Luther, Martin - Sinnreiche Tischreden - Vorrede
Die Tischreden Luthers, welche hiermit aufs Neue im Druck erscheinen, haben von Anfang an die Aufmerksamkeit der Freunde und Feinde des großen Reformators im höchsten Grade auf sich gezogen, und verdienen schon wegen ihres merkwürdigen Schicksals, wegen der Bewunderung, Verteidigung, Verleugnung, Bezweiflung, die ihnen von protestantischer Seite widerfahren ist, wegen der vielfachen, auf ihre wirkliche Abkunft von Luther sich gründenden feindseligen Angriffe, die von ihnen aus gegen die Person und Lehre dieses Mannes von katholischer Seite gemacht worden sind, auch in unserer Zeit eine vorzügliche Beachtung.
Wer mit gehöriger Berücksichtigung der Zeit, der Umstände, der Stellung des Mannes, aus dessen Munde sie geflossen sind, und mit gerechter Unterscheidung seines wahren, innersten Wesens von seiner äußeren, durch die Verhältnisse bedingt hie und da einseitig auftretenden Erscheinung seine Tischreden, welche überdies als vertrauliche Privat-Unterhaltungen zu betrachten sind, liest, der wird manches harte, leidenschaftlich-polemische, mit unseren modernen Begriffen von Anstand nicht vereinbare Wort in denselben recht wohl zu würdigen verstehen und es gerne entschuldigen, da er in denselben so überwiegend viele ausgezeichnete und vortreffliche Urteile über alle möglichen, in den Bereich der Unterhaltung hereinziehbaren Gegenstände vorfinden wird. Es werden religiöse, kirchliche, politische, geschichtliche und ökonomische Materien besprochen; religiöse und kirchliche jedoch am meisten, wie denn überhaupt Luther politische, geschichtliche und ökonomische Verhältnisse nur in ihrer Beziehung auf Religion und Kirche betrachtete. Er, der große Reformator, der die Idee, die sein Jahrhundert forderte, erfasst und zur Verwirklichung gebracht hatte, brachte natürlicher Weise auch in vertraulichen Kreisen immer dieselben vor; darum herrscht in seinen Tischreden oft ein tiefer und strenger Ernst, indem es ihm um die reine Erhaltung und Fortpflanzung dieser Idee durch seine Freunde zu tun ist. In dieser Beziehung wirken diese Tischreden auf Belehrung, Ermahnung, Stärkung und Erbauung, und werden diese Wirkung auf jeden Freund evangelischer Wahrheit, welcher sie liest, nicht verfehlen. Aber der Geist Luthers war auch eine sprudelnde Quelle voll treffenden Witzes, dem er in vertraulichen Kreisen freien Lauf ließ, und diese Quelle fließt nun auch ganz besonders reichlich in den Tischreden mitten durch den tiefsten Ernst, und in so fern wirkten dieselben auch auf die Ergötzung seiner Freunde, und werden diese ergötzliche Wirkung auch jetzt auf den Leser nicht verfehlen. Weil aber der Witz Luthers in seinen Tischreden oft beißend gegen die Gegner seiner Sache, die er fest für die Sache Gottes hielt, sich auslässt, so hat ganz besonders dieser bei denselben große Erbitterung erregt, mit welcher sie gewisse derbe, in das nach unsern modernen Begriffen Unanständige streitende Äußerungen als Mittel zu Schmähungen seines Charakters gebrauchten. Dass wir solche Äußerungen Luthers nach den Begriffen seiner Zeit von Anstand zu beurteilen haben, gebietet die Gerechtigkeit, und dass dieselben gegen seinen Charakter Nichts beweisen können, geht aus seiner oft und kräftig ausgesprochenen Verachtung alles wahrhaft Gemeinen und Unsittlichen hervor. Gegen sittliches Verderben lässt er sich gerade am freiesten, unverhohlensten und schonungslosesten heraus, und worin kann seine polemische Hitze einen bessern Entschuldigungsgrund finden, als in seiner echten, eifrigen Sittlichkeit? Übrigens gibt er selbst zu, dass über Tische sein Fleisch und Blut Manches gesprochen habe, und so werden wir im Sinne Luthers selbst nicht Alles, was er in seinen Tischreden gesprochen hat, für untrügliche Wahrheit halten oder durchaus billigen müssen. Für eine Norm der protestantischen Kirchenlehre darf man, wie es schon unbefugter Weise geschehen ist, ohnedies die Tischreden nicht halten, auch wenn sie von Luther selbst zum Druck befördert worden wären. Da aber Letzteres nicht der Fall, und der Druck ohne sein Wissen und Willen nach seinem Tode veranstaltet worden ist, so ist manches Wort in den Tischreden gedruckt, was Luther selbst vielleicht nie hätte drucken lassen.
