Monod, Adolphe - Der allmächtige Glaube.
Matth. 15,21-28.
„Und Jesus ging aus von dannen und entwich in die Gegend Tyrus und Sidon. Und siehe, ein kananäisches Weib ging aus derselbigen Grenze und schrie ihm nach und sprach: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner; meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt! Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten zu ihm seine Jünger, baten ihn und sprachen: Lass sie doch von dir, denn sie schreiet uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nicht gesandt, denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Haus Israel. Sie kam aber und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht fein, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr, aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tisch fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: O Weib, Dein Glaube ist groß! dir geschehe, wie du willst. Und ihre Tochter ward gesund zu derselbigen Stunde.“
Es gibt einen Glauben, der den Menschen stärker macht als Gott. Dies würde ein kühnes Wort sein, hätten wir es nicht von Gott selbst gelernt, der zu Jakob spricht: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel1). Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen“2). Wir finden in unserer Kananitin ein vollendetes Vorbild dieses Glaubens, und wenn sie von Geburt nicht aus Israel ist, so ist sie es doch durch ihre Gesinnung. Sehen wir doch in unserm Text, wie sich ein heftiger Kampf zwischen ihr und dem Herrn entspinnt, aus dem sie „mehr als siegreich“ hervorgeht. Wir wollen dem Verlauf dieses Kampfes folgen, und wenige Bibelverse werden uns besser über die Macht des Glaubens belehren, als dies die ausführlichste Abhandlung vermöchte.
Wir wollen uns vor allem Rechenschaft geben über die Stellung dieser Frau und das Benehmen unsers Herrn gegen sie.
Es ist unzweifelhaft, dass die Kananitin an Jesus Christus vor der erzählten Begebenheit geglaubt hat. Es ist aber wichtig zu fragen: wie sie zu diesem Glauben gekommen ist; denn man erkennt schon in ihrer Bekehrung eine Seelenstärke, die alle Hindernisse besiegt, und durch einen solchen Anfang wird alles darauf Folgende erklärt. Ihr Name zeigt uns, dass sie eine Heidin war; auch teilte sie nicht mit andern Heiden, die sich zum Herrn bekehrten, mit Zachäus und dem Hauptmann, das Vorrecht mitten unter den Juden zu wohnen. Also fern vom Herrn, von seinen Jüngern und von allen Vorzügen Israels hatte sie das Wort Gottes nur durch verstohlene Mittheilungen, die sich mitten durch die Vorurteile der Juden zu ihr Bahn gebrochen hatten, und durch das dunkle Gerücht von den Reden und den Wundern des Herrn, die er unter seinem Volk oder zu Gunsten einzelner Fremden verrichtet hatte, kennen lernen können. Gleich viel! dieser schwache, verlorene Lichtstrahl war hinreichend gewesen, sie zum Glauben zu führen, - und zu welchem Glauben! während die Menge der Juden ihre Augen vor den Strömen von Licht verschloss, mit denen sie das Fleisch gewordene Wort Gottes überschüttete. So wahr ist es, dass unser Heil mehr von unsrer Stimmung als von unsrer Stellung abhängt. Abraham, Rahab, Naeman glauben; Kaiphas, Judas, Demas verhärten ihr Herz oder wenden sich ab. Und wir, meine lieben Freunde, wir gehören zu denen, die viel Licht erhalten haben; gehören wir auch zu denen, die vielen Glauben haben? Ach, sollte sich jemand von euch beklagen, dass er zu wenig Hilfsmittel oder Beweise habe, um zu glauben, so werden nicht nur Petrus und Paulus am jüngsten Tage Zeugnis gegen ihn ablegen, sondern auch die Kananitin. Ihr könnt nicht glauben, weil ihr nicht glauben wollt, und eben dies wird euch verdammen.
Das Verhalten des Herrn gegen die Kananitin steht in genauem Zusammenhange mit seiner Handlungsweise gegen die Heiden überhaupt, sowie mit den besonderen Absichten seiner Barmherzigkeit in Betreff dieser Frau.
Jesus war für die Heiden gekommen in dem Sinn, dass sich seine Lehre und sein Reich über alle Völker der Erde verbreiten sollte. Für Israel aber war er in dem Sinn gekommen, dass er seine persönliche Wirksamkeit nur in dem Umkreise Judas ausüben sollte; seinen Jüngern war das Überschreiten dieser Grenzen vorbehalten, doch sollte dies erst geschehen, nachdem er die Erde verlassen hätte. So erklärt sich jene doppelte Miene und gleichsam zweifache Außenseite im Benehmen des Herrn gegen die Heiden, die so weit geht, dass, wenn man sich von dieser Verschiedenheit nicht Rechenschaft ablegte, man glauben könnte, eine Art von Widerspruch darin zu erblicken. Treu seiner besonderen Sendung versieht Jesus sein Amt nur in seinem Vaterland und befiehlt seinen Jüngern, ebenso zu tun, so lange er unter ihnen ist. „Diese Zwölf sandte Jesus, gebot ihnen und sprach: geht nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte“3). Dennoch lässt er von Zeit zu Zeit wie im Vorübergehen die Gaben seiner Gnade auf die Heiden fallen, die sich auf seinem Weg finden, und die durch ihren Glauben dem Volk Gottes angehören; dadurch erweckt er ein Vorgefühl von dem, was er eines Tages tun wird, verbessert sanft die Vorurteile seiner Jünger und gewöhnt sie allmählich an die ihnen so unglaubliche Lehre von der Berufung der Heiden: „Aber ich sage euch: Viele werden kommen vom Morgen und vom Abend und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich sitzen“4).
