Krummacher, Gottfried Daniel - Was ist evangelisch? (5)
Fünfte Predigt.
Eine der erfreulichsten Botschaften, die jemals ein Mensch in zeitlicher Beziehung empfing, war diejenige, die der alte Jakob bekam, als ihm glaubwürdig berichtet wurde: Dein Sohn Josef lebt noch. (1. Mos. 45,26). Anfangs war sein Gemüt zu enge und zu gedrückt, um diese große Freude in sich aufzunehmen, als sie ihm aber durch die mitkommenden Wagen, die Josef gesandt hatte, ihn abzuholen, versiegelt wurde, daß er ihr nicht länger widerstehen konnte, da ward sein Geist in ihm lebendig, und er sprach: Ich habe genug, daß mein Sohn Josef noch lebet. Da heißt er denn auch gleich im folgenden Verse Israel, da er vorher Jakob genannt wurde. Denn dieser heilige Erzvater ist nach seinem Namen Jakob ein Bild der Kirche in ihrer Erniedrigung, nach seinem Namen Israel (Fürst Gottes) aber in ihrer Erhöhung. Tief war der Patriarch seit der Abwesenheit Josefs, den er für tot hielt, niedergebeugt, so tief, daß er selbst ausrief: Es gehet alles über mich, und so außer sich, daß er schrie: Ihr beraubet mich aller meiner Kinder, da er doch noch zehn hatte. Sein Geist war in steter Trauer wie tot und wurde erst wieder mit Mühe lebendig, da er glaubwürdig vernahm, sein Liebling lebe noch. Ei, wie kam es dann doch, daß Josef so gar nichts von sich hören ließ? Er konnte ja jetzt Wagen nach Kanaan schicken, warum denn nicht früher Boten? Wie läßt der sonst ja so zart fühlende Josef seinen Vater in so langer 22jähriger Trauer, und wie kann er selbst so lange ohne Nachricht von seinem, ihn so sehr liebenden Vater bleiben, daß er nicht weiß, ob er noch lebe oder nicht? Lasset uns nicht so fragen! Jakob sollte gedemütigt und nahe am Staube gehalten werden. Und wenn das jemand soll, so schickt sich schon alles dazu und wohl das, was uns eben am meisten weh tut. Jakob mußte eben hindurch. Ich muß das leiden, sagt David (Ps. 77,11).
Im Ganzen ist das so Gottes Weise. Die er lieb hat, die züchtigt er, die er stürzen will, erhebet er zuvor, so wie er die demütigt, die er erhöhen und um so tiefer demütigt, je höher er sie erheben will. Es ist wunderlich aber wahr, daß er zuvor zu nichte und dann zu etwas, und daß er seine Werke noch immer aus nichts macht. Will und soll jemand von Gott getröstet, so muß er vorher von ihm betrübt werden.
Das sind göttliche Reichsordnungen, von denen er nicht abgeht, und je besser sich jemand darin zu fügen und zu schmiegen weiß, desto leichter kommt er zurecht; je weniger er dies kann, desto schärfer wird er mitgenommen. Der Ton muß sich um so mehr verarbeiten, kneten, klopfen und werfen lassen, je feineres Porzellan daraus werden soll. Deswegen heißt es: Weigere dich der Züchtigung nicht, sperre und sträube dich nicht!
Es gibt noch eine fröhlichere Botschaft, nämlich die: Jesus lebt. Und wenn dies in eine betrübte Seele hineingesagt wird, so wird sie lebendig, aus einem Jakob ein Israel und ruft auch aus: Ich habe genug.
Der Herr machte uns tüchtig, die Botschaft zu empfangen und segne dazu sein Wort!
Den Armen wird das Evangelium gepredigt.
