friede in diesem Leben zu finden ist. Was verleitet ein Weltkind, in der Gleichgültigkeit und in der Sünde zu verharren? der Irrtum: es glaubt nicht, dass Gott sich ihm in seinem Sohn gegeben hat; es glaubt, dass Gott ein harter Herr und sein Joch schwer ist. -
Was soll ich noch mehr sagen? Jede gute Handlung ist die Anwendung eines wahren Lehrsatzes, und jedes gute Leben ist die Anwendung einer guten Lehre; im Gegenteil ist jede schlechte Handlung die Anwendung eines falschen Lehrsatzes und jedes schlechte Leben die Anwendung einer falschen Lehre. Und so muss man denn entweder die Bibel, die Philosophie, die Erfahrung der Reihe nach verwerfen, oder man muss es anerkennen, dass niemand geheiligt werden kann, es sei denn durch eine reine religiöse Lehre, durch die Wahrheit.
Fühlt ihr nun, welchen Wert die Heiligkeit hat, so fühlt ihr auch, welchen Wert die Wahrheit besitzt. Denn so unmöglich das Heil ohne Heiligung ist, so unmöglich ist die Heiligung ohne Wahrheit. Entsagt darum auf immer dieser verderblichen Scheidung, die ihr zwischen Sittlichkeit und Lehre macht; hört auf, die eine auf Unkosten der andern zu achten; scheidet nicht, was Gott vereinigt hat; rühmt nicht die Frucht, um euch der Pflanzung des Baumes zu überheben. Habt ihr bis dahin nur das Christentum der Menge besessen, die es allein dem Namen nach hat; dies äußere Christentum, welches nur darin besteht, dass man in einer christlichen Kirche geboren und getauft ist, dass man in ihr das Abendmahl feiert, dass man dem öffentlichen Gottesdienst beiwohnt; dies äußere Christentum, welches euern Eltern, euern Predigern, den Mauern der Kirche, dem Wasser, Brot und Wein, kurz allem andern, nur nicht euch selbst angehört; - dies verschwommene Christentum, das nicht auf festen Grundsätzen ruht, das „nicht weiß, von wannen es kommt, noch wohin es fährt“17); das zu viel glaubt für einen Ungläubigen, zu wenig für einen Gläubigen; das von der einen Seite durch die Beweisgründe der Gottlosigkeit, von der andern durch die Beispiele des Glaubens erschüttert und eingeschüchtert wird; das durch ein Zugeständnis nach dem andern sich dahin bringen lässt, sich über nichts auszusprechen, nichts zu wählen, nichts zu verwerfen, das heißt nichts zu glauben; dies Christentum, das gegen die Vorschrift des Weisen im Prediger „auf die Wolken sieht“18); das sich nie entscheidet, sondern „sich wägen und wiegen lässt von allerlei Wind der Lehre;“19) welches niemals mit vollen Segeln dem Glauben zugesteuert hat: - wenn dies euer Christentum ist, ach dann ist es nicht die Wahrheit; die trägt ein so untrügliches Kennzeichen ihrer göttlichen Sendung, dass sie sich niemals einer Seele bemächtigt, ohne zu ihr zu sprechen: ich bin es; ich bin die Wahrheit. Entgegnet mir nun nicht nach allem diesem, wenn ihr im Irrtum seid, dass euer Irrtum redlich ist; ich habe es schon gesagt und kann es nicht genug wiederholen: die Redlichkeit genügt nicht, es bedarf der Wahrheit. Ihr dürft euch nicht bei eurem Zweifel und eurer Ungewissheit beruhigen; ihr müsst ihnen entsagen, was es auch kosten möge. Ihr müsst suchen, arbeiten, lesen, fragen, beten; ihr müsst an alle Türen anklopfen und auf alle Weisen nachforschen: Was ist die Wahrheit?
Gewiss habt ihr schon mehr als einmal gefragt; es gibt Niemanden, der nicht den Wunsch hätte, die Wahrheit zu erkennen; ihr habt es gewünscht, aber ihr habt es nicht gewollt. Jene Frage entfuhr mehr eurem Mund, als sie euch aus dem Herzen drang. Ihr machtet es wie Pilatus, dem ich sie entlehnt habe: als der zu Jesus Christus gesagt hatte: „Was ist Wahrheit?“20) erhob er sich, ohne eine Antwort abzuwarten, oder wenigstens ohne sich um sie zu kümmern. Wiederholt denn ihr heute die Frage des Pilatus, aber nicht auf seine Art. Man merke es an eurem Ton, an euern Augen, an eurem ganzen Wesen, dass ihr aufrichtig, ernst und inständig fragt, dass ihr eine Antwort wünscht, erwartet, wollt. Wer ist Gott? Was will er? Wie muss ich sein, wenn ich ihm gefallen will? Wer bin ich? Was muss ich glauben? Was tun? Was ist die Bibel? Ist sie von Gott oder von Menschen? Spricht sie klar? Was sagt sie? Wie, wenn die Dinge, die ich bis heute als Mystizismus, als Torheit betrachtet habe, die einzigen Wahrheiten wären! Wenn die Glaubensfrage in der Tat eine Frage des ewigen Lebens wäre oder des ewigen Todes! Wenn man wirklich an Jesus Christus glauben, durch den heiligen Geist wieder geboren werden müsste! wenn man dies müsste oder auf ewig verderben! O wenn das alles wahr wäre, und ich hätte es mein ganzes Leben lang verkannt! Was ist Wahrheit?
