Lobstein, Friedrich - Die letzten Worte - VI. Woher kommst du und wohin gehst du?
1. Buch Mosis 16, 7, 8.
Der letzte Abend des Jahres erweckt viele Erinnerungen. Hinter uns liegen dreihundertfünfundsechzig Tage, und wer weiß, wie viel andere Tage der Herr noch zu den dahingegangenen hinzufügen wird. Der Engel des Herrn, welcher einst der Hagar, der Magd Sarahs, erschien, stellt auch an uns an der Schwelle des neuen Jahres die Frage: „Woher kommst du und wohin gehst du?“ Wir haben hinter uns und vor uns zu blicken; der Wanderer hält manchmal still auf seinem Gange, um die Gegend zu besehen, welche er bereits durchstreift hat und um in der Stille den noch übrigen Weg zu ermessen. Hienieden steht der Mensch zwischen Vergangenheit und Zukunft; er lebt von Erinnerungen und Hoffnungen; ist doch der gegenwärtige Augenblick nur ein kaum bemerkbarer Punkt im Leben. Und doch besteht das wahre Leben in dem Gebrauche dieses Augenblicks; was vergangen ist, gehört uns nicht mehr an, und die Schrift sagt auch von dem, was noch vor uns liegt: „Rühme dich nicht des morgenden Tags, denn du weißt nicht, was er bringen wird.“ - Nichtsdestoweniger haben Vergangenheit und Zukunft einen entscheidenden Einfluss auf unser Leben und auf die Gegenwart. Sollten die früheren Jahre uns nichts gelehrt haben? Und verursacht dir nicht die Frage: „Wohin gehst du?“ fast einen Schauer, indem sie dich an das Ende aller Dinge erinnert? Wir, die wir hier versammelt sind, wie verschieden sind wir voneinander; nicht zwei Leben, nicht zwei Gemütsarten sind dieselben, und die Frage des Engels: „Woher kommst du und wohin gehst du?“ richtet sich an jeden Einzelnen; ein jeder Einzelne muss sich fragen, wie es mit ihm steht. Andererseits hat das Leben gemeinsame Seiten, welche ich ins Auge fassen will. Wie manche Betrachtungen erweckt der letzte Abend des Jahres, schauen wir auf die verschwundenen zwölf Monate, und des Engels Frage: „Wohin gehst du?“ richtet sich an drei verschiedene Arten von Persönlichkeiten. Wir wollen sie näher betrachten. Dieser Überblick soll uns zu einem andern leiten, welcher vom heiligen Geist stammt; der Engel fand Hagar in der Einsamkeit; er wird hoffentlich diesen Abend auch dich noch in deinem Kämmerlein finden und wird dir unmittelbarer von dem sprechen, was wir hier nur allgemein berühren können.
Blick zurück auf das entschwundene Jahr und frage sich ein Jedes: „Woher kommst du?“ Die erste Betrachtung, welche sich einstellt, betrifft gewiss die Flüchtigkeit des Lebens. Was ist aus dem letzten Sommer, dem darauffolgenden Herbst, aus dem ganzen Jahre geworden? Ist es nicht schneller, denn irgendein anderes verflossen? Siehst du nicht, wie mit dem Fortschritt des Lebens jedes Jahr ernster wird? Nur der Sinnlose erschrickt nicht, wenn er sieht, wie er dahin gerafft wird von der Zeit, die alles verschlingt. Dies gilt nicht nur von dem letzten Jahr, sondern von allen unsern Lebensjahren. „Kurz ist die Zeit,“ sagt die Schrift; steig' hinauf bis zu den ersten Jugendjahren; gewiss erinnerst du dich mancher Dinge, welche du getan, als du klein warst; ist dirs nicht, als ob dies Alles erst gestern geschehen wäre? Du musst aber wissen, dass die Zeit, die noch vor dir liegt, schneller dahinschwinden wird als die Vergangenheit. Gott mag dir noch zehn, zwanzig, dreißig Jahre schenken; die dreißig der Zukunft werden schneller entfliehen als die zehn der Vergangenheit. Da wird einem klar, wie der hundertzwanzigjährige Erzvater sagen konnte: „Die Tage meines Lebens waren kurz;“ so wird einem klar, wenn die Apostel stets wiederholten: „Das Ende ist nahe;“ und wenn der Herr selbst sagen mochte: „Ich komme bald.“
