Krummacher, Gottfried Daniel - Die Wanderungen Israels durch die Wüste nach Kanaan (Tabeera).
Ein und zwanzigste Predigt.
Zwölfte Lagerstätte: die Lustgräber.
4 Buch Mosis 11,4-6.
Die Kinder Israel sind gelagert in Tabeera, der zwölften Lagerstätte, auf Deutsch: Lustgräber. Daselbst fällt allerhand merkwürdiges vor, und wir machen den Anfang mit der Betrachtung der Verstimmtheit des Volks, deren Veranlassung, Äußerung, Wirkung.
Das Volk ist verstimmt. Es murrt, es klagt, es weint. Es hat kein Belieben mehr an der ganzen Sache. Worüber ist es denn so unzufrieden? Was fehlt ihm? Es wurde ungeduldig, und seine ganze Führung schien ihm sehr beschwerlich und mühevoll. Und ach! was sollen wir sagen? Hatten sie denn so durchaus unrecht? Sie waren das Volk Gottes, es ist wahr. Sie waren der besonderste Gegenstand seiner genauesten Aufsicht und Pflege. Dies war ein ungemeines Vorrecht, und wenn Moses das betrachtete, rief er voll Entzücken aus: o Israel! wo ist ein Volk wie du? wer ist dir gleich? Aber sie mussten’s auch, wenn ich so reden darf, teuer genug entgelten, und ihr Alles dabei wagen. Wir werden geachtet wie die Schlachtschafe, sagt der Apostel Röm. 8, aus dem 44. Psalm, wo er die Vorrechte des Volkes Gottes gar sehr herausstreichet. Er setzt es als Regel fest, dass wir durch viel Trübsal ins Reich Gottes eingehen müssen, so wie der Herr selbst erklärt hat, wer sein Jünger sein wolle, müsse sein Kreuz auf sich nehmen täglich; und demnach sein Apostel: dass alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, Verfolgung leiden müssen. Der Gerechte muss viel leiden. Sich dazu zu bequemen, sich fortwährend selbst zu verleugnen, sein eigenes Leben zu verlieren, des Herrn Wege überall seinen Augen wohlgefallen zu lassen, stets ja zu sagen – das will was, das will oft sehr viel bedeuten. Ich bin müde von Seufzen, heißt es wohl einmal. Ich bin geplagt täglich, und meine Plage ist alle Morgen da. Da bittet wohl ein Elias: so nimm nun, Herr, meine Seele; ein Paulus hat Lust auszuscheiden; ein Hiob und Jeremias äußeren sich sogar auf eine Weise, die man nicht wohl nacherzählen darf. Ersterer sagt eben nicht mit Dankbarkeit und Wohlgefallen, Cap. 7.: was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und bekümmerst dich mit ihm, du suchest ihn täglich heim und versuchest ihn alle Stunden – denn er setzt hinzu: höre auf von mir. Warum tust du dich nicht von mir und lässt nicht so lange von mir ab, bis ich meinen Speichel schlinge. – Die erste Hälfte des 73. Psalm äußert sich auch recht verdrießlich. Die Gottlosen, sagt er, sind glückselig in der Welt und werden reich; ich aber, der ich unsträflich leben und wasche meine Hände in Unschuld, bin geplagt täglich und meine Strafe ist alle Morgen da. –
Plagende, unzeitige Gedanken kamen dazu. Die armen Leute waren in dürrer Wüste, wo es heulet. Zu essen fiel da nichts vor, als was vom Himmel sich täglich und nur für einen Tag auf sie herabsenkte, und Wasser hatten sie nur durch ein Wunder, aus dem Felsen, welcher mitfolgte, der Fels aber war Christus. Das Auge sah sich matt und müde an der grauenhaften Einförmigkeit der unermesslichen Einöde, die sich um sie her dehnte, und nur hie und da ein kümmerliches und meistens stachelichtes Gestrüpp hervortrieb. Keine Spur eines früheren Wanderers. Kein lieblicher Laut ergötzte das