Luthardt, Christoph Ernst - Am Karfreitag.

Luthardt, Christoph Ernst - Am Karfreitag.

O Lamm Gottes, unschuldig
Am Stamm des Kreuzes geschlachtet,
Allzeit funden geduldig,
Wiewohl du warest verachtet;
All Sünd hast du getragen,
Sonst müssten wir verzagen.
Erbarm dich unser, o Jesu.

Da Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht und neigte das Haupt und verschied.
Joh. 19,30

Geliebte in dem Herrn! Es ist heute der große Trauertag der Christenheit. Wenn wir sonst an Bußtagen der Sünden der ganzen Gemeinde, des ganzen Volkes und Landes gedenken, so ist es heute die Sünde der Welt, welche vor unsere Seele tritt. Wenn wir sonst in der Zeit der Passion das bittere Leiden unseres Herrn und Heilandes reuevoll und dankbar betrachten, so ist es heute sein schmerzensreicher Tod, dessen Gedächtnis wie ein Schwert in die Seele dringt, und doch mit göttlichem Trost die Wunden des Gewissens heilt. Lasst uns vor Allem heute unser Auge fest auf ihn gerichtet halten, und seine Liebes- und Leidensgestalt ins Herz uns prägen. Was aber Anklagendes und Niederbeugendes in seinem Sterben liegt, dem wollen wir nicht ausweichen, sondern den Stachel in uns eindringen lassen.

Vor allen anderen Worten, welche Jesus am Kreuz gesprochen und die uns überliefert sind, fasst das Ganze zusammen und macht den rechten Schluss seines Lebens dasjenige, welches ich vorhin verlesen habe: „Es ist vollbracht“. Was der Sterbende damit meine, brauchen wir nicht erst zu fragen. Es ist das Leiden und das Werk der Liebe; es ist das Leiden der Liebe des Sohnes; es ist das Werk der Liebe des Vaters, was er vollbracht weiß: dieses in jenem. Das lasst uns des Näheren betrachten.

Man pflegte sonst wohl am Karfreitag die Passionshistorie zu lesen; und wer vermöchte auch gerade an diesem Tage die erschütternde Predigt der Geschichte mit eigenen Worten würdig zu begleiten? Darum lasst mich bei dem Einen verweilen, bei der Betrachtung, wie nunmehr das Leiden der Liebe zu seinem Ende und damit der Ratschluss der Liebe zu seinem Vollzuge gekommen. Von der Höhe Golgathas aus wollen wir den Weg des Leidens überschauen, welchen der Herr bis daher gegangen. Als am Donnerstagabend Judas den Bissen von Jesu trotzig empfangen, da war er damit auch der Gewalt des Satan unrettbar verfallen und seine Tat entschieden. Vom Mahle stand er auf und ging hinaus in die Nacht, um das Werk der Finsternis vorzubereiten, während im Gemache bei den Zurückgebliebenen sich das Herz des Heilands in den lieblichsten Reden wie in Strömen der Liebe ergoss und sein fürbittendes Gebet, von der Erde zum Himmel aufsteigend, die Gemeinden aller Zeiten und Orte vor den Thron der Gnaden trug. Aber von den lichten Bahnen der himmlischen Höhe, auf denen des Sieges gewiss und fröhlich seine Gedanken glaubend weilten, führt ihn seine Liebe wieder zurück in das dunkle Tal der schwersten Leiden. . Leidensvoll ist Jesu ganzes Leben gewesen; aber sein letztes, eigentliches Leiden begann da, als er die Tore Jerusalems verließ, über den Kidron ging und in jenen Garten eintrat, in welchem er mit der Schwachheit des Fleisches, mit dem Grauen des Todes und der Versuchung des Argen den schwersten, schmerzlichsten Kampf kämpfen sollte, der erdacht werden mag.