Erwägen wir nun den Gebrauch des vollendeten Jahres, so steigt uns gleich eine zweite traurige Betrachtung auf. Wir erkennen das nämliche Resultat unsrer guten Vorsätze. Am ersten Januar nimmt man sich gründlich die schönsten Dinge vor; untersucht man aber am einunddreißigsten Dezember, was aus solchen christlichen Entschlüssen geworden, so findet man, dass man ungefähr derselbe Mensch geblieben ist, nur ist man um ein Jahr älter geworden. Wer von uns ist in Wahrheit vorangeschritten? Die Hand auf der Brust, sage dir, ob du von einer einzigen Sünde geheilt bist? Hast du eine einzige Wurzel des Übels gänzlich ausgerissen? Was ist aus all den Predigten geworden, die du gehört? aus all' den Worten der Schrift, die du gelesen oder an die du gemahnt wurdest? aus all' den geistlichen Hilfsmitteln, die dir zur Verfügung standen? Was hast du aus allen Winken Gottes, aus all den deutlichen Einladungen des Heiligen Geistes gezogen? Und schaust du auf Alles, was in deinem Kreise sich ereignet, was ist geworden aus den besonderen Gnadenerweisungen und Gnadenheimsuchungen, welche dieses Jahr enthielt? Wie lange hielt die Dankbarkeit an, welche dich so ganz zu erfüllen schien? Hast du die Gelübde gehalten, ein neues Leben anzufangen? Vergleiche, was du tun wolltest mit dem, was du getan, und gib dir selbst die Antwort!
Ich habe von der Flüchtigkeit des Lebens, von den ärmlichen Früchten unserer Vorsätze gesprochen, allein etwas Anderes erkennen wir, wenn wir einen Blick auf das werfen, das dahinter liegt, nämlich die unveränderliche Treue unseres Gottes. Zu verwundern ist, dass nach so langen Jahren der Sünde und der Untreue die Seele nicht abgestumpft ist. Das Kleid, das du lange trägst, zerfetzt; der kräftigste Baum wird zuletzt wurmstichig; und bedenkt man, wie die Sünde, mehr denn irgendetwas, zerstörend bis auf das Mark einwirkt, so ist wohl staunenswert, dass nach dreißig, vierzig, fünfzig in der Sünde zugebrachten Jahren das Leben der Seele nicht gänzlich zu Grunde gerichtet ist. Etwas erhält dasselbe: die erbarmungsvolle Treue unseres Gottes. „Er will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe.“ Du hast hinter dir dreihundertfünfundsechzig Tage der „Güte, Geduld und Langmut;“ dir zur Seite steht ein Engel, ja, mehr denn ein Engel, der lebendige Gott, stets verkannt, stets getreu, welcher dein „Hort“ ist. „Wenn du darniederlagst, hat er deiner gedacht;“ in deinem tiefen Elend hat der Geist, der Tröster, zu dir gesagt: „Er wird sich deiner wieder erbarmen; Er hat alle deine Sünden in die Tiefe des Meeres gesenkt.“ Hätten wir die Welt zu beherrschen, längst hätten wir, Feuer und Schwefel über dies arge Geschlecht herabregnen lassen. Aber Jesus sagt: „Ihr wisst nicht, wessen Geistes ihr seid; der Menschensohn ist nicht gekommen, die Menschen zu verdammen, sondern sie selig zu machen.“ Es gibt ein Blut, das um Erbarmung schreit und das uns wieder „jung macht wie die Adler.“ Müssen wir uns auch gestehen, dass wir über die Maßen Unrecht getan, so bleibt doch noch unsrer Seele das Bewusstsein von dem, „der uns alle unsre Sünden vergibt“ und der uns frönt mit Gnade und Gerechtigkeit. „Es sind ihrer tausend zu unsrer Seite gefallen, und zehntausend zu unsrer Rechten,“ aber das Verderben ist uns nicht genaht. Wir sind wie ein „zerstoßenes,“ doch nicht „gebrochenes Rohr,“ wie ein „glimmender Docht.“ Die Anklagen gegen uns, welche mit jedem Tage zunehmen, sind zahlreicher, denn das Haar auf unserm Haupte, denn „der Sand am Meere,“ aber die Gnade unsres Herrn Jesu Christi siegt über alle Gerichte unsres Gewissens; und wenn uns der Engel fragt: „Woher kommst du?“ so verschlingt das Zeugnis alles Andere: „Gottes Güte ist es, dass es mit uns nicht gar aus ist.“ „Seine Barmherzigkeit ist jeden Morgen neu und seine Güte ist groß.“