Ohr. Keine Turteltaube girrte ihre melancholische Töne, keine Lerche trug wirbelnd ihr Lied himmeln, als wollte sie vernünftigen Herzen ihre Bahn bezeichnen. Es heulte drinnen. Zuweilen ließ ein einsamer Rohrdommel sein ächzendes Gekrächz hören, oder das Gebrüll hungriger Löwen und das Gekreisch blutgieriger Tiger und Hyänen tönte aus der Ferne grauenerregend an ihr Ohr. Sie waren es anders gewohnt. In dem köstlichen Lande Gosen war es ganz anders; lauter Fruchtbarkeit und Anmut, Äcker, Gärten und Wiesen, Flüsse und Teiche. Sie fingen unglücklicherweise Vergleichungen an. Durch Vergleichung wird ein Übel oder ein Gut, größer oder kleiner. Vergleicht man ein großes Gut mit einem noch größeren, so wird es geringer in unserem Urteil, und so geht es auch mit einem Übel. Denkt man daran, wie viel schlimmer es sein könnte, so wird es leidlicher. Aber denkt man bei einem Übel an das entgegengesetzte Gut, so wird es noch härter, wie schwarz gleichsam noch schwärzer erscheint, wenn man es auf weiß legt. In der Hölle dünkte dem reichen Schlemmer ein Tröpflein Wassers ein großes Gut, der früher wohl den kostbarsten Wein nicht geachtet hatte. Trug der Anblick des elenden Lazari viel zu seiner Glückseligkeit bei, dass er sich in seiner Gesundheit und in seinem Überfluss desto besser gefiel: so vermehrte dessen Anblick später seine Qual, da er ihn in seiner Herrlichkeit sehen musste. Assaph wurde über dem Vergleichen seiner Umstände mit denen der Gottlosen so übel zu Mute, dass er beinahe gedacht, es sei nichts mit der Gottseligkeit. Hiob stellte auch Vergleichungen an, und das Resultat war: wenn man mein Leiden möge und fasste es zusammen auf einer Waagschale, so würde es schwerer sein als Sand am Meer. Wiederum stellt Paulus eine Vergleichung zwischen den Leiden dieser Zeit und der zukünftigen Herrlichkeit an, mit dem Erfolg, dass er jene leicht nennt, die gar nicht anzuschlagen sind, diese aber über alle Maßen wichtig. Assaph desgleichen: ich frage nichts nach Himmel und Erde, wenn ich nur dich habe. Ob mir auch Leib und Seele verschmachtet, bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil, - und Hiob: und wenn er mich töten wollte, sollte ich nicht auf ihn hoffen? – und David: du tröstest mein Herz, obgleich jene viel Wein und Korn haben.
Auch die Kinder Israel stellten eine Vergleichung an. Aber was für eine! In dieser Sandwüste erinnern sie sich der kühlenden Cukummern oder Gurken, ja sogar der saftvollen und ungemein wohlschmeckenden und lieblichen Pheben oder Wassermelonen. Nun, das muss man gestehen! in brennender Einöde kann der Gedanke an solche Gewächse den Mund wohl wässern machen, denn was für ein ausnehmendes Labsal würden die gewähren, so dass es nicht zu verwundern ist, wenn ein König von Frankreich, der sich zur Zeit der Kreuzzüge in Palästina befand, und vielleicht mit Recht den Beinamen eines Heiligen führt, sich den Tod daran aß, weil er, durch Durst, Hitze und Erschöpfung verleitet, zu reichlich davon genoss. Wie mancher hat sich nicht schon tot geschwelgt, tot getanzt usw. – Auch die ägyptischen Fische kamen ihnen unglücklicherweise ins Gedächtnis, so wie die wohlschmeckenden, würzenden Johanneszwiebeln und andere Gartengewürze. Hatten sie die dort unentgeltlich gehabt: hier war nichts davon zu haben, und hätten sie sie mit Gold aufwiegen wollen.