Lange zuvor schon hatte er geklagt: Ich muss mich taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange, bis sie vollendet werde (Luk. 12, 50). Aber als nun an ihn herantrat, davor ihm bange war, und dem er doch bewusst und mit Willen entgegenging, wie fiel die Wucht der Aufgabe, welcher er sich unterzogen hatte, erdrückend auf ihn! Der vordem die Traurigen alle zu sich gerufen, dessen Seele ist nun betrübt bis in den Tod. Der sich so eben noch den Weinstock genannt, daran als Reben seine Jünger hängen sollten, der sucht nun den Trost ihrer Gemeinschaft, um sich daran zu halten. Dem seine Lust war, des Vaters Willen allzeit zu tun, wie fährt der nun zurück vor dem Weg, welchen er gehen sollte. Der dem Sturme einst geboten, und die Teufel bedräut und dem Tode Befehl gegeben hatte, seine Beute herauszugeben der liegt am Boden wie ein geknicktes Rohr, zitternd und zagend, ringend in Angst. Wer will die Angst seiner Seele aussagen und das Geheimnis seiner Schrecken verkündigen?

Der Tod ist jederzeit und für Jeden widernatürlich und ein Gericht Gottes am Fleische, vollzogen durch den, welcher des Todes Gewalt hat und Herr ist. Wie musste er aber erst bei dem widernatürlich und ein Grauen sein, welcher das Leben selber, gottgeeintes, heiliges Leben von Anfang an war, welcher in seiner heiligen Menschennatur nichts hatte, das dem Tode verwandt war, außer der Schwachheit und Leidensfähigkeit seines Fleisches. Wie musste das ewige Leben zurückschrecken vor den Toren des Todes, das sündenlose, heilige Leben vor dem Gerichte des Todes, seine Gottesgemeinschaft und Liebeseinheit mit dem Vater vor der Gottesferne des Todes! Kaum von ferne mögen wir ahnen, was ihn im Innern bewegte, ängstigte, erschütterte. Nur was wir sehen und hören, gibt eine schwache Vorstellung davon. „Und er fing an zu zittern und zu zagen; und es kam, dass er mit dem Tode rang und betete heftiger; und es ward sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.“

Aber die Hingebung seiner Liebe, mit der er sich dem Vater opferte, hat überwunden, hat auch den Argen überwunden, der versuchend ihm nahe trat. Denn wie der Arge dort in der Wüste beim Beginn seines Amtes ihm mit der Versuchung genaht war, dass er seinem Berufswirken untreu werden solle, so jetzt am Schluss, dass er seinem Berufsleiden sich entziehen solle. Mit dem Worte Gottes hat er ihn dort, mit Gebet und Flehen hat er ihn hier besiegt. Und wie dort dem von Hunger Erschöpften die Engel zu dienen kamen, so hier, um den zum Tode Matten zur Ertragung des Leidens zu stärken. So siegreich und gestärkt erhob er sich, den Häschern entgegenzugehen.

Der Zwölfen Einer musste der Verräter sein, und das Zeichen der Liebe musste der Bosheit des Hasses dienen, das mit nichts fehle, was dazu gehörte, um die Bitterkeit seines Leidens voll zu machen. Das Wort aber des unerwartet Entgegentretenden und frei sich Darbietenden musste die Erschrockenen zurückweichen und zu Boden fallen machen, damit offenbar werde, dass er sich frei in die Hände seiner Feinde hingegeben habe, und er nimmermehr in ihre Gewalt gekommen wäre, hätte seine freie Liebe es nicht gewollt. Und seine Liebe war es, die sowohl für die Rettung der Jünger Sorge trug, damit der Anvertrauten Keiner verloren gehe, außer jenem Kinde des Verderbens, als auch unangemessene Weise der Verteidigung abwehrte, zum Zeichen, dass nicht durch Töten, sondern durch Sterben Christus und seine Kirche verteidigt sein will.

