Melanchthon, Philipp - An den Stadtrath zu Söst in Westphalen
20. Juni 1543
Ehrbare, weise und günstige Herren!
Ich bin zum öftern Mal von den würdigen Herrn, den treuen Predigern des Evangeliums in eurer Kirche angesucht, an Ew. W. zu schreiben, und sie freundlich zu Anrichtung einer christlichen, nützlichen Kinderschul zu ermahnen. Ich weiß, daß Ew. W. selbst wissen, daß zu Erhaltung der Religion und vieler nützlichen Künste ganz von nöthen ist, die Kinder zur Lehre zu halten. Viel unvernünftiger Leute gedenken, obgleich die Religion von nöthen sei, so bedürfe man doch keiner Kunst und Studien dazu; es wisse ein jeder aus natürlichem Verstand, was er thun solle. Dieses ist ganz eine thörichte, ja gotteslästerliche Rede. Denn zur ewigen Seligkeit gehört Erkenntniß des Evangelii, davon menschlich Vernunft von ihr selbst nichts weiß. Dieweil denn Gott menschliche Natur nicht vergeblich geschaffen hat, sondern will sie richten und etlich selig machen, so hat er von Anfang den ersten Menschen seine Gnade und Vergebung der Sünde, davon menschliche Vernunft nichts gewußt, geoffenbart, und ist diese Offenbarung durch die ersten Väter und hernach durch die Propheten in ein Buch gefaßt worden, welches Gott aus besonderem Rath wunderbarlich für und für erhalten hat, und hat hernach der Apostel Schrift dazu gethan, daß also beisammen ist die nöthige Kirchenlehre vom Anfang der Schöpfung bis zu Erbauung der Kirche nach den Aposteln. Dieses Buch ist der höchste Schatz, der auf Erden bleibet. Denn es lehret, wie wir Gott erkennen und anrufen, und wie wir selig werden sollen, und gibt Zeugniß, daß diese Lehre von Anfang die einige, rechte Lehre von Gott gegeben, und ist eine besondere große Ehre und große Weisheit der Kirche Gottes, daß sie allein eine gewisse Historia hat von Anfang der Welt, an einander hangend und für und für, daß wir den Ursprung und die Ausbreitung unserer Religion eigentlich wissen mögen, und ist unsere Religion nicht, wie die heidnische, die blind eingeschlichen, daß man nicht weiß, woher sie komme. Darum auch Gott dieses Buch selber wunderbarlich erhält, gebeut oder daneben allen Menschen, daß man es hören und lernen soll; gebeut auch allen Regenten in seiner Kirche, daß sie diese Bücher sollen helfen erhalten und Andere lehren. Darum müssen Leute sein, die es lesen können, die die Sprachen verstehen rc. und also andere zu lehren und zu unterweisen geschickt sind. 1. Tim. 4. spricht S. Paulus: „Halt an mit Lesen, mit Vermahnen und mit Lehren.“ In diese drei Stück ist alles Predigen getheilt. Weiter ist auch beschrieben 2. Petr. 1: „Wir haben eine feste Rede der Propheten, an welche ihr euch halten sollt, als zu einem Licht in der Finsterniß“; ebenso Röm. 15: „Alles, was geschrieben ist, ist uns zur Lehre geschrieben, daß wir in Geduld durch Trost der Schrift Hoffnung haben sollen.“ Matth. 13. spricht Christus: „ein jeder Schriftgelerter, der zum Himmelreich unterwiesen ist, ist gleich einem Hausvater, der aus seinem Schatz hervorbringt neue und alte Gefäße.“ Diese Worte sollen wir nicht gering achten, sondern daraus lernen, daß des Herrn Christi Gebot ist, daß man Schulen habe, darin man diese Lehre übet, die zum Himmelreich führet: und besonders ist dieß denen geboten, welche zur Regierung kommen sollen. Werden wir fleißig sein, gute Lehre zu erhalten, und unser gegeben Pfund treulich anzuwenden, und zu mehren, so wird Gott seinen Segen dazu thun. Werden wir aber nichts thun zu Erhaltung und Ausbreitung der großen herrlichen Gaben, die jetzund Gott besonders gegeben in so reicher Offenbarung des Evangelii und in Besserung vieler nützlicher Künste, so wird wahrlich die Strafe folgen, Irrthum, heidnische Blindheit, Zerstörung der Lande und ewige Verdammniß; wie Christus spricht: „Wer hat, dem wird gegeben; wer nicht hat, der wird auch das Wenige, das er hat, verlieren.“
Quelle: Renner, C. E. - Auserlesene geistvolle Briefe der Reformatoren