Lasst uns nicht ungerecht gegen sie sein, sondern gestehen, dass es eine nicht gering Versuchung war, worin ihr Fleisch und Blut sie führte. An sich lag ja auch nichts Sündliches darin, dass sie jetzt gerne die Melonen aufgelesen hätten, die sie in Ägypten vielleicht mit Füßen traten und die Fische als Leckerbissen betrachteten, die sie dort nicht achteten. Aber dies wurde ihnen zur Sünde, weil sie es auf eine ungemäßigte, heftige Weise und außer der göttlichen Ordnung, ja wider dieselbe begehrten, ungeneigt sich in die göttliche Ordnung zu fügen. Was setzten sie dabei nicht alles aus den Augen! War ihnen denn Kanaan nicht verheißen, wo sie Melonen, Fische und Zwiebeln in Menge haben sollten? Wollten sie denn nicht noch ein wenig warten, da sie innerhalb weniger Tage oder Wochen da sein konnten, gerade darauf zu zogen und den größten Teil des Weges schon zurückgelegt hatten? nicht bedenken, dass sie das Volk waren, von welchem das Heil kommen und der Same entspringen sollte, durch den alle Völker auf Erden sollten gesegnet werden; nicht bedenken, dass das, was sie litten und entbehrten, ihnen selbst und der ganzen Welt zu gute kommen sollte? nicht erwägen, dass es ihnen doch am Notwendigen durchaus nicht mangele? Galt ihnen denn Gott, seine Führung, seine Verheißung, sein Wille so wenig, und Melonen und Zwiebeln alles? War alles vergessen, was er an ihnen und für sie getan? – Wie tritt ihr verdüsterter, irdischer und fleischlicher Sinn so fatal heraus! Sie dünken sich wie im äußersten Elend. Ach ja! wie erschrecklich wird und muss einst der Zustand aller ihnen gleich gesinnten Menschen werden, welche mit ihrer ganzen Seele am Irdischen und Sinnlichen hangen, nichts Höheres kennen noch begehren, wenn sie so in die Ewigkeit übergehen, wo sie nichts, durchaus nichts von dem antreffen, was allein ihr Sehnen ist, wo sie also in die bitterste Armut versinken! – Aber auch die Heiligen begehrten wohl saftvolle Melonen. Aber was für welche? Solche, die in dem himmlischen Kanaan wachsen. Wohl durstete ihre Seele. Aber wonach? Nach dem lebendigen Gott. Wann, seufzten sie, wann werde ich dahin kommen, dass ich dein Angesicht schaue, wann tröstest du mich? – Doch kann auch hier sich etwas ungeregeltes mit einmischen. Paulus wollte ja so ungemein gern des Pfahls im Fleisch überhoben sein. Er musste sich aber drein fügen und sich bequemen, sich an der Gnade genügen zu lassen. – Wer wollte nicht gern stets Melonen essen? Wer wollte nicht gern stets eine fröhliche Versicherung von der Gnade Gottes mit sich herumtragen; wer wollte nicht gerne stets voll Liebe zu Gott und zu dem Herrn Jesu sein; wer nicht gern stets spüren, wie mächtig der Herr in seiner Schwachheit sei; wer nicht gern äußerlicher Leiden und innerer Anfechtungen, wo nicht überhoben, doch unter denselben also gehalten sein, dass er nicht nur geduldig in Trübsal wäre, sondern sich auch derselben rühmte, wer wünschte nicht, dass es ihm stets nach dem Spruch ginge: ehe sie rufen, will ich antworten; wer zöge nicht Thabor Gethsemane vor, und einen auferstandenen Christus einem am Kreuz hangenden? David sagt nichts besonderes, wenn er spricht: das wäre meines Herzens Freude, wenn ich dich mit fröhlichem Munde loben könnte; es ist nichts besonders, wenn Thomas über dem Anblick der Wunden Jesu ausruft: mein Herr und mein Gott! Größeres ist es, dass, wie ein Jeremias sagt, Klagl. 3,29, ein Verlassener geduldig sei, wenn ihn etwas überfällt und seinen Mund in den Staub stecke und der Hoffnung warte und lasse sich auf die Backen schlagen und ihm viel Schmach anlegen. – Auch in dieser Beziehung gilt es, sich selbst verleugnen, und dies mag wohl eine der größten, ohne besonderen Beistand des Herrn ganz unausführbare Verleugnung sein. Tut im Ganzen in der Wüste Verzicht auf das Melonenessen, denn bloß sein Brot wird ihm gegeben, sein Wasser hat er gewiss. Bisweilen kommt ihr denn doch in einen Palmenhain, und endlich nach Kanaan. –