Es waren die ersten Stunden nach Mitternacht, als er zu Hannas geführt wurde, um in vorläufiger Weise verhört zu werden. Aber er weist alle Fragen zurück, um auch nicht den Schein zu erregen, als wolle er etwas tun, was seine Freisprechung veranlassen könnte. Denn nachdem seine Hingebung in den Willen des Vaters die Schwachheit des Fleisches ganz geopfert hatte, waren seine Gedanken fest und entschieden nur auf das Eine gerichtet, dass er in Liebe sich dargeben wolle für die Sünden der Welt. So kam es, dass er gebunden zu Caiphas geführt und vor den hohen Rat gestellt wurde. Damit war auch schon entschieden, wie der Spruch des Gerichtes lauten werde. Aber nicht die Anklagen der Arglist, nicht die Anschuldigungen falscher Zeugen, nicht verdrehte Worte seines Mundes, sondern allein das Bekenntnis der Wahrheit, allein das Zeugnis seiner Gottessohnschaft sollte den Spruch veranlassen, mit welchem Israel seinen Heiland verwarf, und über den Heiligen Gottes das Gericht des Todes aussprach. Seitdem ist aller Welt kund, dass man nichts gegen ihn zu finden wusste, als, dass er stets auf dem Einen blieb: ich bin der Sohn des Allerhöchsten, in Niedrigkeit gekommen jetzt, in Herrlichkeit wiederkommend zukünftig. Und seitdem hat Niemand das Recht, einzelne seiner Worte sich auszuwählen nach Belieben und dagegen das Bekenntnis zurückzuweisen, und diejenige Hoffnung für eitel zu achten, um deren willen er doch gestorben ist und das Siegel seines Todes darauf gedrückt hat. Alle seine Verkündigung, alle seine Worte - sie gipfeln in dem Einen: Du sagst es. Aber das muss seine Sünde sein, dass er um unsertwillen ein armer Mensch geworden ist und sich nicht, um sich etwa zu rechtfertigen, hat verleiten lassen, ohne Beruf seine zukünftige Herrlichkeit zu offenbaren; denn um deswillen muss Lüge und Gotteslästerung heißen, was Wahrheit ist und Gottes wunderbare Liebe predigt.

Als er von Hannas zu Caiphas geführt wurde, begegnete sein trauernder Blick dem Auge des Petrus, der so eben zum dritten Male ihn verleugnet hatte. Und als man ihn zum Tod verurteilt, von Caiphas zu Pilatus schleppte, da schrak in Angst und Verzweiflung Judas auf und ging hin an seinen Ort. Die Oberen seines Volkes verwarfen und misshandeln ihn; den er unter seinen Vertrauten zum Freund erwählt hatte, der hatte ihn verraten und geht mit dem Fluch der Sünde schreckensvoll aus der Welt; und der zum Fels der Kirche erkoren war, hat ihn verleugnet! So sollte die Bitterkeit der Leiden in Fluten sich über ihn ergießen. Damit aber die Sünde zur Sünde der Welt werde, muss der Arm der heidnischen Obrigkeit dazu dienen, mit grausamer Willkür zu vollziehen, was der Hass Israels beschlossen. Von seinem Volke dem Mörder nachgesetzt, vom Fürsten Galiläas wie ein Irrsinniger gehöhnt, vom römischen Beamten zuerst verachtet, dann gefürchtet, zuletzt preisgegeben: so stand er dort, den Menschen und Engeln ein Schauspiel - Gottes ewiger Sohn, der ganzen Schar fühlloser Kriegsknechte unter den Händen, mit Purpurmantel und Dornenkrone höhnisch geschmückt, durch Gruß und Beschimpfung, spöttische Verehrung und Schläge misshandelt; mit blutendem Haupt, mit schmerzlich zerfleischtem Rücken: so saß er dort, der vordem auf dem Throne Gottes gesessen, und Licht zu seinem Kleid, die Sterne zum Diadem und die Lobgesänge der Engel zur Begrüßung gehabt hatte. Und das Alles, damit er die Seelen derer gewinne, die ihm solches taten, und die Sünden derer büße, die nicht nach ihm fragten, und die Schuld derer tilge, die ihn nicht liebten, und uns mit Gott versöhne, noch ehe wir geboren waren! Aber er sah in uns Armen, er sah auch in den Verworfensten die verborgenen, entstellten Züge seines Bildes das ließ seine Liebe nicht ruhen; er musste suchen, uns zu erretten. Er sah im Herzen des Vaters den ewigen Liebesratschluss, dass die Menschheit selig und alle Welt Gottes werde das trieb ihn, nachzugehen den Verlorenen, um aus dem Fluch der Gottesentfremdung sie wieder herzuzubringen zu Gott. Er sah das Elend der Irrenden und den Jammer der Hilflosen -: das litt ihn nicht im Himmel; er musste in die Tiefe hinabsteigen, um hier den gefallenen Menschen zu finden, zu ergreifen, zu holen. Um deswillen hat er alle Sünde und allen Fluch der Sünde, alles Gericht Gottes und allen Hass der Feindschaft wider Gott auf sein blutiges Haupt gesammelt.