Können uns aber diese Erwägungen genügen, um uns das Betragen des Herrn gegen die Kananitin zu erklären? Behandelt er sie nicht mit einer Strenge, mit einer anscheinenden Härte, die er weder dem Hauptmann, noch Zachäus, noch irgend einem andern von denen gezeigt hat, die Hilfe bei ihm gesucht haben? scheint er nicht um ihretwillen aus seiner Sanftmütigkeit, aus seiner unerschöpflichen Geduld herauszutreten, die den Grundzug seines Charakters bilden? Lasst uns die Sache genauer ansehen, meine Freunde, lasst uns vor allen Dingen das betrachten, was Jakobus „das Ende des Herrn“5) nennt, und wir werden ganz anders darüber urteilen. Jesus gibt sich ein solch unerbittliches Ansehen, damit seine Barmherzigkeit umso heller hervorleuchte; die Rettung, die er zuletzt der Kananitin bewilligt, ist umso kostbarer und heilsamer, je mühevoller sie erkauft und je länger sie ersehnt worden ist. Vergessen wir nicht, dass es der Herr ist, der hier redet, und nicht ein Mensch. Er liest nicht nur in den Herzen, sondern er wirkt auch darin nach seinem Wohlgefallen. Fürchtet nicht, dass er seine arme Magd über Vermögen versuche; er stärkt sie und „macht, dass die Versuchung ein Ende gewinne,“6) welches ihrer Treue würdig sei. Auch weiß er wohl, mit wem er es zu tun hat, und hat für verschieden gesinnte Seelen verschiedene Wege. Den Schwachen kommt er entgegen und hat Mitleid mit ihrer Schwachheit, aber die Starken, die Glaubenshelden erwartet er, zieht sich zurück, fordert sie heraus zu einem heiligen Kampf, damit ihr Mut geübt und vor den Augen der Menschen zugleich und der Engel das schöne Schauspiel ihres Sieges dargestellt werde. So erreicht er sein Ziel, die Kananitin zu bestärken, während er zu gleicher Zeit seine Jünger umso deutlicher belehrt, als es im Anfang schien, dass er ihre Vorurteile angenommen habe. Zweifelt nicht daran, es sind auserwählte Seelen, bevorzugte Kinder, für die der Herr solche außergewöhnlichen Kämpfe aufhebt. Ihr sprecht: welche Kälte herrscht in seinen Worten! ja, aber welche Liebe herrscht in seinem Herzen!
Nachdem wir uns hierüber verständigt haben, lasst uns nun beobachten, wie die Kananitin mit dem Herrn kämpft, wie sie ihn, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, von einem Rückzug zum andern verfolgt und ihn endlich zu den Worten zwingt: Dir geschehe, wie du willst.
Jesus suchte oft sich zurück zu ziehen. Verschiedene Gründe bewogen ihn dazu: bald das Bedürfnis, sich Ruhe zu gönnen, bald die Vorsicht, um sich dem Hass seiner Feinde zu entziehen, bald die Demut, um den Beifallsbezeugungen der Menge zu entgehen, bald die Frömmigkeit, um in der Einsamkeit zu beten. Diesmal hatte er aber einen ganz besonderen Grund, sich zurück zu ziehen, der mit dem ganzen Gang unserer Erzählung zusammenhängt: er berührte eine heidnische Gegend, in welche seine Sendung noch nicht dringen sollte. Daher zeigt uns Markus auch, wie er Vorkehrungen traf, dass seine Gegenwart unbekannt bliebe: „Er ging in ein Haus, und wollte es Niemand wissen lassen und konnte doch nicht verborgen sein“7). Und aus welchem Grunde nicht? weil die Kananitin es nicht zuließ.