Das war nun aber vollends erbärmlich, dass den unartigen Leuten sogar das teure Manna widerwärtig wurde, dass sie auch sagten: unsere Seele ist matt, denn wir sehen nichts als das Man. Abscheulicher Ausbruch der Verderbnis des menschlichen Herzens. Sie treten gleichsam Gottes Wohltat mit Füßen, und werden sie ihm unwillig zurück. Verhielten sich nicht später ihre Nachkommen so gegen den, welchen das Manna abbildete, der sich ihnen als das lebendige Brot darstellte, das der Welt das Leben gibt? Und treten nicht auch wir wacker in ihre Fußstapfen, obschon wir uns Christen nennen? Hat man schon zeitig angefangen, wo nicht an seiner statt, doch neben ihm allerhand Heilande einzuschwärzen und die Mutter mehr anzulaufen als den Sohn; hat die Reformation den Unrat suchen wegzuschaffen und wieder gelehrt, dass außer diesem keinerlei Seligkeit weder zu suchen noch zu finden sei: so ist man darauf, eben von protestantischer Seite aus, so weit gegangen, eigene Weisheit und eigene Kraft wirklich an Christi statt aufzustellen, Christum selbst aber mehr und mehr zu verdrängen. Was ist länger im Ganzen von ihm noch übrig geblieben? Und wird der Religionsunterricht auch noch mit heuchlerischem Gepränge, als etwas Wichtiges gepreist, so gleicht er doch im Ganzen in Kirchen und Schulen einem Leichnam ohne Haupt, und man muss mit Maria davon sagen: sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Es ist eine wunderliche Widrigkeit gegen Christum bei der Welt, die doch auch weise, gerecht und selig werden, aber es nur durch ihn nicht werden will, und das nennt man denn Aufklärung, vor welcher aber Gott alle diejenigen in Gnaden bewahrt, welche er lieb hat. Nur denen die verloren gehen, bleibt das Evangelium verdeckt. – Jedoch fand sich auch Paulus veranlasst, sich gewissermaßen wegen seines evangelischen Einerlei zu entschuldigen, wenn er den Philippern, 3,1 sagt: dass ich euch immer einerlei schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser – und wenn Johannes gleichsam scherzweise sagt: ein neu Gebot schreibe ich euch, so sagt er doch zugleich: es ist das alte Gebot, das ihr von Anfang gehabt habt. Die alten Sachen lassen sich wohl mit neuen Worten, in neuen Verbindungen und Weisen vortragen, aber das ist doch nur Nebensache und es läuft alles auf das eine Ziel hinaus: Christus alles und der Mensch nichts. Dass die Welt des endlich satt und überdrüssig wird und auch sagt: unsere Seele ermattet, wenn sie nichts aufgetischt bekommt, als das vom Himmel stammende Manna und anders nichts – das kann uns nicht wundern, und es brauchte noch lange kein Apostel zu sein, um vorhersagen zu können, die Leute würden sich mit der Zeit Lehrer aufladen, nachdem ihnen die Ohren jucken; nicht wundern, wenn ein reformirter Prediger eine lange Zeit über die Geschichte seines Zeitalters und dergleichen predigte, und großen Beifall erhielt; nicht wundern, wenn ein gewisser Prediger im Jahr 1812, am 2ten Christtage, darüber predigte: der Beruf des Weibes sei eben so reich an Verdienst um das menschliche Geschlecht als der Beruf des Mannes; so wie am 1ten vom Verdienst der niedern Stände, nicht zu wundern, wenn das von der Welt, die das Ihrige lieb hat, beifällig aufgenommen wird; und eben so wenig zu wundern, wenn sie ein Zetergeschrei erhebt: sobald das Evangelium irgendwo eigentlich und mit Kraft und Nachdruck gepredigt und geglaubt wird, und alles aufbietet, es wo möglich zu unterdrücken oder zu entkräften; denn diejenigen, die dem Kindlein nach dem Leben stehen, sind noch immer nicht gestorben. Hierüber, sage ich, hat man sich nicht zu verwundern, weil das sehr natürlich zugeht. Aber Paulus findet sich veranlasst, auch wahre Christen zu warnen, dass sie ihre Sinnen nicht verrücken lassen von der Einfältigkeit in Christo, 2. Kor. 11,3. sich nicht umtreiben lassen von mancherlei Wind der Lehre. Immer und immer auf sein Elend und auf Christum hingewiesen werden, das möchte man ja