Melanchthon, Philipp - Über den Ausspruch Christi: "Niemand wird Meine Schafe aus Meiner Hand reißen." (Joh. 10,28.)
Gehalten 1550.
Dir, allmächtiger und wahrhaftiger Gott, ewiger Vater unsers Herrn Jesu Christi, Schöpfer des Himmels und der Erde und aller Creatur, nebst Deinem Sohne, unserm Herrn, Jesus Christus, und dem heiligen Geist, Dir, dem weisen, gütigen, wahrhaftigen, gerechten, erbarmenden, keuschen, gnadenreichen Gott, danken wir, daß Du bisher in diesen Landen die Kirche, und Schutz und Pflege derselben gnädig erhalten hast; und bitten Dich flehentlich, Du wollest immerfort unter uns Deinem Sohne ein Erbtheil sammeln, das Dich in alle Ewigkeit preise.
Ich habe aber in diesen unsern Versammlungen zum öftern theils Ermahnungen, theils Tadel ausgesprochen, und ich hoffe, die Meisten werden dessen eingedenk sein. Da ich aber annehmen darf, daß jetzt Aller Herzen von einer neuen Bekümmerniß und einem neuen Schmerze wegen des Krieges in der Nachbarschaft gefoltert werden, so erheischt diese Zeit ein Wort des Trostes. Und wie man gewöhnlich sagt: „Wo es wehe thut, da hat er die Hand,“ so konnte auch ich bei dieser so großen Niedergeschlagenheit mich nicht entschließen, meine Rede auf etwas Anderes zu richten. Wiewohl ich nun nicht zweifle, daß Ihr selbst auch in den göttlichen Aussprüchen Trostmittel suchet, so will dennoch auch ich einige daraus gesammelte Euch zurufen, weil ja auch das, woran wir selbst gedacht hatten, uns werther wird, wenn wir hören, das Nämliche bewähre sich auch an Andern als heilsam. Und weil lange Reden bei Schmerz und Traurigkeit lästig sind, will ich unverzüglich den Trost vorbringen, welcher der wirksamste ist.
Schmerzen werden ganz vornehmlich gemildert, wenn etwas Gutes und Heilsames, nämlich Hilfe, zu einem freudigen Ausgange uns entgegen tritt. Alle anderen Trostgründe, welche man von der Unvermeidlichkeit oder von Beispielen entlehnt, gewähren keine so große Erleichterung. Es bietet aber der Sohn Gottes, unser Herr, Jesus Christus, der für uns gekreuzigt und auferweckt ist, und zur Rechten des Vaters sitzt, Hilfe und Befreiung uns dar, und hat diese Gesinnung in vielen Aussprüchen ausgedruckt. Ich will aber jetzt über das Wort sprechen: „Niemand wird Meine Schafe aus Meiner Hand reißen.“
Dieser Ausspruch hat mich oft in tiefster Trauer aufgerichtet und gleichsam aus der Hölle gezogen.
Es haben zu allen Zeiten die weisesten Menschen die Größe des menschlichen Elends beklagt, welches wir mit Augen sehen, bevor man in jene Ewigkeit übergeht; als Krankheiten, Tod, Mangel, unsre Verirrungen, durch welche wir uns Nachtheil und Strafen zuziehen, feindselige Menschen, Treulosigkeit von Seiten derer, mit denen wir eng verbunden sind, Verbannung, Beschimpfung, Verlassenheit, elende Kinder, öffentliche und häusliche Zwietracht, Kriege, Mord und Verwüstung. Und da solches Guten und Bösen ohne Unterschied zu widerfahren scheint, haben viele Weise gefragt, ob es eine Vorsehung gebe, oder ob unabhängig von göttlicher Absicht Alles der Zufall bringe? Aber wir in der Kirche wissen, daß die erste und hauptsächlichste Ursache menschlicher Noth die ist, daß der Mensch wegen der Sünde dem Tode und anderm Ungemach unterworfen ist, welches gerade in der Kirche um so heftiger ist, weil der Teufel aus Haß gegen Gott furchtbare Angriffe auf die Kirche macht, und sie gänzlich zu vertilgen strebt. Deßhalb steht geschrieben: „Ich will Feindschaft setzen zwischen der Schlange und dem Weibessamen.“ Und Petrus spricht: „Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe, und sucht, wen er verschlinge.“
Gott hat aber nicht vergebens die Ursachen unsers Elends uns kund gemacht. Wir sollen nicht nur die Größe unsrer Noth selbst anschauen, sondern auch die Ursachen derselben einsehen, und seinen gerechtesten Zorn gegen die Sünde anerkennen, damit wir auf der andern Seite auch den Erlöser und die Größe Seiner Erbarmung anerkennen, und fügt zu diesen Seinen Erklärungen als Zeugnisse die Wiedererweckung Verstorbener und andre Wunder.