Diese fromme Frau, die so sehnlich wünschte, Jesum zu sehen, diese geängstete Mutter, die nur von der Barmherzigkeit des Herrn Heilung für ihre Tochter erwartete, hatte für alles, was sie über ihn erfuhr, ein offenes Ohr. Als er sich aus der Ferne nähert, empfängt sie begierig das erste Gerücht von seinem Herannahen, und kaum weiß sie, dass er auf der Grenze angekommen ist, so verlässt sie ihre geliebte Tochter und eilt ihm entgegen, um ihn aufzusuchen. Aber welche Hindernisse stellen sich ihr in den Weg! Jesus kam ihr nicht entgegen, sie musste ihm zuvorkommen. Dabei wurde sie nicht durch das Beispiel einer Menge unterstützt, die ihre Kranken dem Herrn brachten, ganz allein musste sie ihn aufsuchen. Er rief sie nicht zu sich, wie das Volk, zu dem er sprach: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid“, nein, er vermied ihre Blicke. Sie musste in die Türe eindringen, musste ihn in ein Haus verfolgen, wohin er sich gerade deshalb zurückgezogen hatte, damit man ihn nicht auffinden könne; dort war er von seinen Jüngern, von Juden umgeben, die von dem Stolz und den Vorurteilen ihrer Nation ganz erfüllt und in diesem Fall umso geneigter waren, eine arme Heidin zu entfernen, da ihre Anhänglichkeit an ihren Herrn ihnen eine Pflicht daraus zu machen schien. Gewiss war das mehr als hinreichend, um eine gewöhnliche Seele abzuschrecken: der Augenblick ist ungünstig; man wird mich nicht eintreten lassen; meine Gegenwart wird ungelegen sein; man wird mich schlecht aufnehmen; sogar die schuldige Rücksicht sollte mich zurückhalten. - Aber die Kananitin stellt diese Überlegungen nicht an, oder sie bleibt doch nicht dabei stehen. Das heiße Verlangen, das ihr die Mutterzärtlichkeit einflößt, unterstützt von einem unerschütterlichen Vertrauen auf das Wort und auf die Verheißungen des Herrn macht sie fähig, alles zu überwinden. Die Gelegenheit scheint ihr günstig, vielleicht ist sie die einzige; ihre Tochter kann sterben, Jesus kann nach Judäa zurückkehren; schon morgen ist es vielleicht zu spät. Sie geht, sie dringt vor, sie beseitigt alle Schwierigkeiten; wie sie es anfängt, sagt uns das Evangelium nicht; aber wir sehen, wie sie zum Herrn vorgedrungen ist und ihm nun endlich ihre Bitte vorlegen kann: „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! meine Tochter wird vom Teufel übel geplagt.“
Wenn sich unser Herr übrigens nicht verbergen konnte; so begreift ihr es wohl, dass er es eigentlich auch nicht wollte. Er konnte sich dem Glauben der Kananitin nicht entziehen im gleichen Sinn, wie er dem Unglauben der Nazarener nichts bewilligen konnte, worüber uns Markus berichtet: „Und er konnte allda nicht eine einige Tat tun, ohne wenigen Siechen legte er die Hände auf und heilte sie. Und er verwunderte sich ihres Unglaubens.“8) Der Herr wird freiwillig und unbeschadet seiner göttlichen Allmacht besiegt, oder er lässt sich vielmehr in dem Kampf, den er mit uns eingeht, besiegen; sei es nun, dass er zu uns kommt, und dass die Erlösung, die er uns bringt, durch unsern Unglauben verhindert wird; oder sei es, dass er uns ausweicht, und dass wir ihm die Erlösung, die er uns verweigert, durch unsern Glauben abringen müssen. Er selbst hat dieses zweifache Gesetz festgestellt, dass der Unglaube nichts empfangen soll, und dass der Glaube alles erlangen kann.
Das also ist der erste Sieg unsrer Kananitin, dass sie die Vorsichtsmaßregeln Jesu vereitelt. Wisst auch ihr, meine lieben Brüder, gleich wie sie den Herrn zu finden, wenn er sich verbirgt? versteht auch ihr an den dunklen Tagen, wo sich Hindernisse aller Art auf eurem Weg anhäufen, euch einen Zugang zu ihm zu eröffnen? Oder gehört ihr zu den Trägen, die sich nicht bloß durch wirkliche Schwierigkeiten abhalten lassen, „gleich dem Faulen, der um der Kälte willen nicht pflügen will,“9) sondern die sich eingebildete dazu schaffen und aus Furcht vor „dem Löwen draußen“10) nicht auszugehen wagen? Geht hin und lernet das Wort verstehen: „Wer auf den Wind achtet, der sät nicht, und wer auf die Wolken sieht, der erntet nicht.“11)
Nun die Kananitin einmal in Jesu Nähe ist, ist sie ruhig. Er kennt alle Anstrengungen, die es sie gekostet hat, um zu ihm zu gelangen, wie könnte er sie leer zurückschicken? Seine Barmherzigkeit ist bekannt genug; eine Mutter, die für ihre Tochter bittet, hat ganz besondere Rechte darauf, zumal wenn sie darum bittet, sie von einem bösen Geist zu befreien, der mehr die Seele krank macht als den Körper. So ist sie der Hilfe ganz gewiss. Arme Kananitin! die Hindernisse, die du überwunden hast, sind klein gegen diejenigen, denen du jetzt begegnen wirst: jene waren äußere Umstände, die dich hinderten, dich Jesu zu nähern, diese wirst du aber in Jesu selbst finden. Was wirst du tun, wenn der, von dem du sicher erwartetest, dass er dich von der Prüfung befreien werde, dich nun recht geflissentlich selbst prüfen wird? „Jesus antwortete ihr kein Wort.“ Diese Frau, die sich in die Tür hereingedrängt hat, ist eine Heidin: er lässt sie schreien, ohne ihr Antwort zu geben.