wohl endlich müde und satt werden und auf die Einbildung geraten, es sei nun damit ziemlich genug, und man habe beides so ziemlich inne, gerade als wäre das eine wie das andere so mit der Zeit ausgelernt und etwas gewöhnliches, wo man denn wohl etwas Ungewöhnliches und Besonderes, eine aparte Weisheit und Einsicht suchet und eben dadurch vom rechten Wege ab und auf allerhand Schwärmereien gerät, wie die Geschichte solches reichlich bezeugt; da müssen denn oft dunkele, unverständliche Redensarten statt großer Weisheit dienen, hinter welchen sie große Geheimnisse suchen, und andere verachten lernen. –
Mit dem Manna hatte es auch eine eigene Bewandtnis, vorzüglich die, dass es sich ausschließlich nur vom Freitag auf den Sonnabend hielt, an allen anderen Tagen aber sich auf den folgenden Morgen durchaus nicht aufbewahren ließ, sondern, wenn es geschah, wurmicht und stinkend befunden wurde. Es musste also sechsmal die Woche frisch gesammelt werden, am sechsten Tage aber eine doppelte Portion, für den Sabbat mit, an welchem Tage keins fiel. War dies nun auch nicht sehr beschwerlich, so war’s doch sehr abhängig. Und ein abhängliches Leben gefällt unserer stolzen Natur nicht, die lieber unabhängig, selbstständig, selbstgenugsam sein möchte. So gestaltete es sich im Paradiese. Ihr werdet Gott gleich, also unabhängig von ihm, euere eigene Herren sein, nicht mehr nötig haben, euch von ihm Befehle geben zu lassen, selbst von gut und böse hinlänglich unterrichtet sein. Dies war die Versuchung, dies der ausgeworfene Köder. Der Fisch biss an, und die Angel blieb kleben. So will’s nun unsere Natur. Ein untergeordnetes Verhältnis ist ihr zuwider. Sie gehorcht nur aus Not. Sie will gerne obenan sitzen und räumt anderen nur mit Mühe einen Vorzug ein. Selbst der Obrigkeit gehorcht man im Ganzen nur aus Not, wollte aber doch viel lieber frei sein, ohne zu begreifen was für ein Unglück, wie unmöglich das bei der sündlichen Beschaffenheit der Menschen wäre, ohne zu ermessen, welche große Wohltat die Obrigkeit ist, die Gott gesetzt hat. Wie leicht will mans besser wissen wie sie, wie leicht und unbescheiden werden ihre Maßnehmungen getadelt! Äußert sich nicht das nämliche in den häuslichen Verhältnissen, und was für Mühe haben die meisten Eltern, ihre Kinder zum Gehorsam zu gewöhnen! Äußert es sich nicht im sonstigen Zusammenleben? Wie leicht geraten die Menschen einander in Zank und Streit. Und warum? Jeder will recht, keiner will gefehlt, geirrt haben. Hört ein Dritter beide besonders, so stellt jeder seine Sache so vor, dass die ganze Schuld auf den anderen fällt; hört er sie beide zusammen; so findet er sie wohl beide schuldig. Wie selten, wie selten gestehen das aber beide Parteien ein. –
Die göttlichen Gebote allein sind nun nicht im Stande, die menschliche Natur, die einen harten, widerstrebenden Stein verglichen wird, weich, biegsam und handelbar zu machen. Ja im Gegenteil bringen dieselben eben ihre Widerspenstigkeit zum Vorschein. So erkannten es sogar nachdenkende Heiden, und ihre Dichter sagten: nach dem Verbotenen streben wir, und was uns versagt wird, begehren wir am meisten; die Schrift aber sagt: die Gesinnung des Fleisches sei Feindschaft gegen Gott, dem Gesetz nicht untertan, vermöge es auch nicht. Sie nennt das Gesetz die Kraft der Sünde, sagt: es sei neben der Verheißung eingekommen, damit die Sünde desto mächtiger würde, ja es errege allerlei Lust in uns und mache die Sünde lebendig, die zwar vorher schon, jedoch gleichsam wie tot in uns war. Etliche deuten auch die Worte hierher, wo es heißt: das Gesetz richte nur Zorn an, bewirke nämlich, dass die Natur ordentlich grimmig und aufgebracht werde, wegen der vielen und strengen Gebote, die sie nicht erfüllen kann noch mag, und doch bei Strafe des ewigen Todes halten soll. Alsdann regt sich das Gesetz in den Gliedern, um diejenigen gefangen zu halten, die da Lust haben am Gesetz Gottes, nach dem inwendigen Menschen.