Wir wollen darum die ungläubigen Meinungen aus unsern Herzen weit verbannen, welche dichten, daß bloß aus Zufall oder physischen Ursachen Uebel uns treffen.
Wenn du aber die Wunden in deinen eignen Verhältnissen betrachtest, oder deinen Blick auf die öffentlichen Zerrüttungen in den Staaten richtest, welche zugleich die Einzelnen niederschlagen (wie Solon sagt: „Das allgemeine Verderben dringt auch in deine stille Behausung;“), so denke zuerst über deine eigenen und Anderer Sünden, und den gerechten Zorn Gottes nach; sodann erwäge auch die Wuth des Teufels, der seinen Grimm vornehmlich in der Kirche ausläßt.
In allen, auch den bessern Menschen herrscht große Finsterniß. Wir sehen nicht, welch' ein großes Uebel die Sünde ist, und achten uns selbst nicht für so gar schmählich befleckt. Wir schmeicheln uns selbst, namentlich damit, daß wir ja zu einer reinern Lehre von Gott uns bekennen. Indessen überlassen wir uns einem sorglosen Schlafe, schmeicheln ein Jeder seinen besondern Begierden; unsre Unreinigkeit, die Krankheiten der Kirche, die Noth der Brüder erfüllt uns nicht mit Schmerz; die Anrufung ist ohne Feuer und Inbrunst; es erkaltet der Eifer für Lehre und Zucht, und nicht wenige Sünden sind die meinigen und die deinigen und die vieler Anderer, um welcher willen solche Strafen auf uns gehäuft werden.
Laßt uns daher unsre Herzen zur Buße wenden, und unsern Blick auf den Sohn Gottes richten, in Ansehung Dessen wir die Versicherung haben, daß Er nach dem wunderbaren Rache der Gottheit über das Menschengeschlecht gestellt ist, um der Beschützer und Erhalter Seiner Kirche zu sein.
Unser Elend sowohl als unsre Gefahren, und das Wüthen der Feinde sehen wir nicht eher vollkommen ein, als nach besonders traurigen Ereignissen. Dennoch aber sollen wir so denken: Es muß große Noth und eine furchtbare Macht und Wuth der Feinde vorhanden sein, da uns ein so mächtiger Beschützer, nämlich Gottes Sohn, gegeben worden ist. Wenn Derselbe spricht: „Niemand wird Meine Schafe aus Meiner Hand reißen,“ so deutet Er an, daß Er nicht ein müßiger Zuschauer bei unserm Elende ist, sondern daß gewaltige und unablässige Kämpfe Statt finden. Der Teufel hetzt einige seiner Werkzeuge an, die Kirche oder das politische Gemeinwesen zu zerrütten, damit unabsehbare Verwirrung und darauf heidnische Verwüstung eintrete. Der Sohn Gottes aber, die Ihn anrufende Gemeinde gleichsam in Seinen Händen haltend, wirft die Teufel durch Seine unermeßliche Macht zurück, besiegt und jagt sie von dannen, und wird sie einst in den höllischen Kerker einschließen und in alle Ewigkeit mit furchtbaren Qualen bestrafen. Diesen Trost wollen wir in Ansehung der gesammten Kirche sowohl, als unser selbst, ein Jeder fest halten.