Aber der Engel des Herrn fragt auch: „Wohin gehst du?“ Diese Frage richtet er an drei Arten von Menschen. Zuerst an den Geschäftsmann, an den, der in fieberhafter Tätigkeit sich keine Ruhe gönnt weder für Seele noch Leib. Ein solcher sieht in dem neuen Jahr ein Labyrinth von Hoffnungen, Unternehmungen, Aussichten: Hat er die Neujahrsförmlichkeiten erfüllt, so geht es wieder von Arbeit zu Arbeit, von Unternehmen zu Unternehmen; und nach jedem erreichten Ziel taucht für ihn ein noch ferneres auf; nach hundert Jahren wäre er nicht fertig mit seinen Berechnungen und Projekten. Zu diesem spricht der Engel des Herrn: „Wohin gehst du?“ Derjenige, welcher dem Meere Schranken setzte und zu ihm sprach: „Bis hierher und nicht weiter,“ könnte auch zu diesem dasselbe Wort sprechen! Nach irgendeinem Geschäftserfolg, wenn du nicht weißt wohin mit alle dem, das du angehäuft, stellt sich die Nacht ein, da eine feierliche Stimme zu dir spricht: „Narr, in dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern und wessen wird sein, was du gesammelt hast?“ Ich weiß wohl, dass zu den Redensarten, die wirkungslos an dir abgleiten, auch die gehört, dass wir sterben müssen. Man weiß wohl, dass man „Staub und Asche“ ist; zu den Leichenbegängnissen geht man wie zu einem Jahrmarkt; aber dennoch, erscheint einmal der Tod, so wird er unerwartet und schrecklich vorkommen. Hast du bedacht die Auflösung der Lebenskräfte, den Todeskampf, der so viel Unaussprechliches in sich einschließt, den geheimnisvollen Augenblick, zu dem sich unser ganzes irdisches Dasein hindrängt, da die Seele den Leib verlässt und plötzlich in das unermessliche Reich der Ewigkeit sich versetzt sieht; das Gericht, da „Alles offenbar wird“ und der Richter, „dessen Augen wie Feuerflammen,“ und der, gegen alles Erwarten, den Spruch fällen mag: „Du bist gewogen und zu leicht erfunden worden;“ hast du dieses bedacht? Wenn du diesen Abend deine Jahresrechnung abgeschlossen, vergiss nicht, dass du noch eine Rechnung abzuschließen hast.
Mehrere von unsern Lieben fehlen uns zu dieser Stunde; sie sind nicht mehr von dieser Welt; der Eine oder der Andere unter uns wird ihnen nachfolgen; und für mehrere wird das neue Jahr ihr letztes Lebensjahr sein. So frage denn ein jedes sich selbst: „Wohin gehst du? Bist du bereit zu sterben?“
Der Engel sieht eine andere Klasse von Menschen: diejenigen, „die da haben den Schein der Gottseligkeit, aber deren Kraft verleugnen.“ Die Frage: „Wohin gehst du?“ lässt sich auch umsehen in die: „Bist du der Seligkeit gewiss?“ Erforsche deine Überzeugungen und schau, auf welchen Grund du erbaut bist. Wir gehören zu einer Stadt, da die Predigten reichlich gehalten werden, wo zugleich das christliche Leben einen eigentümlichen Charakter hat. Das Göttliche hat etwas Frisches an sich; gleich „den Flüssen Gottes, welche die Stadt Gottes fröhlich machen.“ Diesen Zug aber sucht man vergebens unter uns. Unser Christentum hat etwas Greisenhaftes; schwebt zwischen Leben und Tod; und erinnert an ein stehend Wasser. Man lebt in überkommenen Überzeugungen und kennt nicht das „Gold, das durchs Feuer bewährt ist“ und das zu Lob und Ehre und Ruhm wird, „wenn Jesus Christus erscheinen wird.“ Man sieht sich umringt von fertigen Christen, die ganz über sich selbst sicher sind; aber diese Sicherheit ist nicht die Heilsfreudigkeit; sie ist ein Siechtum. Vielleicht, wenn du dir ernster die Frage stellst: „Wo gehst du hin?“ wirst du's mit der letzten Stunde weniger leicht nehmen. Dir fehlt die Erfahrung deiner selbst. Dringe tiefer ein in die Falten deines Herzens und du wirst noch viele Seiten finden, die der Erweckung bedürfen. Stelle dich stets vor die rechte „Leuchte,“ die Heilige Schrift, und deine Finsternis wird lichte werden. Der Friede Gottes stellt sich wohl als eine Folge des Krieges ein und die rechten Überzeugungen sind ebenso viele Eroberungen. Soll das wahre Leben beginnen, so muss ein anderes untergehen; und nur wenn man das wahre Leben hat, weiß man, wohin man geht, und kann man mit dem Apostel sagen: „Was aus Gott geboren ist, ist stärker als die Welt; der Glaube ist der Sieg über die Welt.“
