MacDuff, John - Bethanien - III. Im finstern Tale.
Dem Gerechten muss das Licht immer wieder aufgehen und Freude den frommen Herzen.
(Ps. 97, 11.)
Bis jetzt waltete in dem trauten Heim in Bethanien nur Glückseligkeit. Seit dem Tode der Eltern war das innige Band unter den Geschwistern nicht gelöst worden. Sollte der unwillkommene Eindringling so nahe sein, sollte der glückliche, kleine Familienkreis so bald von Trauer heimgesucht werden? Vielleicht war Jesus kurze Zeit vorher noch dort, und doch war der Pfeil des Todes schon im Fluge. Die Heiligkeit einer göttlichen Freundschaft bietet keinen Schutz gegen das Eindringen des ruhelosen Feindes menschlichen Glückes.
Bethanien ist nun eine Stätte des Trauerns geworden. Die Schwestern sind von Schmerz niedergebeugt, ihre Stütze ist ihnen genommen, Lazarus ist tot! Lasst uns hier stille stehen und bedenken, dass auch unsere besten irdischen Freuden und das reinste Glück vergänglich ist, dass der hellste Sonnenschein oft der Vorbote einer dunkeln Wolke ist. Während wir uns noch über den Kürbis freuen, kann schon ein Wurm ungesehen an seiner Wurzel nagen. Jetzt noch gleitet das Schiff auf ruhiger See fröhlich dahin, und im nächsten Augenblick zerschellt es schon an dem ungesehenen Felsenriff.
Bedeutsam heißt's in Abrahams Leben: „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham.“ Nach welchen Geschichten? Nach einer Zeit reichen Segens, welcher zu den größten Hoffnungen für die Zukunft zu berechtigen schien.
Bedenken wir in glücklichen Gnadenstunden, wo heilige Freude uns erfüllt, dass diese nicht immer bleiben. In einem kurzen und unerwarteten Augenblick kann unsere Freundschaft zerstört, unser Lazarus uns genommen, ein teures Glied unserer Familie heimgerufen werden. Gott will uns hierdurch zu sich ziehen. Wir sollen eben wissen, dass wir hier nur Fremdlinge sind - bereit seinem Rufe zu folgen, wenn er an uns ergeht, ob auch sein Weg uns dunkel ist.
Lazarus ist tot! Tot das Haupt, die Stütze, der Berater zweier hilflosen Frauen! Lazarus, den Jesus so innig liebte nun tot! Wie viel ist auch für den Herrn selbst mit Lazarus ins frühe Grab gesunken! Wir möchten wohl erwarten, dass ein solches Heim, wo der Heiland so oft weilte zu seiner Stärkung, von dem Todesengel nicht berührt werden könnte, dass er vorbei gehen würde, ähnlich wie beim Passah des Alten Bundes, wo die mit Blut bestrichenen Türpfosten die Zeichen waren, dass der Würgengel vorüberziehen musste. Und welch ein Verlust für die junge christliche Gemeinde? Dem alten Simeon oder der bejahrten Hannah gönnen wir die Ruhe. Sie hatten die Last und Schwachheit des Alters zu tragen, und da sie den Heiland gesehen, konnten sie in Frieden heimgehen. Aber konnte Lazarus, der Freund Jesu, in der Blüte seines Lebens, eine Beute des Todes werden?
Und doch ist es so! Das liebliche Heim in Bethanien ist zerstört, die zärtlichste Liebe steht machtlos da: Lazarus ist tot!