Wenn wir in dieser zerrissenen, kriegerischen Zeit Staaten auflodern und zusammen stürzen sehen, so schau' auf den Sohn Gottes, der im geheimen Rath der Gottheit steht, und Sein Häuflein schützt, und die schwachen Schaflein gleichsam auf Seinen Händen trägt. Sei überzeugt, daß von Diesem auch du beschützt und erhalten wirst.
Aber hier schreien einige nicht richtig Unterwiesene: Wohl wünschte ich, der Sorgfalt eines solchen Hüters empfohlen zu sein; aber Seine Schafe nur bewahrt Er. Ob zu dieser Herde auch ich zu zählen bin, weiß ich nicht. Diesem Zweifel muß man auf's beharrlichste entgegen kämpfen. Denn der Herr selbst versichert in dem nämlichen Ausspruche, daß Alle, welche hören, und die Stimme des Evangelium im Glauben ergreifen, Seine Schafe heißen; wie Er auch ausdrücklich sagt: „Wer Mich liebet, der wird Mein Wort halten, und Mein Vater wird ihn lieben, und Wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Diese unerschütterlichen Verheißungen des Sohnes Gottes muß man zuversichtlich sich aneignen. Auch sollst du nicht dich selbst durch deinen Zweifel von dieser seligen Herde ausschließen, welche aus der Gerechtigkeit des Evangelium hervorgeht. Diejenigen unterscheiden nicht richtig zwischen dem Gesetz und dem Evangelium, welche, weil sie unwürdig, sich nicht unter die Schafe zählen. Vielmehr ist dieser Trost uns geboten, daß wir wahrhaftig, um des Sohnes Gottes willen, ohne Verdienst, und nicht wegen unsrer Würdigkeit angenommen werden, allein durch den Glauben, weil wir unwürdig und unrein, und fern von der Erfüllung des Gesetzes sind. Es ist ferner diese Verheißung eine allgemeine, wie der Sohn Gottes spricht: „Kommt zu Mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, Ich will euch erquicken!“
Es gebietet gar ernstlich der ewige Vater, daß man den Sohn hören soll, und die größte unter allen Vergehungen ist's, wenn man Ihn verschmäht und Seiner Stimme nicht Beifall gibt. Das sollte Jeder oft und fleißig bedenken, und in dieser durch den Sohn geoffenbarten Gesinnung des Vaters sich beruhigen.
Wenn gleich bei so großen Zerrüttungen manches traurige Schauspiel dein Auge berührt, und die Kirche durch Zwietracht und Haß zerrüttet wird, und vielfache häusliche und öffentliche Noth dazu kommt, dennoch soll nicht Verzweifelung dich überwältigen, sondern wisse, daß du den Sohn Gottes zum Hüter und Beschützer hast, der nicht zulassen wird, daß weder die Kirche, noch du, noch deine Familie durch das Wüthen des Teufels aus Seiner Hand gerissen werde.
So flehe ich denn von ganzem Herzen zu dem Sohne Gottes, unserm Herrn, Jesus Christus, der für uns gekreuzigt und auferweckt, sitzt zur Rechten des Vaters, um die Menschen durch Seine Gaben zu beseligen, und bitte Ihn, daß Er diese Kirchlein und mich in derselben schütze und regiere. Einen andern sichern Trost seh' ich in diesem so großen Brande des ganzen Erdenrundes nirgends. Jeder hat seine besondern Hoffnungen, und Jeder sucht mit seinem Verstande in etwas Anderem Beruhigung; doch wie gut das Alles sein mag, so ist es doch ein weit besserer, unbezweifelt wirksamerer Trost, zu dem Sohne Gottes zu fliehen, und von Ihm Hilfe und Rettung zu erwarten.