Überhaupt kann das Christen-Leben, der Natur, schon wegen der beständigen und immer zunehmenden Abhänglichkeit von dem Herrn und seiner Gnade, nicht anstehn. Ohne Zweifel würde es den Kindern Israel besser gefallen haben, wenn sie nicht Jahr aus, Jahr ein, jeden Morgen gleich arm hätten sein dürfen. Aber Gott hatte es absichtlich so eingerichtet. Es lag nicht in der Natur des Manna, dass es sich nur einen Tag hielt, denn sonst würde man es ja nicht vom Freitag auf den Sonnabend haben aufbewahren können. Es war dies eine göttliche Anordnung. Sie war gewiss nicht ohne Zweck. Was konnte aber wohl anders ihr Zweck sein, als der, die Kinder Israel in einer beständigen Abhängigkeit von dem Herrn zu erhalten, und darin zu üben, ihre Hoffnung ganz auf ihn zu setzen. Verbot Christus nicht aus dem nämlichen Grunde seinen Jüngern, weder vorrätiges Geld noch sonst was mit auf ihre apostolische Missionsreise zu nehmen noch auch sich auf das, was sie reden sollten, vorzubereiten: es soll euch zur Stunde gegeben werden. Wer dies für eine leicht zu befolgende Verhaltungsregel hält, der muss sich selbst noch wenig kennen. Nicht bloß zur Stunde wo man es bedarf, sondern im Voraus hätte man es gern und zwar nicht im Glauben, sondern in eigentümlichem Besitz. Es wäre in der Tat etwas, der Natur sehr angenehmes, so viel Vortrefflichkeit in sich selbst zu haben, dass man davon bestehen und damit ausreichen könnte. Aßen unsere Eltern nicht eben deshalb von dem Baume? Es ist uns nicht anständig in Christo – lieber wollten wir in uns selbst vollkommen sein. Aber das gibt nicht. Willst du ein Jünger Jesu sein: so sorge nur für ein leeres Gefäß und bequeme dich zur geistlichen Armut. Erhebe dich zu einem mächtigen Vertrauen, dass eher junge, starke Löwen werden Hunger leiden, als dass die, so den Herrn fürchten, nicht sollten genug haben. Lerne die großen evangelischen Worte verstehen, wo es heißt: als die Armen, die doch viele reich machen, als die nichts haben und doch Alles haben. Es wird am notwendigen Manna nicht fehlen, sollte es auch nicht im Überfluss fallen. Bist und bleibst du denn auch stets in Einer Armut, weißt du diesmal so wenig durchzukommen, wie das andere Mal, so sei seine Gnade dir genug, denn seine Kraft ist in den Schwachen mächtig. – Wie weit ging es denn mit dem Missvergnügen der Kinder Israel? Sie saßen da und weinten, heißt es. Worüber weinten sie denn? Über ihre ganze Lage, über ihre Reise, ihre Beschwerden, über ihren Mangel an Melonen und Fleisch. Das war ja eine große Betrübnis, und das über irdische Dinge! Aber ist es nicht so bei den irdisch gesinnten Menschen? Was macht ihnen Freude? Irdische Dinge. Was macht ihre Trauer? Irdische Dinge. Was setzt sie in Tätigkeit und Betriebsamkeit? Das Nämliche. Sind es ihre Sünden – über welche, ist es die Vergebung derselben, ist es die Reinigung ihres Herzens, ist es die Gnade Gottes, ist es etwa die Verderbung derselben, um welche sie weinen? Ach! wäre es das! Aber davon kommt bei ihnen nichts vor, und diejenigen, bei denen