O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn!
O Haupt, zum Spott gebunden
Mit einer Dornenkron!
O Haupt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr' und Zier,
Jetzt aber höchst schimpfieret,
Gegrüßet seist du mir!

Fünf Tage vorher war er von Bethanien her, als König Israels begrüßt, von jubelnden Haufen geleitet, aber Tränen in den Augen, durch das Tor Jerusalems gegangen; jetzt geht er unter der Last des Kreuzes, erschöpft zum Tode, als ein verurteilter Missetäter von den Kriegsknechten geschleppt, von rohen Haufen begleitet, von weichherzigen Frauen beweint zur gottverlassenen Stadt hinaus.

Wenn des Vaters einiges Kind also geschlagen wird, was will dem Sünder begegnen? Wie mag dieser dem Gerichte Gottes und seinem Zorn entfliehen? Da hilft es nichts, den Juden zürnen, die Heiden schelten, und über Jesu Leiden weinen. Es hilft allein, über die eigne Sünde, die solches verursacht hat, Tränen zu finden und mit betrübtem, zerschlagenem Geist bekennen: „Fürwahr Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf Ihm, auf, dass wir Frieden hätten und durch seine Wunden sind wir geheilt.“.

Er ist verheißen als einer, welches Herrschaft ist auf seiner Schulter. Nun trägt er das Kreuz. Aber dies hat werden sollen zum Siegeszeichen. Er ist geweissagt als einer, der königlich thronen soll auf Zion. Nun muss er sterben vor Jerusalems Toren. Aber er wird ans Kreuz erhöht, um von der Höhe des Himmels sein ewiges Reich zu gründen. Er ist gekommen als einer, dem die Engel dienen. Nun kann er nicht einmal unter seinen Freunden Jemanden finden, der dem Todmüden seine Last abnehme; einen Fremdling aus Afrika zwingt man dazu. Aber das ist geschehen zum Zeichen, dass er die Starken zum Raube haben soll, und, dass die Kinder aus der Ferne zu ihm gesammelt werden.

Auf den Höhen der Erde sind die meisten Taten Gottes von jeher geschehen. So geht auch jetzt der Leidenszug die Höhe Golgathas hinauf: ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Was hier nun geschehen, das fassen die Evangelisten in das Wort: „Sie kreuzigten ihn allda.“ Mein Christ, „tritt her und schau mit Fleiße.“ Das Kreuz ist aufgerichtet und in der Erde befestigt.

Die Kleider sind ihm ausgezogen, Nun nimmt man ihn und hebt ihn empor, setzt ihn auf den Pflock, der mitten am Kreuzesstamme angebracht ist. Der zerfleischte Rücken wird an den Pfahl gepresst, das wunde Haupt aufgerichtet, die Arme ausgespannt und mit Stricken angebunden und große Nägel treiben sie durch die flachen Hände; dann werden die Füße ausgedehnt und angenagelt. Siehe, da den Herrn der Herrlichkeit. Solches musste Christus leiden.