Welche bittere Täuschung liegt für die arme Mutter in diesem Schweigen! Erhielte sie auch nur ein Wort des Trostes, des Mitleids, wenn es denn kein Wort der Erlösung sein sollte: aber man würdigt sie nicht einmal einer Antwort! Ein Vater, den sein Kind, ein Herr, den sein Diener um etwas bittet, sollte er auch nicht für nötig halten, ihn zu befriedigen, so antwortet er ihm doch wenigstens. Die geringste Gunst, die man den Bitten des geringsten Menschen bewilligen kann, ist doch, ihm zu antworten. Jesus hat dem Zöllner geantwortet. Er hat dem Hauptmann von Kapernaum geantwortet. Er hat dem Aussätzigen geantwortet. Er antwortet, wenn er etwas bewilligt, er antwortet sogar, wenn er etwas verweigert12). Allen andern antwortet er; ich bin die einzige, der er nichts antwortet, die einzige, die er schreien lässt, ohne dass er sich um meine Seelenangst zu kümmern scheint. Ist das der Messias, der den Demütigen Gnade gibt, der „mit Gerechtigkeit wird richten die Armen“13); der „das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen und das glimmende Tocht nicht auslöschen wird“14); der zu dem armen Sünder spricht: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, so sollst du mich preisen“15)?
Wenn sich solche Gedanken des Zweifels und der Verzweiflung dem Herzen der Kananitin nähern, so finden sie doch keinen Eingang. Die Kananitin lebt im Glauben und nicht im Schauen. Dies Stillschweigen überrascht sie, beunruhigt sie, ist ihr unerklärlich, aber ihren Glauben erschüttert es nicht. Jesus kann zum Schweigen Gründe haben, die sie nicht kennt. Er will sie vielleicht in der Geduld üben. Er will seinen Jüngern vielleicht eine Belehrung geben. Er bezweckt vielleicht etwas anderes. Was es auch sein mag, er ist der Sohn Davids, der verheißene Messias, der Herr.
Was es auch sein mag: „Der Herr ist allein gütig und erbarmt sich aller seiner Werke“16). Die Kananitin stützt sich auf seine Verheißungen, wie auf einen Fels, der nicht unter ihren Füßen wanken kann, was er auch tun mag, sie ist fest entschlossen, niemals an seiner Liebe zu zweifeln. Er schweigt, aber nur für eine Zeitlang. Sie ihrerseits will nicht schweigen, sie schreit nur umso lauter17). Sie wird ihn schon zum Sprechen zwingen, sie wird ihm nicht eher Ruhe gönnen, bis sie eine Antwort erlangt hat.
Endlich gelingt es ihr, diese Antwort zu bekommen, aber auf unerwartete Weise. Die Apostel treten zwischen sie und ihren Meister: „Lass sie doch von dir, denn sie schreit uns nach.“ Lass sie doch von dir, aber wie das? Dadurch, dass er ihre dringende Bitte günstig aufnimmt, oder so, dass er sie wie eine elende Heidin gehen lässt? Vielleicht gebrauchen die Jünger mit Fleiß einen zweideutigen Ausdruck: sie wagen nicht, dem Herrn anzugeben, was er tun soll; möge er nur auf irgend eine Weise, mit ja oder nein, der Sache ein Ende machen und sie von sich lassen. Übrigens wirft der Grund, den sie angeben, „denn sie schreiet uns nach“, ein betrübendes Licht auf den Beweggrund ihrer Dazwischenkunft: man merkt daran, dass das, was sie am tiefsten berührt, die Unannehmlichkeit ist, die das Geschrei dieser Frau Jesu und ihnen selbst verursacht. Sie haben das Herz ihres Meisters so wenig begriffen, dass sie glauben, er werde von den Bitten der Traurigen ermüdet sein, wie die Diener des Jairus, die ihm meldeten: „Deine Tochter ist gestorben, bemühe den Meister nicht.“18) Sie beurteilen eben Jesus nach sich selbst.
Ach, welch eine unwürdige Gesinnung ist es doch, weniger von der Herzensangst und den dringenden Bitten einer Mutter, die ihre Tochter in der Gewalt eines bösen Geistes weiß, als von der eigenen Unannehmlichkeit und Unruhe berührt zu werden! Christen, wir wollen uns hüten, und auch wir, Diener Gottes, wollen uns hüten, nicht zu hastig den Stein auf die Apostel zu werfen. Ist uns niemals etwas Ähnliches begegnet? Ist es uns niemals vorgekommen, dass Jemand uns aufsuchte, der die Angst seines Herzens vor uns ausschüttete, der uns vielleicht von seinen Sünden und seinem Seelenheil sprach; wir aber hörten ihm mit Zerstreuung zu, seine Reden fielen uns beschwerlich, seine Sorgen rührten uns weniger, als uns seine Weitschweifigkeit ermüdete; wir waren vielleicht selbst von irgend einer unbedeutenden Sorge eingenommen oder von einem untergeordneten Interesse, einem Vergnügen, einer Mahlzeit, die uns erwartete? wir selbstsüchtigen Herzen, dass wir mehr von einer eignen kleinen Unannehmlichkeit, als von dem großen Gram eines Andern beunruhigt werden!