Wenn ich nach einer Rede, in der wir den Wert der Wahrheit dem der Heiligung gleichgestellt haben, noch an eurem Eifer zweifeln könnte, euch diese Frage anzueignen, so brauchte ich, um euch eurer Gleichgültigkeit völlig zu entreißen, euch nur zu bitten, ihr möget einmal die Zeit betrachten, in der wir leben. Seht euch nach allen Seiten um, durchstreift mit. euerem Blick die Nähe, die Ferne, die ganze Erde; seht die Bewegung an, die sie in Unruhe versetzt: sie ist ein Kennzeichen unsers Jahrhunderts. Eine eben so erstaunliche als allgemeine Umwälzung arbeitet in den Geistern. Eine neue Wissbegierde regt sich nicht nur in den Individuen, sondern in ganzen Bevölkerungen und verbreitet sich rasch und kräftig über alle Zonen der Erde, in alle Schichten der Gesellschaft, in alle Zweige menschlicher Kenntnisse. Überall sucht und prüft man, verlangt Rechenschaft und will wissen. Der menschliche Geist ist von einem langen Schlaf erwacht, und der erste Ruf, der ihm entschlüpfte, lautet: Was ist Wahrheit? Was ist Wahrheit in der Literatur? und Regeln, die man lange Zeit wie Gesetze achtete, haben den Geist des Widerspruches erfahren: das Altertum, der Ruhm, die Vorbilder, alle Arten von Autorität werden angefochten; eine junge Schule ist entstanden, die sich ereifert, eine freiere Richtung zu eröffnen, und unermüdlich ist im Versuch, neue Wege einzuschlagen; so ist das friedliche Feld der schönen Künste in einen Kampfplatz verwandelt worden, wo selbst die Übergriffe der Streitenden ihren Eifer und die Aufrichtigkeit ihrer Ansichten bezeugen. Was ist Wahrheit in den Wissenschaften? Man hat in den Naturwissenschaften festere Grundlagen gesucht; hat neue Methoden gebildet, die von der Erfahrung ausgeben und sich auf die Beobachtung stützen; hat das Gewisse von dem Ungewissen getrennt, hat Beweise für Beweise und Mutmaßungen für Mutmaßungen ausgegeben; die Physik hat zu sprechen gelernt: ich begreife nicht, und die Astronomie: ich weiß nicht. Was ist Wahrheit in der Politik? Die Völker, die es müde waren, für nichts zu gelten, haben sich mit ihren Königen verständigt; die Könige haben von ihren Thronen herab dem Wie und Warum der Völker ein aufmerksames Ohr geliehen; die Ordnung und die Freiheit sind sich begegnet, und mit langsamen, aber unermüdlichen Schritten zusammen vorwärtsschreitend bietet die Freiheit der Ordnung die Hand, die Ordnung stützt die Freiheit.