Herz in Todespresse,
Mund voll Todesnässe,
Augen im Vergehn,
Glieder voller Wehe,
Hände, drin ich sehe
Nägelmale stehn,
Haupt voll Gottesmajestät
Blutig wund, und überlaufen
Von des Zornes Taufen.

So hing er da wie ein Verbrecher am Kreuz und wie ein Verfluchter des Herrn am Holze. Aber seine Liebe hat den Ort der Schrecken lieblich, und den Anblick des Grauens selig, und die gemiedene Stätte von aller Welt begehrt gemacht. Jener lockende Baum im Paradies war der Ort, von welchem der Tod in die Welt ausging, und da die Menschen, von Gott sich schieden; dieser dürre Pfahl ist die Stätte, da das Leben ausgeht und alle Sünder wieder zu Gott sich sammeln. Hier hat das Paradies wieder angehoben auf Erden, hier weilen eines Christen Gedanken am liebsten und bauen sich ihre Hütte, darin sie mit Gott zusammen wohnen. Am Fuße des Kreuzes wollen wir unseren Pilgerstab niederlegen, alles irdische Bes gehren und Wünschen begraben, und der seligen Friedensgemeinschaft Gottes uns freuen.

Sei mir tausendmal gegrüßet,
Der mich je und je geliebt,
Jesu, der du selbst gebüßet
Das, womit ich dich betrübt.
Ach, wie ist mir doch so wohl,
Wann ich knien und liegen soll
An dem Kreuz, da du stirbest
Und um meine Seele wirbest.

Die Überschrift am Kreuz, in der Sprache des heiligen Landes, in der Sprache der gebildeten Welt und in der Sprache der Herren der Erde, zum Hohn gemeint und Anlass der Verleugnung, musste dazu dienen, von der Wahrheit Allen Zeugnis abzulegen. Die Teilung der Kleider und die Verlosung des Gewandes, eine herzlose Rohheit, welche vor seinen Augen mit seinem Eigentum schaltete, als wäre er schon tot, musste durch die Erfüllung der Weissagung ihn verherrlichen helfen. Und die höhnenden Spottreden, mit welchen der große Fürst der Ehren sich willig lässt beschweren, haben nur seinen Gehorsam, seine Liebe und seinen Glauben umso heller ins Licht gestellt. Aber eine Klage erfüllt seine Seele, wenn er sein Volk ansieht, und bewegt sein Gemüt, wenn wir seiner Liebe vergessend durch unsere Sünden ihn wieder kreuzigen: „Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beleidigt? Das sage mir.“

Von 9 Uhr vormittags bis 3 Uhr nachmittags hing er am Kreuz. Sieben Worte sind uns überliefert, welche er in dieser Zeit gesprochen: drei in der ersten, vier in der zweiten Hälfte. Ein Wort der Fürbitte war das erste. Denn so geziemt es seiner Liebe, nicht an sich zunächst, sondern an seine Feinde zu denken, und nicht was man ihm tat, sondern die Sünde gegen Gott in ihrem Tun zu sehen. Und das ist das Meisterstück seiner Liebe, dass das verschuldete Nichtwissen, welches Grund der Anklage ist, von ihm zur Entschuldigung gewandt wird. Ein Wort der Begnadigung ist das andere Wort. Denn so geziemte es seiner Liebe, mitten in der Qual und Pein dem armen Sünder die Frucht seiner Leiden trostreich und machtvoll zuzusprechen. Ein Wort der Fürsorge ist das dritte Wort, für diejenige, welche im irdischen Leben ihm die nächste war, und welcher das geweissagte Schwert nun durch die Seele drang. Denn so geziemte es seiner Liebe, da seine Mutter nun von ihm scheiden sollte in mehr als einem Sinne, fürsorglich sie zu bedenken, und wie er allezeit geliebt hatte die Seinen, die in der Welt waren, so sie zu lieben bis ans Ende. Die Gottlosen zu bekehren, die Bekehrten zu begnadigen, die Begnadigten fürsorglich zu bedenken: das sind seine Gedanken und Sorgen noch hier am Kreuz gewesen.

