Mayfart, Johann Matthäus - Himmlisches Jerusalem - XXI. Von der Vereinigung Gottes mit der auserwählten Seele.
O du menschliche Seele! Warum mühst und zerarbeitest du dich um ein Stücklein in dieser Welt, da du doch das ganze Reich Gottes aus Gnaden bekommen könntest, wenn du mir nur vertrauen wolltest!
Dass Gott alles in allem sein werde, saget der Apostel Paulus (1 Kor. 15, 28.), und will damit vor allem andeuten, dass die auserwählte Seele mit Gott aufs innigste vereinigt werde; dass ihre Gedanken, ihr Verstand, ihr Wille, ihr Begehren, kurz alle ihre Kräfte in Gott seien. Doch verliert die Seele nicht ihr Wesen; auch verändert sie es nicht, obschon sie mit Gott so nahe vereinigt ist, dass, wer die auserwählte Seele anschaut, meint, er schaue Gott selbst an. Gott thront und wohnt wesentlich in der auserwählten Seele, wie in einem großen Palast, wie in einem heiligen Tempel, wie in einem herrlichen Lusthause. Sie ist sogar ein Geist mit Ihm (1 Kor. 3, 16. 2 Petr. 1, 21.). Gott ist tief eingewurzelt in den Herzen der Auserwählten und die Auserwählten in dem Herzen Gottes. Daher sagt der Prophet auch von dieser Wohnung: „Sie ist fest gegründet auf dem heiligen Berg; der Herr liebt die Tore Zions über alle Wohnungen Jakobs“ (Ps. 87, 1. 2.).
Diese innige mit tausend Banden der Liebe geschlossene Vereinigung erregt bei den himmlischen Geistern eine unaussprechliche Freude und heilige Lust. Das Geheimnis ist groß; darum wollen wir einfältigen Herzen ein geringes Gleichnis vorstellen, um daran dieses hohe Geheimnis nur ein wenig zum Verständnis zu bringen.
Der Schmied nimmt ein Eisen, legt es ins Feuer und regt den Blasebalg, bis es vom Feuer glüht. Das Feuer ist ein gar feiner Stoff. Es verkehrt das Eisen in seine eigene Gestalt. Wer es sieht, meint, es sei kein Eisen mehr, sondern ein Feuer; es wäre seiner Form beraubt und in eine andere verwandelt. Denn aus der schwarzen Substanz ist eine feuerrote, aus der harten eine weiche, aus der kalten eine heiße, aus der hässlichen eine schöne, aus der dunklen eine helle geworden; denn sie leuchtet wie Feuer, sie funkelt wie Feuer, sie wärmt wie Feuer. Und doch ist es ein Eisen und hat sein Wesen behalten und kann nicht anders denn ein glühendes Eisen, oder höchstens, wenn man es sagen könnte, ein eingefeuertes Eisen genannt werden. So ist auch die innigliche Vereinigung der auserwählten Seele mit Gott. Ihr Wesen wird nicht verloren, auch nicht verändert; und dennoch ist Gott in ihr alles in allem. Davon heilige Männer Gottes so zeugen: Gott wird sein ein Licht in unserm Verstande, eine Richtschnur in unserm Willen, eine sanfte Ruhe in unserer Empfindung. Er wird sein in unsern Ohren der lieblichste Gesang, in unserm Geschmack der süßeste Honig, in unserm Gesichte die allerhöchste Schönheit, in unserm Geruch der lieblichste Balsam, in unserm Gefühle die holdseligste Wollust.
Siehe, was für ein großer Unterschied zwischen dem zeitlichen und ewigen Leben! In dem zeitlichen ist Gott nicht alles in allem, sondern nur ein Teil in etlichen. Seine Weisheit wohnte bei Salomo, sonst war Salomo auch ein Abgöttischer. Seine Gütigkeit wohnte bei David, sonst war David auch ein Ehebrecher; seine Geduld bei Hiob, sonst war Hiob auch unleidig; seine Weissagung bei Daniel, sonst war Daniel auch ein Sünder. Im Glauben wohnte Er bei Petrus, sonst war Petrus auch ein Verleugner; in der Liebe bei Johannes, sonst war Johannes auch ein Donnerkind (Mark. 3, 17.); im Eifer bei Moses, sonst war Moses auch ein Zorniger. In dem ewigen Leben aber, wann die auserwählte Seele mit Gott vereinigt ist, wird Gott sein alles in allen. Und da Christus auch den Leib mit der Gottheit vereinigt hat, so werden fromme Christen nicht irren, wenn sie glauben, dass Gott nach der Auferstehung der Leiber alles in allen sein werde, vereinigt mit dem Klopfen des Herzens, vereinigt mit den Blicken der Augen, vereinigt mit dem Hören der Ohren, mit dem Regen der Hände, mit dem Odem des Mundes, mit allen Bewegungen der Glieder.
Herr Jesu! Wie groß ist Deine Gnade! Wenn ein irdischer König auf öffentlicher Straße ein Weib fände, ungestaltet, unehrbar, mit Schwären und Blattern befleckt, in allem Elend versunken, vor aller Welt verachtet, mit Armut und Hunger umgeben; er aber ließe sie aus Erbarmung aufheben, und in seinen Palast führen; er heilte sie mit eigenen Händen; er tröstete sie mit freundlichen Worten; er nährte sie mit seinen Speisen; er kleidete sie in Purpur und Seide; er schmückte sie mit unschätzbarem Geschmeide und nähme sie endlich gar zum Ehegemahl: zu welch einem großen Dank müsste solches Weib ihm verpflichtet sein! Und wir arme Sünder und verlorene Menschen! Was für eine unermessliche Gnade haben wir von Dir, o Jesu, erfahren! Und was für großen Dank sind wir schuldig für diese herrliche Vereinigung mit Dir, mit Deinem Vater, mit dem heiligen Geist. Das weißt Du, Herr Jesu; ich will schweigen. Amen.