Matth. 11,5
Den Armen wird Evangelium gepredigt oder evangelisiert. ich bin gekommen, den Elenden zu predigen um der elenden Schafe willen. Ihr Elenden, euer Herz soll ewig leben. Fürchte dich nicht, du Würmlein Jakob und du armer Haufe Israel! Ich habe eine gelehrte Zunge, mit den Müden zu reden zu rechter Zeit, saget den verzagten Herzen: Seid getrost! Tröstet, tröstet mein Volk, redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, daß ihre Ritterschaft ein Ende hat! Diese Sprüche, deren Anzahl sich leicht vermehren ließe, dienen uns zum Leitfaden bei der Beantwortung der Frage, die neulich noch zurück blieb, der Frage nämlich: Wem soll das Gesetz, wem das Evangelium gepredigt werden?
Wir fragen zuerst: Wem soll das Gesetz gepredigt werden? Diese Frage schließt eine andere in sich, die nämlich: Was heißt das: Das Gesetz predigen? Das heißt erstlich:
Seine Forderungen ihn ihrem weiten Umfange darlegen.
Diese Forderungen alle lassen sich in zwei zusammenfassen, in die beiden nämlich: Liebe Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst! In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten. Sie lassen sich in zehn Hauptgebote, wie die Glaubenswahrheiten in zwölf Artikel zerlegen. Wer vermag aber die Menge der einzelnen Gebote zu übersehen! Hat man nicht starke Bücher von vielen Bänden, die sie verhandeln, ohne sie zu erschöpfen? Wie scharf und scharfsichtig auch viele Menschen sind in Beurteilung der Absichten und Triebfedern der Handlungen anderer Menschen, so wenig sind sie durchgängig geneigt, zu beherzigen, wie auch bei ihren eigenen Verrichtungen alles darauf ankommt. Im Ganzen sind die Menschen zufrieden, wenn sie nur keine offenbar bösen Handlungen begehen, wobei sie sich jedoch selbst die Bestimmung vorbehalten, was denn eigentlich unter bösen Handlungen zu verstehen sei, wofür sie am Ende wohl keine andere werden anerkennen wollen, als die bloß aus bösem Vorsatz um sie zu begehen, verübt werden. Außer diesen legt man ihnen die mildern Namen der Fehler und Übereilungen, des Leichtsinns bei, die doch so gar viel nicht auf sich haben. Und hat man nicht wohl schon von Mördern und Straßenräubern geurteilt, daß sie vortreffliche Anlagen gehabt hätten, sehr brauchbare Menschen zu werden, wenn sie nur eine gehörige Richtung bekommen hätten? Verrichten sie dagegen Handlungen, die wirklich dem Gesetz gemäß sind, so begnügen sie sich damit, ohne sich groß darum zu bekümmern, ob sie auch in der Weise geschehe, wie Gott es fordert. Sind sie nur, um dies beispielsweise zu nennen, sind sie nur in der Kirche gewesen, haben sie nur ihr Gebet hergesagt oder gelesen, so ist's ihnen damit vollkommen genug, und es fällt ihnen nicht ein, zu prüfen, wie sie gehört, wie sie gebetet haben, worauf es doch eigentlich ankommt, denn das Gesetz will nicht nur, daß das geschehen war, sondern daß es auch so vollbracht werde, wie es geschehen soll, so daß z.B. alles Sünde ist, was nicht aus Glauben geschieht, möchte es auch Beten oder sonst was sein. Denn die göttlichen Gebote beschränken ihre Vorschriften nicht bloß auf die Handlungen, sondern auch auf die allerinnersten Gedanken, Gesinnungen und Regungen. So kann jemand bei einem Haufen rühmlicher Handlungen, doch nur noch ein getünchtes Grab sein und bei einer ganz nett geschmückten Lampe, des Öls ermangeln. Es kann ein Mensch so beten, daß seine Verdammnis desto größer wird (Matth. 23,14),Psalmen singen, wo Gott es ein Geplärr nennt und sagt, er sei müde, es zu hören; es kann jemand die Feiertag halten aber auf eine Weise, die sie zum Unflat macht, den der Herr ins Angesicht der Feiernden zurückwirkt; des Weihrauchs so gedenken, als wenn er das Unrecht lobete und ein Schaf opfern, als ob er einem Hunde den Hals bräche (Jes. 66). Das Gesetz ist geistlich und duldet keinerlei Gedanken oder Luft, die demselben zuwider ist, wenn sie auch nicht einmal absichtlich genährt werden, sondern sich unwillkürlich äußerten.