Und schlimmer als alles: der Herr ist fern. Warum zögert er, zu kommen, wo seine Gegenwart und Macht in dem Hause seines Freundes so besonders nötig ist? Die trostlosen Schwestern wundern sich auch hierüber und wiederholen ihre Klage: „Wäre Jesus hier gewesen, unser Bruder wäre nicht gestorben!“ Hat er vergessen, gnädig zu sein? Fürwahr, Du bist ein verborgener Gott! Ja, die Erfahrungen der Seinigen sind oft die gleichen. Wie schwer können wir oft Gottes Führungen verstehen: Alles ist unsern Wünschen entgegen. Wie wunderlich sind doch Gottes Wege, vor unsern Augen verborgen! Unnützes Leben wird verlängert, nützliches Leben genommen! Ein treuer Zeuge Gottes muss hinweg, der untreue wird erhalten. Der wohltätige, gutgesinnte Mensch, dessen Wohltun so notwendig, muss sterben, während der Geizige, der weder Gott fürchtet noch Gutes tut, dem Leben erhalten wird. Ja, es ist die Erfahrung seit 1800 Jahren: ein Judas stirbt nicht und wird ein Verräter seines Herrn, während ein Lazarus frühe sterben muss.
Doch stille! Der Herr tritt zwar nicht persönlich zu uns, wie zu den trauernden Schwestern, um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Viele Wege Gottes bleiben uns jetzt noch in Dunkel gehüllt, die Ewigkeit aber wird einst alles klar machen. Dann werden wir's erkennen: Es musste alles gerade so kommen. Der große Plan Gottes mit uns wird dann offenbar werden. Es musste alles gerade so sein zu unserm Heile. Diese Erzählung soll uns daher lehren, dass Gott, wenn auch wunderbar, doch alles herrlich hinausführt.
Hier bleibt manche Frage ungelöst, welche dort ihre Antwort findet, hier heißt's glauben, wie der Herr in unserer Geschichte fordert: „Wenn du glauben würdest, so solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen.“ Es ist unsere Pflicht, wie Kinder zu vertrauen, dass Gottes Treue und Liebe uns führt, auch wenn wir es nicht sehen. Alles wird uns nicht nur zum Besten dienen, sondern in Wirklichkeit das Beste für uns sein. Die dunkeln Wolken sind mit lichter Gnade umsäumt.
Lazarus ist tot! Der schönste Baum in dem irdischen Eden ist der Art erlegen. Aber Gott bedarf keines Menschen. Sein Volk kann erhalten werden, obgleich kein Moses mehr da ist, Israel über den Jordan zu führen, und kein Lazarus, um die Geschichte von seines Heilandes Gnade und Treue zu erzählen. In unserm Unglauben stehen wir am Grabe unserer liebsten Hoffnungen und unserer teuren Lieben und fragen: „Wird der Staub dich auch preisen, wird er deine Wahrheit verkündigen?“ Doch glaube, glaube! Gott wird uns unsere Toten nicht so zurückgeben, wie er den Schwestern von Bethanien tat, aber er wird uns nichts nehmen, es führe denn zu seiner Herrlichkeit und zu unserer Seligkeit.
Hier müssen wir glauben, im Himmel werden wir schauen. Vor dem Throne seiner Herrlichkeit werden wir erkennen, dass kein einziger unnützer Dorn unsere Füße verletzte, dass kein Kummer uns erspart werden konnte, noch eine Träne unseren Augen. Dann werden wir bekennen: Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat.
Es sei nur unsere Sorge, dass Jesus mit uns und für uns ist in all unserer Not.
Wollen wir ihn, als unsern Helfer, so müssen wir ihn kennen und haben, ehe die Stunde der Trübsal kommt. Lukas erzählt uns das Geheimnis von Marias Glauben. Sie hatte lange vor der Prüfungsstunde gelernt, Jesu zu Füßen zu sitzen. Suchen wir den Herrn in Glück und in gesunden Tagen. Kommt dann die Wolke, können wir wie Martha und Maria zu Jesu eilen, ihm unsern Kummer zu sagen, um dann auch von ihm getröstet zu werden. Seine holdseligen Lippen haben eine ungezählte Schar von Trauernden seit 1800 Jahren getröstet. Jesus ist mit uns, der Herr ist da! Seine Gegenwart macht das bitterste Leiden süß, wie in Bethanien, wo er die Trauer in heilige Freude wandelte.