Diese Bemerkungen machten wir, nicht die Kananitin. Die Bewegungsgründe der Apostel, selbst ihre Verachtung kümmert sie nicht; wenn nur ihr Flehen das Stillschweigen des Herrn unterbricht! Sie blickt nur auf den Meister, nicht auf die Jünger; nur für ihn hat sie Augen und Ohren. Und siehe da, sein Mund öffnet sich, dieser Mund, von dem ein einziges Wort ihre Tochter heilen kann, wie es so viele Kranke geheilt, Trauernde getröstet, Tote erweckt hat. Was braucht sie mehr? Es ist genug, dass sie sein Schweigen besiegt, dass sie ihn endlich zum Sprechen gezwungen hat.
Meine Freunde, erinnert euch der dunklen, verlassenen Stunden, in denen der Herr auch euch durch sein Schweigen prüfte; wo er euch rufen ließ, ohne irgend eine Antwort noch ein Zeichen seiner Gunst, wo ihr vergebens zu ihm spracht: „Lehre mich, Herr, deinen Weg, denn du bist mein Gott!“ wo ihr in seinem Wort vergebens nach einem Licht auf euerm Weg suchtet; wo ihr, mochtet ihr beginnen, was ihr wolltet, nur einen Gott ohne Stimme und einen ehernen Himmel über euch fandet. Wie habt ihr euch damals verhalten? Habt ihr wie die Kananitin den Gnadenthron so lange bestürmt, bis ihr eine Antwort erlangtet?
„Gehe hin in Frieden, dein Glaube hat dir geholfen, dir geschehe, wie du geglaubt hast, deine Tochter ist geheilt!“ - solche Worte erwartete die Kananitin von Jesus. Und was sagt er ihr oder vielmehr seinen Jüngern, denn an diese richtet er seine Antwort mehr als an sie? „Ich bin nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen von dem Hause Israel;“ oder wörtlicher: „unter die verlornen Schafe“.
Wir haben es gehört, die Sendung Jesu bezog sich in einem gewissen Sinn auf die Juden allein und in einem anderen auf alle Völker. Er war nur unter die Juden gesandt, und sein persönliches Amt sollte sich nicht über ihre Grenzen hinaus erstrecken; aber er war für alle Menschen gekommen, und sein Heil sollte später der ganzen Welt verkündigt werden; dies gab er auch schon dadurch zu erkennen, dass er einige Heiden an seiner Gnade Teil nehmen ließ, die nicht gewartet hatten, bis das Evangelium in ihr Land eindrang, sondern ihn vorher aufsuchten. Hätte er das der Kananitin gesagt, so würde es genügend gewesen sein, sie ihrer Unruhe zu entreißen. Aber von jenen beiden Gesichtspunkten, welche die Frage umfasst, zeigt er ihr nur den, welcher sie entmutigen konnte, und dazu zeigt er ihn von der strengsten Seite. Als er seine Jünger aussandte, das Evangelium zu predigen, hatte er ihnen geboten: „Geht nicht zu den Heiden, sondern vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“; zu ihr sagt er aber in bestimmteren, unzweideutigeren Ausdrücken: „Ich bin nicht gesandt, denn nur unter die verlorenen Schafe von dem Haus Israel.“
War das Schweigen des Herrn der Kananitin grausam erschienen, so musste ihr dies Wort noch grausamer erscheinen. Sein Stillschweigen ließ ihr wenigstens noch Hoffnung; sein Wort scheint ihr auch diese zu benehmen. Jesus kann ihre Bitte nur bewilligen, wenn er gewissermaßen von der Aufgabe seiner Sendung abweicht. Er ist nur zu den Juden gesandt, mit den Heiden hat er nichts zu tun. Das Gesetz seines Wirkens und die Grundsätze seines Reiches schließen die Kananitin von seinen Wohltaten aus. Er ist der Heiland, aber für die Juden; es ist Hilfe bei ihm zu finden, doch nicht für die Heidin.
Wir können freilich einen Text mit dem andern vergleichen, „können die Zeiten und die Stunden“ unterscheiden, wissen die Antwort des Herrn in der Art zu erklären, dass sie den Heiden noch eine Tür offen lässt. Die Kananitin aber hatte unsre Einsicht, kannte unsre Gottesgelehrtheit nicht, das Wort des Herrn, das von ihr so heiß ersehnte Wort war ausgesprochen und war gegen sie ausgefallen. Was konnte sie nun tun, was konnte sie einer solchen Prüfung entgegensetzen? Wäre es ein anderer als Jesus gewesen, der ihr zu hoffen verboten hätte, so hätte sie sich auf Jesus berufen, aber an wen sollte sie von seinem eignen Ausspruch Berufung einlegen? Je mehr Vertrauen sie in ihn setzt, um so größere Ursache hat sie, den Mut zu verlieren. Er selbst wendet sich gegen sie, er quält sie geflissentlich, er zwingt sie, wie es scheint, endlich an ihrer Sache zu verzweifeln und auszurufen: „Ich bin voll Schmach und Elend, und wie ein ausgereckter Löwe jagst du mich und handelst wiederum gräulich mit mir“19). Aber nein! sorg nicht um die Kananitin. Besitzt sie nicht unsre Gottesgelehrtheit, so besitzt sie Besseres als das: sie hat einen Glauben, wie er uns fehlt, und dieser Glaube verhilft ihr zum Sieg über das Wort Jesu.