Das Gesetz predigen heißt zweitens, die verbindende Kraft einer jeglichen Forderung für jeden Menschen nachweisen. Selbst ihre Form stellt diese verbindende Kraft vor Augen. Es heißt mehrenteils du, du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht mißbrauchen, du sollst Vater und Mutter ehren, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, damit ein jeglicher merke, daß es eben ihm angeht, und daß niemand irgend ein Gebot von der Hand weise. Die römische Kirche macht einen arglistigen, eigengerechten Unterschied, indem sie sagt, einige Forderungen seien Gebote, andere aber nur Ratschläge, die nicht einen jeden binden, sondern deren Ausübung zur Vollkommenheit gehöre und den Klöstern überlassen bleibe, ein Unterschied den nur blinde Eigengerechtigkeit hat machen können. Nein, nein ein jeglicher ist für seine eigene Person an das Gesetz und alle seine großen und kleinen Forderungen so gebunden, daß jedermann verflucht ist, und hielte er alles, ließe aber eins zurück, so wäre das ganze Gesetz gebrochen. Kein hoher oder niedriger Stand, keine Verhältnisse, keine Schwierigkeiten können jemanden auch nur für einen Augenblick von seiner Pflicht entbinden, selbst Unwissenheit überhebt der Strafe nicht, mag sie dieselbe auch mindern, noch viel weniger das Unvermögen dazu, denn beides ist an sich schon strafbar. Sei Kind, Jüngling oder Mann, sei reich oder sei arm, gelehrt oder unwissend, es heißt: Du sollst, und wehe dir, wenn es nicht geschieht, was du sollst!
Tust du das, was du sollst und übest du es so, wie es vorgeschrieben ist, so hast du deinen Lohn, du sollst leben, ewig leben. Nicht einmal zeitlich wirst du sterben, denn der Tod ist der Sünde Sold, und du hast ja keine Sünde. Die Gerechtigkeit Gottes wird dir deinen Lohn nicht vorenthalten. Sie wird dein Verdienst anerkennen und es belohnen nach Pflicht, denn Gnade gilt hier nicht, sonst wäre Verdienst ja nicht Verdienst. Hier geht's nach dem Recht und zwar nach dem Recht, das du dir selbst durch deinen vollkommenen Gehorsam erworben hast. Wer unschuldige Hände hat und reines Herzens ist, wer nicht Lust hat zu loser Lehre und schwöret nicht fälschlich, der wird Segen von dem Herrn empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils, nur daß du auch in keinem Worte fehlest.
So gewiß dies ist, so gewiß wisse auch auf der andern Seite, daß Gott den Ungehorsam nicht ungestraft läßt, sondern erschrecklich zürnt beides über angeborne und wirkliche Sünden und sie nach gerechtem Urteil zeitlich und ewig strafen will, wie er gesprochen hat: Verflucht sei jedermann, der nicht bleibet in allem dem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er es tue! Es ist gar erschrecklich, daß jeder, der das Gesetz bricht, ohne Barmherzigkeit sterben muß (Hebr. 10,28), gar erschrecklich zu vernehmen, was auf die Übertretung des Gesetzes gedroht wird. Wer sollte nicht erbeben, wenn er hört, daß Gottes Zorn, das Fürchterlichste unter allen fürchterlichen Dingen, offenbar werden soll über das gottlose Wesen, und daß Ungnade und Zorn, Trübsal und Angst, alle erwartet, die da Böses tun, so daß der Apostel Hebr. 10 mit Recht ausruft: Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen! Was kann fürchterlicher sein als der Fluch, womit der heilige und schreckliche Gott die Übertreter belegt! Ergehet er über ein Land, es wird zur Wüste; über ein grünendes Gewächs, es verdorret; über einen Menschen, er vergeht ohne zu vergehen. Er raubt jegliches Gute, Angenehme, Erquickliche bis zum Tropfen Wasser hin. ist nicht der Tod der Sünde Sold und zwar der ewige Tod, der nichts als Qual bringt, eine Qual welche ein Peinleiden genannt und verglichen wird mit der Pein, die ein brennendes Feuer, die ein angelnder Wurm verursacht. Und diese Qual dauert ohne Ende, so daß der Rauch derselben aufsteigt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Billig sagt deswegen Christus, wir sollten das nicht für das Schlimmste achten, was uns widerfahren könnte, wenn Menschen uns töten, sondern fürchtet euch vor dem, der, nachdem er getötet hat, auch Macht hat zu werfen in die Hölle; ja, ich sage euch, vor dem fürchtet euch! Nicht umsonst sagt Moses: Ich bin erschrocken und bebe, und ein jeglicher hat hohe Ursache, nachzufragen, wie wir würdig werden mögen, zu entfliehen diesem allem und zu stehen vor den Menschen Sohn.
Dies ist der Inhalt der Predigt des Gesetzes. Ist sie euch erfreulich? ist sie das, was ihr bedürft? Ist sie euch tröstlich, und findet ihr hier das Fundament, worauf ihre eure Beruhigung gründen könnt? Wollt ihr dabei leben, wollt ihr darauf sterben, wollt ihr darnach gerichtet werden? Oder verzagt ihr an eurer Kraft? Verzagt ihr an eurer Gerechtigkeit? Seht ihr euch genötigt, zu bekennen, daß ihr nach Leib und Seele verloren seid, wenn kein anderer als der bezeichnete Weg, zum Leben führt, und fraget ihr nach diesem Weg?
Wem wird denn nun dies Gesetz gepredigt? Freilich überhaupt allen Menschen. Insbesondere aber soll das Gesetz auch den Bekehrten und Begnadigten, sonderlich aber den Versicherten, Freudigen und Mutigen unter denselben gepredigt werden. Nicht sie in ihrer Freude am Herrn, die ja unsere Stärke ist, zu stören, nicht ihre empfangene Versicherung zu erschüttern, nicht ihren Mut zu lähmen, nicht sie in ein ängstliches Wesen zu jagen und sie schüchtern zu machen, daß sie ihren Mund nicht mehr weit auftun zu schwören: In dem Herrn haben wir Gerechtigkeit und Stärke, sondern teils dem üppigen, übermütigen Fleisch, das sich das Evangelii auch gern anmaßen und sich dadurch vor dem Kreuz und Untergang schützen möchte, einen Zaum und Gebiß anzulegen, denn auf den Rücken dieses Narren gehört, wie Salomo sagt, die Peitsche; teils jene früher näher bezeichnete Zwecke zu erreichen, sowohl zu verhüten, daß die Seele nicht leichtfertig werde wie Paulus sagt: Sei nicht stolz, sondern fürchte dich, und wer meint zu stehen, der sehe wohl zu, daß er nicht falle; als auch dem Übel vorzubauen, daß sie den segnenden Boden des Evangeliums nicht verlassen und sich fangen lassen unter dürftige Satzungen. Zugleich werden dadurch denjenigen, welche durch Selbstthun wollen heilig sein, ihrer Ziegelzahl bezeichnet, die sie liefern müssen.
Am eigentlichsten aber soll das Gesetz euch unbekehrten und gnadenlosen Seelen gepredigt und vorgehalten, ihr aber dabei arretiert und festgehalten werden. Diese unglückseligen Menschen, teilen sich in zwei Hauptklassen. Die erste ist heutzutage wohl die zahlreichste, wenn gleich wohl nicht in dieser Versammlung, denn das sind die offenbar Gottlosen, die sich, wie ihr ganzer Lebenswandel beweist, ganz von Gott und seiner Furcht losgerissen haben, also auch in keine Kirche kommen. Statt zu beten, fluchen sie, statt Gott zu ehren, lästern und verleugnen sie ihn, statt zu glauben, spotten sie und prahlen wohl mit ihrem Unglauben und Ungehorsam. Sie scherzen, sie spötteln und lachten über die allerwichtigsten Dinge, suchen sie auf eine witzige oder plumpe Weise lächerlich zu machen und bringen es wohl so weit, daß sie, wie Hiob sagt. Kap. 21,13, kaum einen Augenblick vor der Hölle erschrecken. Zwar können wir nicht vermuten, daß deren auch hier gegenwärtig sind, dennoch kündigen wir ihnen, sie hören oder lassen es, an, daß der Zorn Gottes über ihnen bleibe, und daß sie der ewigen Verdammnis nicht entrinnen werden, wofern sie sich nicht bekehren. Dies nämliche gilt allen sorglosen sicheren Sündern, die sich um nichts weniger bekümmern als um das Heil ihrer Seelen. Ihr alle habt nicht den geringsten Anteil an dem Reiche Gottes, nicht den geringsten Anspruch an sein Erbarmen, sondern seid vielmehr Gefäße des Zorns, zugerichtet zur Verdammnis und häufet euch nach eurem verstockten Herzen Zorn auf den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes. Eilet deswegen und tut. Buße, damit ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allem, denn so der Gerechte kaum erhalten wird, wo will der Gottlose und Sünder erscheinen?
Es gibt aber noch eine andere Klasse von Unbekehrten, die zwar eben so tot in Sünden sind wie diese, aber doch ein empfehlenderes Äußere haben, weshalb Christus sie geschmückten Gräbern vergleicht. Das sind die Ehrbaren und Selbstgerechten. Sie halten sich selbst für gut und sind es in einem gewissen Sinne auch. Grobe Vergehungen sind fern von ihnen. Sie sind mit manchen Tugenden geschmückt und gereichen der bürgerlichen und kirchlichen Gesellschaft zur Zierde, glauben nun aber auch wohl begründete Ansprüche an die irdischen wie himmlischen Belohnungen zu haben und sind im Begriff zuversichtlich zu fragen: Was fehlet uns noch? Alles, ist die Antwort, die euch gebührt. Das ganze Wort Gottes hat so wenig irgend einen Trost für euch, daß es euch vielmehr als diejenigen bezeichnet, welche am weitesten vom Reiche Gottes ab und demselben feindselig gegenüber stehen. Ihr seid es, welche in ihrer Art die Sekte der Pharisäer fortsetzen, wie gern ihr auch andere mit diesem Namen bezeichnet. Ihr gedenkt mit eurem Thun vor Gott zu bestehen. Aber ihr seid es, denen das Gesetz in seinem weiten Umfange vorgehalten werden muß, wonach jeder verflucht ist, der nicht alle Gebote erfüllt und der, wenn er an einem fehlt, des ganzen Gesetzes schuldig ist. Ihr seid es, die daran erinnert werden müssen, daß eure Werke aufs genaueste werden geprüft werden, ob sie auch alle erforderliche Eigenschaften haben, ob ihnen die rechten Triebfedern und Bewegungsgründe, Zwecke und Absichten zu Grunde liegen, ob es nicht statt Tugenden glänzende Laster sind, und statt der Belohnung Strafe verdienen. Ihr bauet eure Hoffnung auf den Sandgrund der Pflichterfüllung. Aber auf diesem Boden habt ihr durchaus kein Recht an die göttlichen Verheißungen, die nur in Christo Jesu Ja und Amen sind, kein Recht euch der göttlichen Güte und Barmherzigkeit zu getrösten, sondern ihr habt es nur mit der unzugänglichen Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes zu tun, da ihr der einzigen Gerechtigkeit nicht untertan seid, die vor Gott gilt, also auch unmöglich vor seinem Gericht bestehen könnt. Ihr hofft freilich dennoch selig zu werden. Aber euer Gebäude ist auf Sand erbaut, und so lange ihr dasselbe nicht auf einem andern Fundamente anlegt und zwar demjenigen, das gelegt ist, Christo, wird es die Winde und Wasserströme nicht erleiden mögen, sondern fallen und einen großen Fall tun. Sehet euch deswegen bei Zeiten vor! Sprecht nicht: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts, sondern lernt erkennen, daß ihr elend seid, jämmerlich, arm, blind und bloß! Laßt euch raten, euch Gold zu kaufen, das mit Feuer durchläutert ist, daß ihr reich werdet!