Und solche Wünsche werden nicht vergeblich sein. Denn darum sind wir mit einer solchen Menge von Gefahren belastet, daß wir in Ereignissen und Begebenheiten, welche menschlicher Klugheit unauflösliche Räthsel sind, die unermeßliche Güte und Gegenwärtigkeit Gottes anerkennen sollen, der um des Sohnes willen, und durch den Sohn uns Beistand leistet. Gott will erkannt werden bei solcher Rettung, gleich wie bei der Rettung der ersten Aeltern, welche nach dem Fall, als sie von allen Geschöpfen verlassen waren, nur durch göttliche Hilfe erhalten wurden. So ward in der Sündfluth die Familie des Noah, so wurden die Israeliten, als sie im rothen Meere zwischen aufgethürmten Wellen standen, gerettet. Diese herrlichen Beispiele werden uns vorgehalten, damit wir wissen sollen, daß auf gleiche Weise die Kirche oft ohne irgend eine Hilfe erschaffener Wesen gerettet wird. Viele erfahren zu allen Zeiten in eignen Gefahren solche göttliche Rettung und Erhaltung, wie David spricht: „Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf!“ Und in einer andern Stelle spricht David: „Er hat den Elenden errettet, der keinen Helfer hatte.“ Um aber dieser so großen Wohlthaten theilhaftig zu werden, muß zuvor der Glaube und die Anrufung in uns entflammt werden, wie geschrieben steht: „Wahrlich! Ich sage Euch.“ Eben so muß der Glaube auch geübt werden, daß er vor der Rettung Hilfe erflehe und erwarte, mit einer gewissen Heiterkeit der Seele in Gott ruhe, und daß nicht fortwährendes Mißtrauen und verzagtes Murren im Herzen hafte, sondern stets die Mahnung Gottes uns vor Augen stehe: „Der Friede Gottes, welcher höher ist, denn alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne;“ d. i. beruhigt euch in Gefahren also in Gott, daß Eure Herzen durch das Vertrauen auf die Erbarmung und Gegenwärtigkeit Gottes gekräftigt, gelassen Hilfe und Errettung erwarten, und die stille Heiterkeit behalten, welche der Anfang ist des ewigen Lebens, und ohne welche wahre Anrufung nicht geschehen kann.
Denn Mißtrauen und Zweifel bringt einen traurigen und schrecklichen Haß gegen Gott hervor, und das ist der Anfang der ewigen Qualen und eine der teufelischen ähnliche Wuth.
Diesen Wogen in den Gemüthem und diesen stürmischen Bewegungen müßt ihr nun vorbeugen, und durch die Betrachtung göttlicher Trostsprüche und durch unausgesetzte Anrufung eure Herzen verwahren und befestigen.
Wahrlich, diese Zeiten verstatten uns nicht die gewohnte Sicherheit und den gewohnten Taumel, sondern sie fordern, daß wir mit aufrichtigem Seufzen um Hilfe flehen, wie der Herr spricht: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet!“ daß ihr nicht, von Verzweifelung übermannt, in das ewige Verderben stürzt. Es ist Weisheit nöthig, um die Gefahren der Seele sowohl, als auch die Hilfsmittel dagegen zu erkennen. Die Seelen gehen verloren, sowohl wenn sie in epikurischer Sicherheit den Zorn Gottes verachten, als auch, wenn sie, vom Zweifel überwältigt, durch ängstliche Bekümmerniß niedergedrückt werden. Und diese Vergehungen häufen die Strafen. Die Frommen hingegen, welche durch Glauben und Anrufung das Herz aufrichten und zu Gott nahen, behalten den Anfang des ewigen Lebens, und erlangen Milderung der allgemeinen Noth.
Wir flehen darum zu Dir, Sohn Gottes, Herr, Jesus Christus, der Du für uns gekreuzigt und auferweckt, im geheimen Rathe der Gottheit stehst, und für uns bittest, und gesprochen: „Kommt zu Mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, Ich will Euch erquicken!“ Ich rufe Dich an von ganzem Herzen, und bitte: vergib nach Deiner unermeßlichen Erbarmung uns unsre Sünden. Du weißt, daß wir in unsrer großen Schwachheit die Last unsers Elends nicht zu tragen vermögen. Darum leiste Du uns Beistand in besonderer und öffentlicher Noth. Sei Du unser Schatten, und schütze, erhalte in diesen Landen die Kirchen und Alles, was ihnen zu Schutz und Pflege dient.