Erinnert euch an David in Nob. Er kommt mit seiner Mannschaft beim Haus Gottes an; vom Hunger gequält findet er kein anderes Brot, als die dem Herrn geweihten Schaubrote. Es stand von denselben geschrieben: „Und sollen Aarons und seiner Söhne sein, die sollen sie essen an heiliger Stätte, denn das ist sein Allerheiligstes von den Opfern des Herrn zum ewigen Recht“20). Gottes Wort erlaubte weder David noch seinen Leuten, sie nur anzurühren. Aber durch den Glauben kommt David der Freiheit der evangelischen Zeit zuvor; dieser Glaube erhebt ihn über das, was geschrieben ist; der Heilige Geist belehrt ihn, dass dies levitische Gebot nur ein vorübergehendes Vorbild ist; er fühlt, dass Gott es billigt, wenn er gegen den Buchstaben des göttlichen Gebotes handelt, und isst in Frieden die Brote der Priester. Ein ganz ähnliches Gefühl stützt den Glauben unserer Kananitin. Der Glaube ihres Herzens treibt sie, der für die Berufung der Heiden bestimmten Zeit voranzueilen, und erhebt sie sogar über das kaum gesprochene Wort des Herrn. Sie weiß diesem Worte nichts entgegenzusetzen, aber sie fühlt etwas im Innersten ihrer Seele, was noch lauter spricht. Ob man ihr auch sagt: das ist nicht für dich, ob der Herr selbst es ihr sagt, sie wird sich nimmermehr von seiner Gnade ausgeschlossen glauben. Es liegt irgend ein Geheimnis vor, das wird ihr erklärt werden, ein anscheinender Widerspruch, der wird sich für sie auflösen. Wie und wann es möglich sein wird? Dem Herrn ist ja alles möglich; unmöglich aber ist es ihm, eine Seele zu verlassen, die auf ihn traut. So hält sie denn an, beugt sich noch tiefer, bittet noch heißer, nähert sich dem Heiland umso mehr, je mehr er sie entfernen will, wirft sich vor ihm nieder und ruft zu ihm: „Herr, habe Erbarmen mit mir!“ Retter der Elenden, magst du zu mir gesandt sein oder nicht, du bist da; mag ich berufen sein oder nicht, ich bin hier, eine geängstete Mutter; Herr, du musst mich erhören, du musst meine Tochter retten, du musst den Teufel austreiben; ich lasse dich nicht, bis du mir geholfen hast!
Meine Brüder, das Wort Gottes, das uns zu unserm ewigen Trost gegeben ist, scheint sich bisweilen gegen uns zu wenden, wenn Gott dem Satan erlaubt, uns zu versuchen, wie einst Jesus in der Wüste, durch Berufung eben auf das göttliche Wort21). Wir finden in diesem Wort Bedingungen, deren Erfüllung uns unmöglich erscheint, Zeichen der Bekehrung, in deren Besitz wir uns nicht glauben, Verheißungen, denen wir fern zu sein meinen, Drohungen, die uns mit Schrecken erfüllen. In solchen Augenblicken gibt es keinen anderen Frieden für uns, als derselbe Herzensglaube, der hier die Kananitin aufrecht hält. Kein wissenschaftlicher Nachweis, keine ängstliche Untersuchung über den Sinn und die Grenzen einer Bedingung oder einer Verheißung ist dann im Stande, uns zu retten: wir müssen uns höher erheben. Wir müssen gerades Weges zum Herrn dringen. Wir müssen unsere ganze Zuflucht zu dem Zeugnis nehmen, das der Geist Gottes dem unsrigen gibt: Was auch geschehe, „er ist der Fels meiner Stärke“22). „Mein Herz hält dir vor dein Wort: ihr sollt mein Antlitz suchen“23). „Ich weiß, an welchen ich glaube“24). „Mein Freund ist mein, und ich bin sein“25).
In diesem Vertrauen, welches ihr von der Liebe zum Herrn eingeflößt wird, beruht die ganze Stärke der Kananitin. Im Herzen Jesu sucht sie eine geheime Zufluchtstätte wider sein Schweigen und wider seine Rede. Was aber wird aus ihr werden, wenn auch diese Zufluchtstätte, dieses letzte Obdach ihr entzogen wird, wenn sie vielmehr in Jesu Herzen nur Härte und Verachtung findet? Was sage ich, o mein Heiland! Härte und Verachtung in dir, der du „sanftmütig und von Herzen demütig“ bist? Ach, du hast sie niemals mehr geliebt, du prüfst sie, weil du sie liebst; aber weil du getreu bist, wirst du sie nicht über ihre Kräfte versuchen, diese Kräfte, die du genau gemessen, ja die du selbst ihr mitgeteilt hast. Denn mit welcher anderen Kraft vermöchten wir gegen den Herrn zu kämpfen, als mit der Kraft, die vom Herrn kommt?