Drei segnende Worte hatte er in den ersten Stunden von der Höhe des Kreuzes herab gerufen, vier Opferworte sind es, die er in den letzten Stunden aus der Tiefe ruft.

Um Mittag lagerte sich eine Finsternis über das Land, so weit man von Golgatha aus schauen mochte. Und dunkel ward es nun auch in seinem Innern. „Gott hilf mir; denn das Wasser geht mir bis an die Seele“ (Ps. 69); „deine Fluten rauschen daher, dass hier eine Tiefe und da eine Tiefe braust; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich“ (Ps. 42); „ach du Herr wie so lange! Herr wie lange willst du dich so gar verbergen und deinen Grimm wie Feuer brennen lassen“ (Ps. 6): das war seine Empfindung. Keine Erfahrung der Liebe Gottes war ihm nunmehr vergönnt: das klagte er gegen Gott. Es blieb ihm nichts als sein Glaube, dass dennoch Gott sein Gott sei; in diesem fasste er sich zusammen und war stille zu Gott. Nun wars zu Ende. Den betäubenden Trank am Anfang hatte er abgewiesen, denn er wollte mit Bewusstsein leiden und sterben. Aber den stärkenden Trank am Schlusse begehrte er; denn er wollte nicht der Mattigkeit und dem brennenden Durste erliegen, sondern in Freiheit aus dem Leben scheiden. Er schaut zurück auf die Weissagungen des Alten Testamentes und auf den Liebesratschluss des Vaters, und blickt dann auf die Wege seines Tuns und Wirkens vom Jordan und Galiläa an und auf die Pfade seines Leidens vom Kidron und Gethsemane an - und sieht die Weissagungen der Schrift erfüllt, den Liebesratschluss seines Vaters vollzogen: da bezeugt er, dass es Alles vollbracht sei, was geschehen sollte, und befiehlt seinen Geist dem Vater. Geliebte! Sollten wir noch fragen: was das uns bedeute und gewonnen habe? Der zerrissene Vorhang und die erschlossenen Gräber sagen es uns. Der Zugang zur Gnade Gottes ist eröffnet durch das hohepriesterliche Opfer, und der Weg aus dem Tode zum Leben ist eröffnet durch den Tod des wahrhaftigen Lebens. Was die irrende Menschheit in Opfer und Büßung, in Schrecken und Angst gesucht und nicht gefunden; was die Altäre Israels geweissagt und nicht geleistet : die Sünde ist vergeben und eine ewige Erlösung erfunden. „Nun ist groß Fried ohn‘ Unterlass.“ Was die Welt der Heiden schmerzvoll gemisst und von Ferne geahnt; was das Wort der Offenbarung in Israel von Weitem gezeigt und seine Geschichte im Vorbild verheißen -: der Tag eines neuen Lebens, für welches die Sünde überwunden und der Tod unter die Füße getreten ist, ist angebrochen auf der dunklen Höhe Golgathas und im Tode des Lebensfürsten aufgegangen. „Das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen.“

Er ist gestorben und wir leben jetzt davon, leben ein Leben, für welches es keinen Tod mehr gibt. Darum, so mannigfachen Beruf uns Gott gegeben hat und so verschieden er uns führen mag: unter dem Kreuz wollen wir allzeit uns begegnen und gemeinsam Lob und Preis singen dem Lamme, das erwürgt ist und hat uns Gotte erkauft mit seinem Blute und lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/l/luthardt/luthardt_zehn_predigten/luthardt_zehn_predigten_karfreitag.txt · Zuletzt geändert: von aj
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain