Lang, Heinrich - 11. Kirche und Staat, Christ und Bürger.
Gehalten am Tage der Bezirksgemeinde.)
Matth. 22, 15 -22.
Der heutige Tag, an welchem die Gemeinden des ganzen Kantons sich versammeln, um die Obrigkeit neu zu bestellen, ermahnt uns, vor dem Heiligthum, in welchem wir hier stehen, vor der heiligen Gemeinschaft, in welcher wir Bürger sind, mit allen Heiligen und Hausgenossen Gottes, einen Blick hinauszuwerfen auf die andere Gemeinschaft, die uns als Angehörige eines Volkes umschlingt, auf die bürgerliche Gesellschaft, den Staat. Kirche und Staat - in welchem Verhältniß sollen sie zu einander stehen? Diese Frage ist das Losungswort eines schon mehr als 1000jährigen Kampfes und Streites, der nicht bloß mit der Feder, sondern oft mit den Waffen geführt worden ist. „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist,“ sagt Christus und deutet damit auf ein freundliches und friedliches Verhältnis; von Staat und Kirche zu einander. Dieß sei denn auch der Gegenstand unserer Betrachtung in dieser Gott geweihten Stunde.
Staat und Kirche, Bürger und Christ.
Meine christlichen Freunde! Nicht zu allen Zeiten sind Staat und Kirche in jenem friedlichen Verhältniß zu einander gestanden, wie es Christus in den genannten Worten andeutet. Zu verschiedenen Zeiten ist bald die Kirche vom Staat, bald der Staat von der Kirche befehdet worden. Die Kirche vom Staat: denket nur an die Christenverfolgungen der ersten drei Jahrhunderte, wo die Obrigkeit alle ihre Mittel auf den Plan stellte, um die junge Christengemeinde auszurotten; denket an die Reformation, da der katholische Staat in einem 30jährigen Kriege mit der reformirten Kirche rang, um ihr Aufkommen zu verhindern, ja selbst unsere Zeit, die sich wie vieler anderer Dinge, so auch der Glaubens- und Gewissensfreiheit rühmt, könnte uns unzählige Belege für die Verfolgung der Kirche durch den Staat liefern. Aber auch der Staat, die bestehende bürgerliche Ordnung, ist zu verschiedenen Zeiten von der Kirche befehdet worden. Päpste führten einen Kampf auf Leben und Tod mit Kaisern und Königen und entbanden die Völker von dem Eide der Treue, den sie ihrer rechtmäßigen Obrigkeit geschworen hatten, und dieser Kampf der Kirche gegen den Staat dauert, wenn auch unter anderen Formen, bis auf den heutigen Tag fort. Aber so soll es nicht sein. Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. Staat und Kirche sollen in einem friedlichen, freundlichen Verhältniß zu einander stehen. O, wenn beide ihren Beruf recht verständen, Staat und Kirche, Weltliche und Geistliche, sie könnten nicht genug eilen, sich die Hände zu reichen, um die ihnen anvertrauten Völker auf den Weg eines gesunden Fortschrittes zu leiten, um vereint das Reich Gottes aus Erden zu begründen. Denn der Staat bedarf der Kirche und die Kirche bedarf des Staates.
1.
Ihr Staatsmänner, hohe und niedere, ihr Beamten und Behörden, Gebildetere aus allen Klassen des Volkes, warum schauet ihr oft so gleichgültig auf die Kirche herab, warum redet ihr oft so verächtlich von ihr und betrachtet sie als eine Anstalt, die man wohl dem gläubigen Volke zu lieb noch müsse stehen lassen, ohne die aber der Staat gar wohl fahren könnte? Der Staat bedarf der Kirche. Wohl können wir uns ein Volk denken, in welchem die Kirchen für immer geschlossen wären und kein Gotteswort erschallte durch das Land, und ein solches Volk könnte sich zur höchsten Blüthe menschlicher Gesittung und Bildung emporarbeiten, Handel und Gewerbe, Kunst und Wissenschaft könnten im größten Flore stehen und eine gleichmäßige Bildung und Aufklärung könnte alle Klassen des Volkes durchdringen. Aber sprecht, woher kommt es wohl, daß die Geschichte aller Zeiten und Völker zeigt, wie die höchste Blüthe eines Volkes jedesmal zugleich der Anfang seines Verfalls und Untergangs gewesen ist? Die Antwort liegt nahe. Was nützt es, daß Kunst und Wissenschaft blühen in einem Lande, wenn zwar die Köpfe hell, aber die Herzen kalt werden, wenn den Fortschritten im Wissen eine entsprechende Läuterung und Kräftigung des Willens nicht zur Seite geht, wenn dem Ueberfluß an hellen Köpfen und gebildeten Menschen gegenüber an tüchtigen Charakteren Mangel ist? Was nützen alle höheren und niederen Schulen, wenn daraus zwar geschickte, gewandte und lebenskluge Männer hervorgehen, aber keine Menschen nach dem Herzen Gottes, scharf wie Stahl, rein wie Gold und glühend für das Gute wie Feuer. Was nützen Handel und Gewerbe, was nützt es, daß die Eisenbahnen durch das Land rauschen, wenn der Eigennutz und die Selbstsucht darauf fährt, wenn das Band der brüderlichen Liebe fehlt, wenn der Riß zwischen Armen und Reichen immer unheilbarer wird, wenn Ueppigkeit und Genußsucht die Einfachheit und Sparsamkeit der älteren Zeit untergräbt und eine feinere oder gröbere Vergötterung des Fleisches überhand nimmt? Damit die äußere Blüthe eines Volkes nicht ausschlage zu seinem inneren Verfall, dazu bedarf der Staat der Kirche. Die Kirche, gestützt auf das Evangelium Christi, ewig alt und ewig jung, sie ist es, welche dem Staate die höheren Lebenskräfte mittheilt und dadurch immer wieder frisches Blut in die Adern des Volkes gießt; sie ist es, welche den auf äußeren Glanz und die Hoffart des Lebens gerichteten Herzen das Wort vorhält: „Das Himmelreich muß sein inwendig in euch;“ sie ist es, welche der verweichlichten und erschlafften Zeit die rauhen Bußklänge in das Ohr ruft und mitten unter das Drängen und Jagen und Laufen nach irdischem Glück das Wort hineinruft: „Trachtet am Ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das Uebrige auch zufallen.“ Das sind die ewigen Säulen, auf denen das Glück und die Wohlfahrt eines jeden Volkes unzerstörbar ruht.
Aber noch in anderer Weise hängt der Wohlstand eines Volkes mit der Beschaffenheit seiner Kirche zusammen. Wäre das wohl ein weiser Staatsmann, welcher sagte: Was kümmert es uns, was das Volk glaubt und was die Pfarrer von den Kanzeln den Leuten vorpredigen? Was fragen wir darnach, ob die Leute Christen oder Heiden oder Türken sind; wenn sie nur Brod genug haben, wenn nur Ackerbau, Handel und Gewerbe gedeihen. Wenn auch gebildete Männer manchmal diese Sprache führen, es liegt doch blutwenig Weisheit darin. Denn es kommt für den Wohlstand und die Blüthe eines Volkes sehr viel darauf an, wie seine Kirche beschaffen ist. Erhält eine Kirche ihre Glieder in geistiger und religiöser Unmündigkeit, erzieht sie dieselben zum blinden Glauben an überlieferte, ein- für allemal fertige Lehrsätze, verdammt sie die freie Forschung, das Selbstdenken und die persönliche Ueberzeugung, so untergräbt sie den Wohlstand eines Landes; die Lust zur Arbeit, die Spannkraft des Geistes, das Bewußtsein eigner Kraft, das Selbstgefühl und der gerechte Stolz des freien Menschen auf seine Würde verschwindet und das Volk wird auch für seine irdischen Interessen faul und träg. Umgekehrt, wo eine Kirche ihre Glieder entwöhnt von der religiösen Unmündigkeit und dem blinden Glauben an ihre Satzungen, wo sie das eigene Denken und die freie Forschung anregt und darum das Recht der persönlichen freien Ueberzeugung gelten läßt, da bildet sie ein thatkräftiges, munteres, arbeitsames und daher wohlhabendes Volk. Nur eine Frage: warum sind im Durchschnitt anerkanntermaßen protestantische Gemeinden fleißiger, wohlhabender, in ihrem Gemeinwesen geordneter, als katholische? Die Antwort liegt in dem Gesagten.
2.
Der Staat bedarf der Kirche, aber die Kirche bedarf auch des Staates. Wohl hat die Kirche ein sicheres, in sich festgegründetes Dasein; der Staat hat die erste Kirche einige Jahrhunderte lang mit den reichlichsten, ihm zu Gebot stehenden Mitteln auszurotten gesucht, aber es gelang nicht, und wenn heute ein glaubensloser Staat die Tempel schließen und die Altäre niederreißen würde, die Gläubigen würden sich wieder in Wäldern versammeln. Aber das kann doch nicht das von Gott gewollte Verhältniß von Staat und Kirche sein. Die Kirche kann nur dann die ruhige, geordnete Einwirkung auf die Herzen ihrer Gläubigen ausüben, wenn sie eine geordnete, bürgerliche Gesellschaft zur Seite hat. Wenn die Kriegstrommel durch das Land wirbelt, wenn die Fahne des Aufruhrs in den Städten und Dörfern aufgepflanzt wird, wenn die politischen Parteien einander beißen und fressen, wenn ein finsterer, unzufriedener Geist in der Bevölkerung herrscht, da wird das Evangelium des Friedens nicht vernommen; die sanfte Stimme der Religion wird übertönt von dem wilden Geschrei der Unordnung und Ausgelassenheit. Die Religion läßt sich am liebsten da nieder, wo der Bürger „ruhig und sicher wohnt unter seinem Feigenbaum und Weinstock.“ Sie setzt sich gerne an den stillen, häuslichen Herd, wo Arbeit und Erholung Eltern und Kinder in Liebe vereint, oder wo ein Leidender, von Gottes schwerer Hand getroffen, nach ihrem Troste dürstet.
Ueberhaupt, wenn der Satz wahr ist, daß, wo ein Glied leidet, die anderen mitleiden, so dürfen wir wohl behaupten: wenn in einem Volke das politische Leben ungesund ist, so kann auch das religiöse Leben nicht gesund sein. Schauet an dem heutigen Tage, der euch an das Glück erinnert, Bürger eines Freistaates zu sein, hinüber nach dem stammverwandten deutschen Volke, das um alle seine politischen Hoffnungen betrogen ist! Was sehen wir dort? Wie die Adler sich um ein Aas sammeln, so haben sich die Jesuiten in die Wunden dieses Volkes gesetzt, um ihm sein letztes, gesundes Blut auszusaugen; und die protestantische Kirche ist so jämmerlich von Parteien zerrissen, daß eine Heilung des Risses kaum möglich scheint. Volksthümliche, naturgemäße, aus dem Herzen des Volkes selbst hervorgewachsene staatliche Einrichtungen und eine kräftige, gesunde Volkskirche stehen im engsten Zusammenhang mit einander.
Noch einen Punkt müssen wir aber hervorheben, wenn Staat und Kirche in dem vorhin beschriebenen freundlichen Verhältniß zu einander stehen sollen. Weder der Staat darf die Kirche beherrschen wollen, noch die Kirche den Staat. Die Kirche hat es nur mit der inneren religiösen Ueberzeugung des Menschen, mit dem Gewissen, mit dem Glauben zu thun; in dieses innerste Heiligthum des Menschen mit zwingender Gewalt eindringen zu wollen, ist ein Frevel gegen Gott. Meine innere Ueberzeugung darf mir Niemand antasten, meinen Glauben darf mir keine Obrigkeit angreifen, in dieses Gebiet darf der Staat seine Hand nicht mischen, und in diesem Sinn hatte der große Preußenkönig, Friedrich II., Recht, wenn er sagte: „In meinem Land darf Jeder nach seiner Façon selig werden.“ Aber eben so wenig darf auch die Kirche den Staat beherrschen wollen. Die katholische Kirche trat in früheren Zeiten mit dem Anspruche auf, auch den Staat zu beherrschen, und sich stützend auf das Wort Christi an Petrus: „Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein,“ übte sie eine unbedingte Herrschaft aus in geistlichen und weltlichen Dingen, setzte Könige und Kaiser ein und ab, und entband die Bürger von dem geschworenen Eid der Treue, und umstrickte mit ihrem Netz alle Gebiete des bürgerlichen Lebens. Aber also soll es nicht sein. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt,“ spricht Christus, und wie er selbst, der Herr und Meister, in dienender Liebe seinen Jüngern die Füße wusch, so soll sich seine Kirche damit bescheiden, den Menschen zu dienen mit den himmlischen Gaben, die sie von Christus erhalten hat, fortpflanzend die Worte des ewigen Lebens von Geschlecht zu Geschlecht und das Evangelium verkündigend, dasselbe gestern, heute und in Ewigkeit - ein Evangelium der Liebe und des Friedens.
Aus dem Bisherigen ergibt sich leicht, was wir über unsern zweiten Theil noch zu sagen haben: Christ und Bürger. Als man einen griechischen Philosophen fragte, welches sein Vaterland sei, deutete er mit dem Finger gen Himmel und sagte: Dort ist mein Vaterland. Wenn man dieselbe Frage an einen Christen richtete, könnte er mit den Worten des Apostels Paulus antworten: „Unser Bürgerrecht ist im Himmel.“ Aber werden wir wohl damit die Meinung so Vieler unter den Christen unterstützen, daß, wer in seinem höheren Vaterland recht einheimisch werden wolle, sich so viel als möglich von irdischen und bürgerlichen Dingen abziehen müsse? Werden wir darum den Christen allein auf das stille Kämmerlein verweisen und ihm einen stummen, leidenden Gehorsam und Gleichgültigkeit gegen die Angelegenheiten des Staates empfehlen? Gott bewahre uns davor! Hier gilt vielmehr das Wort der heiligen Schrift: „Wer den Bruder nicht liebt, den er stehet, wie wird er Gott lieben, den er nicht stehet?“ Die Liebe zum höheren Vaterland wird die wahre und reine Vaterlandsliebe lehren und umgekehrt. Darum, an's Vaterland, an's theure, schließ' dich an und wirke treu mit Kopf und Hand, wie du nur kannst, für's Vaterland.
Aber wieder Andere sagen, der Christ tauge gar nicht zu einem guten Staatsbürger; das Christenthum verderbe den Menschen für die Welt, es mache wohl tüchtige Himmelsbürger, aber schlechte Staatsbürger. O, meine Freunde, wenn Treue im Kleinen, Sinn für das Allgemeine, Aufopferungsfähigkeit und hingebende Liebe Eigenschaften eines guten Bürgers sind, wer ist dann ein besserer Bürger, als derjenige, der von seinem Herrn und Meister gelernt hat, selbst sein Leben für die Brüder zu lassen und im Dienste der Mitmenschen seine besten Kräfte hinzugeben. Wer wird, sei er hochgestellter Beamter oder gewöhnlicher Bürger, dem Vaterland besser dienen, als eben der Christ, der an dem Beispiele seines Herrn gesehen hat, wie der Höchste soll der Diener Aller sein, wie ein Jeder dem Andern dienen soll in brüderlicher Liebe mit der leiblichen und geistigen Gabe, die er von Gott erhalten hat. Der beste Christ wird auch der beste Bürger sein; er wird, wenn auch von den Menschen, wie sie gemeiniglich sind, in seinen Gedanken geschieden, dennoch mitten unter sie treten, ihr Haus besorgen, ihre Aecker bestellen, ihren Bedürfnissen abhelfen, ihre Aemter verwalten - mit einer Treue, wie sie nicht erkannt wird, mit einer Unverdrossenheit, wie sie nicht geschätzt wird, mit einer Anstrengung, wie sie ihm nicht belohnt wird und belohnt werden, kann, außer von dem, der in's Verborgene stehet und um dessen Beifall er gern durch Wasser und Feuer geht. Darum, meine Lieben, lasset uns nur das recht sein, was wir sind, Bürger und Christen, treu der Fahne des Vaterlandes, der wir zugeschworen, treu aber auch der Fahne, die Jesus Christus im Kampf gegen Welt und Sünde voranträgt. O, daß man auch von unserm Lande sagen könnte: „Wünschet Jerusalem Glück! es müsse wohl gehen denen, die dich lieben; es müsse Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen, daß Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen.“ Amen.