dergleichen vorkommt, die sind schon nicht mehr irdisch, sondern geistlich gesinnt. Es ist wahr, auch wahre Christen können und dürfen über irdische, zeitliche Gegenstände weinen, denn sie sind keine Steine. Jesus bestraft die am Grabe ihres Bruders weinenden Schwestern so wenig, dass er vielmehr, an ihrer Trauer teilnehmend, selbst weint; und Paulus gesteht, wenn ihm sein lieber Epaphroditus gestorben wäre, so würde er eine Trauer über der anderen gehabt haben. Allein sie mäßigen diese Trauer und beugen sich unter den Willen Gottes. Sie haben andere und höhere Gegenstände ihrer Freude, wie ihrer Trauer; denn sie sind geistlich gesinnt.
Die Betrübnis Israels artete sogar in einen Widerwillen gegen Gott aus und in Trotz. Nach dem 78. Ps. fragten sie nicht nur: wer will uns Fleisch geben, sondern forderten ihn in ungläubigem Trotz heraus, sagend: ja, sollte Gott wohl einen Tisch bereiten können in der Wüste? Siehe, er hat wohl den Felsen geschlagen, dass Wasser flossen, aber wie kann er seinem Volke Fleisch geben? Das waren ja gottlose Gedanken und abscheuliche Äußerungen, wodurch sie Gott verkleinerten; es war eine ungeheure Unvernunft, dass sie Ein Wunder zugeben und ein anderes für unmöglich halten, da es Gott doch, wie der Erfolg erwies, ein Leichtes war, ihnen, auch ohne ein eigentliches Wunder, Fleisch die Fülle zu geben. Wäre es nicht sehr natürlich gewesen zu denken: derjenige, der uns aus dürrem Felsen Wasser geben konnte, der kann uns auch in dieser Wüste Fleisch geben, wenn er nur will. Und was scheint leichter als ein solcher Schluss? Sollte der Mensch denn so gottlos und verfinstert sein, dass er sogar solcher Gedanken unfähig ist? Denn warum sollten wir diesen besonderen Fall nicht aufs Allgemeine deuten, da uns der Apostel 1. Kor. 10. ausdrücklich sagt: es sei uns zum Exempel geschrieben. Machen wir’s besser? Christus sagt: wahrlich, wahrlich ich sage euch, es sei denn, dass jemand von neuem geboren werden, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehen. Lasst ihr Menschenkinder das aber nicht so ganz auf sich beruhen, ohne irgendeinen Beweggrund für euch selbst daraus herzuleiten? Tut Buße, heißt es. Aber wie oft und wie lange hat’s so geheißen, ohne dass ihr fragt: was mache ich doch? Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes, heißt es. Wer kehrt sich dran? Ihr habt kein Ohr, das da hörte, kein Auge, das da sähe, noch ein Herz, das verständig wäre, und bis auf den heutigen Tag hat Gott es euch noch nicht gegeben, sonst benähmet ihr euch ganz anders. – Aber ihr Andern, sind eure Herzen nicht auch noch in euch verstarret, wie Christus seinen Zwölfen sagt? Gott hat seines eigenen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für euch dahin gegeben. Der Schluss, den ihr daraus herleiten sollt, ist dieser: wie sollte er uns mit ihm nicht Alles schenken! Macht ihr den? Es heißt: er sorgt für euch. Werft ihr denn nun alle eure Sorge auf ihn? Was für Kraft hat sein Wort bei euch? O Herr! mache mich lebendig durch dein Wort! Amen.