So sucht Alles nach der Wahrheit: die Künste, die Wissenschaften, die Literatur, die Politik - alles geht einer Erneuerung entgegen; die ganze Erde ist in einer Bewegung begriffen, die Gott selbst angefacht zu haben scheint, und die seine Weisheit um einen so hohen Preis hergestellt hat, dass er um ihrer Entstehung willen die beklagenswertesten Verirrungen des menschlichen Geistes, um ihrer Befestigung und Verbreitung willen die furchtbarsten Umwälzungen zugelassen hat. Sollte denn die Religion allein still stehen? Freilich ist sie unzweifelhaft dieselbe in allen Zeiten; nichts ist ihr hinzuzufügen noch von ihr wegzunehmen; sie kann nicht wie die menschlichen Wissenschaften vervollkommnet werden. Aber sie kann mehr oder weniger erkannt, mehr oder weniger angeeignet werden, und die Geschichte zeigt uns, wie sie im Geist der Völker und im Geist der Einzelnen entsteht und untergeht. Ja, gerade um der Religion willen, einzig um ihretwillen ist jenes alles geschehen. Hat Gott nicht erklärt, dass er sie hält für „das eine, was Not ist“21), und dem er alles andere unterordnet? Wenn er nun alles bewegt hat, geschah es nicht, um am Ende eben sie zu bewegen, die letzte nach der Zeitfolge, aber die erste nach seiner Vorsehung? Ja der menschliche Geist hat höher hinaufgeschaut; er ist nicht zufrieden, etwas über sichtbare Dinge zu wissen, sondern er hat sich über die unsichtbaren Dinge unterrichtet und vor allem andern über die Frage aller Fragen: „Was ist Wahrheit?“ Sie hat allenthalben ein Echo gefunden. Was ist Wahrheit? fragt der wilde Neuseeländer und der entartete Otahaitier, überdrüssig seiner Rohheiten und Mordtaten. Was ist Wahrheit? fragt am andern Weltende der stolze Perser und der schweifende Araber, nicht weniger überdrüssig seiner Sinnlichkeit und Unwissenheit. Was ist Wahrheit? fragt neben uns der Bewohner des alten Europa, überdrüssiger als alle seines Glaubens ohne Glauben, seines Christentums ohne Christentum. Der Mahomedaner zweifelt an Mahomet, der Bramine an Brama, der Parse an Zoroaster; und in unserer Mitte zweifelt der Christ, der Protestant, der das Wasser der Taufe empfangen hat und die Symbole des Opfers Christi, er zweifelt, ob er bis zum heutigen Tag etwas anderes vom Christentum besessen hat, als den Namen. Ja, ich sage nicht genug, wenn ich behaupte, dass diese Frage ein Echo gefunden habe, sie hat eine Antwort gefunden. Sie hat die Gestalt der Welt verwandelt. Sie hat eine neue Zeit geschaffen, die der Zeit Luthers den ersten Rang nach der Zeit Jesu Christi streitig macht. Sie hat jenes biblische Werk gegründet, von dem so viele Prophezeiungen sprechen22), bei dem man den Reichen sich beteiligen sieht mit seinem Vermögen, den Handwerker mit seiner Arbeit, den Armen mit seiner Notdurft, den Gelehrten mit seiner Wissenschaft, den Staatsmann mit seinem Einfluss, die Herrscher mit ihrem Ansehen, ganze Länder mit ihrer Macht, ihrem Reichtum und ihrem Namen. Sie hat neue Apostel geschaffen; die haben alles verlassen, Familie, Neigungen, Ruhm und Vaterland; sie haben ihre Zeit, ihre Gesundheit, ihren Schweiß und ihr Blut hingegeben, um Fremden und Unbekannten das Licht zu bringen. Ich habe gesehen, wie sich der junge Missionar unter Tränen den Armen seiner Mutter entriss; ich habe das Opfer gesehen, welches allein das seine noch zu überbieten vermochte: ich habe seine Mutter gesehen, die, ein zweiter Abraham, ihren Sohn, da er einen Augenblick schwankend war, unter Tränen stützte und zur Entfernung ermutigte. Ach, kurze Zeit nachher sah ich dieselbe Mutter, wie sie über den Tod ihres Sohnes weinte; über seinen Tod, nicht über seinem Grab. Hat er ein Grab, so sucht es am Ufer des Ganges; vielleicht haben sich einige gläubige Inder gefunden, die ihm eins gruben, um seinem Körper die Sorgfalt zu erstatten, welche er ihrer Seele gewidmet hatte. Sein Grab netzten weder die mütterlichen Tränen, noch der Tau des heimischen Himmels. Vor dem Namen des fremden Märtyrers fließt vielleicht ein Wasser ohne Andenken und ohne Teilnahme gleichgültig vorüber, und die Ruhe des Todes mag nur dann und wann von den Gebräuchen jenes sinnlosen und blutdürstigen Gottesdienstes unterbrochen werden, für dessen Zerstörung er sein Leben hingab.
Wie? wollten nun wir bei dieser Bewegung nur teilnahmslose Zuschauer bleiben? Könnten wir uns dagegen wehren, von dieser allgemeinen Begeisterung hingerissen zu werden? Wo ist ein so finsterer Geist, wo eine so kalte Einbildungskraft, wo ein so träges Herz, das von einer Frage nicht ergriffen würde, welche das ganze menschliche Geschlecht bewegt? Ach, sind wir bis heute so gewesen, so wollen wir es nicht mehr bleiben. Die Zeit der Gleichgültigkeit müsse vergangen sein, vergangen um nicht zurückzukehren. Wir wollen wissen, ob die Bibel von Gott ist; und ist sie von ihm, so wollen wir wissen, was sie uns von ihm sagt. Wir wollen suchen, arbeiten, fragen, lesen, beten; wir wollen uns keine Ruhe gönnen, bis wir im Glauben fest geworden sind, bis wir die Wahrheit gefunden haben.