Die Frage des Engels richtet sich endlich an eine dritte Art von Menschen, an diejenigen, welche nicht aus ihrem Elend herauskommen können. Das eröffnete Jahr zeigt ihnen neue Kämpfe mit sich selbst; sie kennen ihr verkehrtes Wesen, darum schrecken sie zurück. Ihr Leben ist voll bitterer Erinnerungen und was sie am meisten quält, ist ihre Ohnmacht sich selbst gegenüber. Was sie beruhigen kann, ist eben die Frage: Wohin gehst du? Ist nicht das neue Jahr eine Gnadengabe? Sind nicht „deine Tage in der Hand des Herrn?“ Bist du nicht „stark, wenn du schwach bist?“ Kämpft nicht der Herr für dich und ist nicht „seine Kraft in den Schwachen mächtig?“ Erkenne doch Eines, dass du bis hierher geführt wurdest und dass die Gnade Gottes noch dieselbe ist. Dies ist eine Tatsache, nicht nur eine Hoffnung. „Das gute Werk“ ist in dir „begonnen“ und dir bleibt die Verheißung: „Ich will dich nicht lassen, bis dass ich dir tue Alles, was ich geredet habe.“ Du magst voller Wunden sein, so bist du nichtsdestoweniger ein Schaf des Herrn und „niemand wird dich aus seiner Hand reißen.“ Das Land, das vor dir ist, wird, so du glaubst, ein Land sein, „da Milch und Honig fließt;“ „die Schrift kann nicht gebrochen werden“ und sie sagt: „Gutes und Barmherzigkeit werden dir folgen dein Leben lang, und du wirst bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Bei dir ist es unmöglich, aber der Herr ist dein Gott und dein Fels. Er wird dich leiten ewig, er wird deine Seele sättigen und dich fett machen in der dürren Zeit; und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Quelle, die immer fließet. Mit solchen Verheißungen ausgerüstet „wandle im Glauben, und vollende den Lauf, der dir verordnet ist.“
Sage Dank, dass nicht du für deine Zukunft zu sorgen hast, dass du einen Vater, einen Heiland, einen Tröster hast. Frage nicht: „Erwarten mich gute oder böse Tage?“ Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn und er wirds wohl machen.
Du wirst im Verlaufe des Jahres sehen, dass die Frage des Engels: „Wohin gehst du?“ auch als eine Warnung des Heiligen Geistes gelten kann. Nimm dieses Wort als Neujahrsgeschenk von dem starken und lebendigen Gott. Wisse, wohin du gehst und wem du angehörst. Halte wach in dir den Seufzer nach dem himmlischen Vaterlande; „sei in dieser Welt, als wärst du nicht darin,“ denn Gott hat für dich etwas Besseres ausersehen. Wenn du „im Finstern wandeln“ musst, wenn „eine Tiefe eine andere ruft;“ wisse, wohin du gehst und dass deine „Trübsal“ nur „eine zeitliche“ ist. Tritt der Tod ein in deinen Kreis, so ist dir bekannt, wohin du gehst, und du kennest die offenen Arme, dich zu empfangen. Nähere dich dem Heiland, welcher „die Fülle der Gaben Gottes“ ist und dessen Herz von Liebe überfließt. Bedenke, woher du kommst, und sei gewiss, dass, der auch in der Vergangenheit mit dir war, auch in der Zukunft deiner harrt; in ihm allein ist „keine Veränderung, noch irgendein Schatten von Wandel.“ Du magst viel Schönes in dem neuen Jahre zu schauen bekommen; das Schönste aber wird die Treue des Herrn sein. Wenn du gehst, wird er dich führen; legst du nieder, so wird er dich behüten; erwachst du, so wird er mit dir reden. „Diene nicht zwei Herren,“ 2halte nicht zwei Dinge für notwendig;“ „ein Zweifler ist unbeständig in allen seinen Wegen;“ aber die Seele, die des Herrn ist, „wird im Guten wohnen.“ Da kann man segnen und danksagen bis zuletzt; das Volk des Herrn wohnt in „sichern Hütten;“ „es weiß, woher es kommt und wo hin es geht, und der Herr hütet seinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.“ Amen.