Indessen Jesu treue Liebe verbirgt sich einen Augenblick unter dem Anschein von Härte und Verachtung. Und wie könnten wir schildern, was im Herzen der armen Kananitin vorgeht, als ihre dringende, heiße Bitte: „Herr, hilf mir!“ die Antwort erhält: „Es ist nicht fein, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.“ Ihr versteht, mit den Kindern werden die Israeliten, mit den Hunden die Heiden, also auch unsre Kananitin gemeint. Ist dies schon in unsrer Sprache eine grausame Beleidigung, so war sie das noch viel mehr bei den Juden: der Hund erscheint in der Schrift nie anders als unter den abstoßendsten Zügen; der Hund war für die Juden wie für alle Völker des Orients ein unreines Tier, das Bild weltlichgesinnter, verfolgungssüchtiger Gottlosigkeit, wie das Schwein, mit dem man ihn wohl zusammengenannt findet, das Bild zügelloser, fleischlicher Gottlosigkeit ist26).
Wahrlich, diese Versuchung ist viel stärker, als alle vorhergegangenen. Markus hat das so tief gefühlt, dass er nur diese eine in seiner Erzählung erwähnt und mit Übergehung des Stillschweigens und der ersten Antwort des Herrn sich nur bei seiner Zusammenstellung der armen Bittenden und des unreinen Hundes aufhält. So sehen wir denn, wie Jesus die äußerste Verachtung der Heiden, deren die Sprache und die Vorurteile seines Volks fähig sind, sich aneignet, ja auf die Spitze stellt. Und nun ist nicht mehr bloß der Geist der Kananitin beunruhigt, sondern ihr Herz ist verwundet, zerschmettert, vernichtet; ich sage, ihr Herz, denn es wäre viel zu wenig gesagt, wollte ich von ihrer Eigenliebe reden. Ihr Vertrauen stößt auf Kälte, ihre Hingebung auf Lauigkeit, ihre Liebe auf Verachtung! Ja, hier hätte sie besiegt werden müssen, wenn sie hätte besiegt werden können.
Aber sie kann nicht besiegt werden, denn sie will nicht zweifeln. „Er ist der Herr, er tue, was ihm wohlgefällt“27), sollte er sie auch töten, so wird ihre Hoffnung doch nimmer aufhören. Weit entfernt, sich erschüttern zu lassen, lässt sie sich kaum beunruhigen. Sie triumphiert über Jesu Verachtung. Sie behält ihre ganze geistige Freiheit, und mit einer Geistesgegenwart, die wir bewundern würden, wäre nicht unsre Aufmerksamkeit in das noch schönere Schauspiel ihres Glaubens versenkt, bewaffnet sie sich gegen den Herrn mit demselben Pfeil, der sie durchbohren sollte: sie „richtet ihn mit seinem eigenen Wort.“ Ohne Einwendung nimmt sie die demütigende Vergleichung, die ihr Herz empören zu müssen schien, auf und schöpft daraus ein neues Mittel, um den Widerstand des Herrn zu überwinden. So völlig vergisst sie sich selbst, nur auf das Eine bedacht, ihre Tochter zu retten, Jesu Gnade zu erringen. Jawohl, Herr, ich bin es zufrieden, ich bin gegen dein Volk nur, was ein Hund gegen ein Kind ist. Aber selbst so habe ich ein Anrecht auf den Anteil eines Hundes. „Die Hündlein essen von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tische fallen;“ mehr ist auch für mich nicht nötig. Nur einen Brosam des Brotes, womit du dein erwähltes Volk nach Gefallen sättigst, nur ein Wort, nur einen Blick, so ist meine Tochter geheilt!
Es ist geschehen, o Kananitin, du hast den Sieg errungen, deine Tochter ist geheilt. „Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: O Weib, dein Glaube ist groß: dir geschehe, wie du willst.“ Hier sind die Rollen getauscht: der Mensch siegt, und der Herr ergibt sich; der Schöpfer des Himmels und der Erde spricht zu dem armen, sündigen Geschöpf: „dein Wille geschehe.“ Das ist die Macht des Glaubens. Was hat diesen staunenswerten Sieg entschieden? Jenes Wort des Glaubens und der Demut: „aber doch essen die Hündlein von den Brosamlein, die von ihrer Herren Tische fallen.“ Das ist das entscheidende Wort, der Herr selbst erklärt es dafür, wie uns Markus lehrt: „Um des Wortes willen, so gehe hin; der Teufel ist von deiner Tochter ausgefahren.“ Um des Wortes willen! Wir haben oft die Macht des göttlichen Worts bewundert; heute ist es an der Zeit, die Macht zu bewundern, die des Menschen Wort hat. Das Wort der Kananitin öffnet den Himmel, triumphiert über den Herrn, verjagt den Teufel, bewirkt, was sie will. Elias spricht: „So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt, vor dem ich stehe, es soll diese Jahr weder Tau noch Regen kommen, ich sage es denn“28). So geschieht es, weil dies Wort ein Glaubenswort ist. Der Glaube verleiht uns in unbeschreiblicher, geheimnisvoller Weise Anteil an der Allmacht Gottes. Wenn geschrieben steht: „Bei Gott sind alle Dinge möglich“29), so steht auch geschrieben: „Alles ist möglich dem, der da glaubt.“ Fürchtet nicht, dass diese herrliche Macht ihn stolz machen könne; sie kann nur in Demut ausgeübt werden, sie entschwindet, wenn das Herz sich aufbläht; der Augenblick, in dem die Kananitin allmächtig ist, ist zugleich derselbe, in welchem sie sich am tiefsten erniedrigt. Wunder der Weisheit! Unergründliches Geheimnis! göttliche Klarheit! Selig sind die Demütigen, die auf den Herrn, ihren Gott harren! „Sie werden das Erdreich besitzen, sie werden die Engel richten und werden Könige sein auf Erden!“30).