Auch muss man wohl, wenn man die Art und Weise der Aufzeichnung und Sammlung der Tischreden kennt, zugeben, dass wir Manches jetzt darin lesen, was Luther nicht so gesagt hat, wie es gedruckt ist, was aber durch Missverständnisse und Gedächtnisfehler seiner Freunde hineingekommen ist, wiewohl man die Ansichten der protestantischen Theologen, welche es geradezu geleugnet oder bezweifelt haben, dass die Tischreden aus dem Munde Luthers geflossen seien, deswegen als unbegründet zurückweisen muss, weil Luther nach seinem ganzen Wesen so sprechen konnte, und seine Freunde, die seine Worte aufgezeichnet und gesammelt haben, zu ehrliche Männer waren, als dass sie Tischreden von ihrem so hoch verehrten Lehrer, die er nicht gehalten hätte, hätten erdichten können. Die Tischreden Luthers sind aber, um von ihrer Entstehung und Abfassung Etwas zu sagen, solche Reden, die Luther bei Tische oder sonst wo an seine Tischgenossen und andere Personen gerichtet hat, und von Mehreren, wie z. B. von M. Anton Lauterbach, W. Veit Dietrich, W. Hieronymus Besoldus, M. Johann Schlaginhaufen, M. Johann Mathesius, W. Georg Rörer, M. Johann Stolz, W. Jakob Weber, nachdem sie dieselben gehört hatten, aufgezeichnet, und aus diesen Aufzeichnungen von Johann Aurifaber, welcher auch noch das, was er selbst im vertraulichen Umgange mit Luther von ihm gehört hatte, beitrug, zusammengetragen und im Jahre 1566 zu Eisleben in einer Sammlung herausgegeben worden sind.
Was nun unsere neue Ausgabe dieser Tischreden Luthers betrifft, so entspricht sie vollständig und genau der ersten Ausgabe Aurifabers, wie diese von Johann Georg Walch in seine Sammlung der sämtlichen Schriften Luthers (Halle bei Just. Gebauer 1743) als der 22. Teil aufgenommen worden ist. Wir haben Aurifabers Einteilung des Werkes in 80 Kapitel, nebst einem Anhang, sowie die Einrichtung, dass jedem Kapitel auf die einzelnen darin behandelten Materien genau eingehende Inhaltsanzeigen, und in jedem Kapitel, jeder Materie noch besondere Inhaltsanzeigen vorangestellt sind, beibehalten1). Wir haben uns wohl gehütet, die Gedanken Luthers und seine eigentümliche Art, dieselben in der Sprache auszudrücken, in unserer Ausgabe auf eine entstellende oder verletzende Weise anzutasten. Nur was zur Beförderung des allgemeinen Verständnisses für unsere jetzige Zeit zu ändern notwendig war, ist an der äußern Form der Sprache geändert worden. In unserer Zeit nicht mehr geläufige, unbekannt gewordene, unverständliche Worte sind gestrichen, und dafür neuere, passende und den Sinn Luthers vollkommen ausdrückende gesetzt und lateinische in deutsche umgewandelt worden. Einzelne lateinische Sätze, die am besten unübersetzt blieben, weil sie so schlagender sind, hat man stehen lassen. Zu alte, uns ungewohnte und uns den Sinn verhüllende oder erschwerende Wortstellungen und Satzverbindungen wurden nach den neueren Sprachregeln verändert und zum Behufe einer leichteren Auffassung zurechtgerichtet. Auf diese Weise empfängt das Publikum die, wegen ihres Schicksals und Inhalts so interessanten Tischreden Luthers in einer, sowohl was die Gedanken als was die Ausdrucksweise derselben betrifft, unverstümmelten, ursprünglichen, leicht verständlichen Gestalt, und wir das eigentümliche Gepräge des urkräftigen, lebendigen, scharfsinnigen, frommen, ernsten und witzigen Geistes Luthers, wie er auch in vertraulichen Unterhaltungen erscheint, nirgends vermissen.