Meine Brüder, wenn ihr einmal meint, Jesu Herz sei von euch abgewendet; wenn selbst euer Gebet nichts mehr vermag, als euch in noch größere Unruhe zu stürzen; wenn euer heißestes Flehen, euer innigstes Vertrauen bei ihm nur auf ein verschlossenes Ohr, ein unzugängliches Herz, eine zurückweisende Hand zu stoßen scheint; o dann denkt an jenes letzte Wort, welches die Kananitin gerettet hat. Hütet euch vor dem Gedanken, dass der Herr euch verlassen könne. Es steht geschrieben: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen; aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln“31). Demütigt euch unter seine gewaltige Hand. Zeigt ihm „ein demütiges und zerschlagenes Herz,“ dem die Verheißung gegeben ist; schöpft aus eurem tiefsten Elend und aus seinen Zurückweisungen einen neuen Hilferuf, eine noch eindringlichere Bitte: er wird ihr nicht zu widerstehen vermögen, und sie wird ihm die Antwort entreißen: „Um des Wortes willen so gehe hin, dir geschehe, wie du willst.“
Wie der Kampf, so auch der Sieg! Je mehr die Kananitin gelitten, je mehr Widerstand sie erfahren hatte, um so herrlicher war die Erlösung, umso mehr wurde ihr Glaube getröstet. Mit welchen Blicken sah sie ihre Tochter wieder, die der Gewalt des Bösen entrissen war! Wie wohl verstand sie es nun, dass der Herr sie nur deshalb so vielfach geprüft habe, weil er sie sehr liebte! Lag nicht schon in dem bloßen Andenken an diesen rührenden und erschreckenden Auftritt Kraft genug, um sie bis ans Ende gegen alle Angst des Lebens zu waffnen? Wohlan! was diese Erinnerung für sie war, das möge ihre Geschichte für uns sein: sie ist geschehen für sie, geschrieben für euch. Wenn der Herr euch prüft, so wisst, dass er euch liebt. Hat er besondere Prüfungen für euch gewählt, so wisst, dass ihr einen bevorzugten Platz in seinem Herzen einnehmt. Eine zerschlagene Seele ist auch eine auserwählte Seele. Möge die Erfahrung der Kananitin euch unterweisen und euch stärken. Gebt wie sie dem Herrn die Ehre und zweifelt niemals an seiner Güte. So lange ihr aus der Tiefe euers Herzens sprechen könnt: „wie es auch sei, der Herr ist gut“, so lange bleibt ihr unüberwindlich.
Freilich wird euch die Erfahrung der Kananitin nur dann stärken, wenn ihr ihren Glauben teilt. Hätte die Kananitin nichts anderes zur Stütze gehabt, als die Erfahrung der Trauernden, denen der Herr vor ihr geholfen hatte, so wäre sie niemals in der Versuchung bestanden. Sie hätte der Erfahrung von seiner Güte gegen andere seine anscheinende Härte, die sie selbst erfuhr, entgegengesetzt und wäre unterlegen. Es scheint uns immer, als wenn die Erfahrung anderer nicht genau mit der unsrigen übereinstimme. Was die Kananitin fest macht, was ihr den Sieg verschafft, ist der feste Entschluss, sich auf den Herrn und sein Wort zu stützen, es möge kommen, was da wolle. Denn sie will ja nichts sehen, nichts hören, was gegen den Glauben ist. So wird sie fähig gemacht, nicht nur dieser oder jener, sondern allen Prüfungen, die fortan über sie kommen können, zu widerstehen. Erst nachdem alles versucht, alles erschöpft, und sie unbesiegbar erfunden ist, spricht der Herr zu ihr: „O Weib, dein Glaube ist groß.“ Wie, wenn sie den Mut vor dem Ende des Kampfes verloren, wenn sie ihre Hoffnung aufgegeben hätte, als nur noch ein Schritt zu tun war! Vielleicht steht ihr auf diesem Punkt, meine Freunde. O, tut ihn noch, den einen Schritt! noch ein einziger Anlauf, noch ein Gebet, und ihr seid gerettet. Sprecht nicht: ich bete seit einem Jahr, seit fünf, seit zehn Jahren, und der Herr erhört mich nicht; sprecht vielmehr: der Herr kann mich nicht verwerfen. Sagt nicht: ich habe dieses oder jenes Zeichen, dass der Herr mich nicht erhören will; sagt vielmehr: der Herr kann mir nichts verweigern. Bewaffnet euch, meine Brüder, mit dem Glauben der Kananitin, der so groß war, dass er des Herrn Verwunderung erregte. Sprecht zu ihm mit Jakob: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“
Herr Jesu, du verordnest den Glauben und krönst ihn; du bist es auch, der ihn gibt, und der ihn mehrt. „Wir glauben, Herr, hilf unserm Unglauben! Herr mehre uns den Glauben!“ Amen.