Wir gehen zu unserm zweiten Teil über, indem wir fragen:
Wem soll denn Evangelium gepredigt werden?
Was heißt Evangelium predigen? Es heißt kund machen und zeigen, was wir an Christo Jesu haben, was er uns ist, was für ein Geschenk uns der Vater mit seinem eingebornen Sohne gemacht hat. Gottlob, ein weites Feld voll der köstlichsten Früchte, grüne Augen an sanft fließenden Wassern, eine volle Mahlzeit, ja ein königliches Hochzeitsmahl wo alles Angenehme, Nötige und Nützliche im größten Überfluß angetroffen wird für die Genesenden und die wirksamste Arznei für Kranke. Alles ist schon bereitet und wird umsonst angeboten, ja die erforderlichen Prachtkleider noch dazu hergegeben. O eine liebliche Beschäftigung den Reichtum Christi ein wenig auseinander zu legen, zumal da es ein Reichtum ist, von dem es heißet: Nehmet, esset! Evangelium predigen heißt bekannt machen, was wir, so wir glauben, in ihm sind, welches ungemein viel bedeutet und vom Apostel Kol. 2 in dem einen, alles umfassenden Ausdruck zusammengestellt wird, wenn er sagt: Ihr seid vollkommen in ihm. Also daß ihr keinen Mangel habt, fügt er bei den Korinthern hinzu. Und was will das nicht sagen: In Christo zu sein! Also nicht nach demjenigen, was man in sich selbst, sondern nach demjenigen, was man in Christo ist, angesehen und beurteilt zu werden, so angesehen zu werden, als seien wir samt ihm gekreuzigt, gestorben und begraben, auferweckt und in das himmlische Wesen versetzt, folglich eine Gemeine, die nicht hat Flecken, Runzel und Tadel, sondern die da ist heilig und unsträflich vor ihm in der Liebe. Evangelium predigen heißt nachweisen, welche Rechte und Hoffnungen um seinetwillen haben, als da ist das Recht und die Hoffnung der vollkommenen Erlösung, beides Leibes und der Seelen, das Recht des völligen Sieges über alle Feinde, zuletzt auch über den Tod, das Recht des freien Zutritts zum Gnadenthron, das Recht der Kind- und Erbschaft, sowie das Recht, daß alles uns zum Besten dienen muß. Evangelium predigen heißt, alle die herrlichen Verheißungen des Gnadenbundes auseinander legen, wie sie vom Kleinsten bis zum Größten fortschreiten, und dem rückkehrenden verlorenen Sohn gleichsam Kleider, Ring und Schuhe entgegen tragen und einen Hut auf sein Haupt setzen. Kreuz, Evangelium predigen heißt das Allerfreulichste, lieblichste und erwünschteste verkündigen, was ein Mensch nur hören kann: Gutes predigen, Heil verkündigen, nichts fordern, sondern alles anbieten, nichts befehlen, sondern alles schenken, nicht schrecken sondern trösten, nicht niederschlagen sondern aufrichten und Mut machen.
Aber wem soll das Evangelium gepredigt werden? Welche gehet es an? Was für welche sind damit gemeint? Christus sagt: Predigt das Evangelium aller Kreatur. Aber seine Meinung ist doch keineswegs die, als ob alle Menschen ohne Unterschied als solche sollten dargestellt werden, die ohne weiteres an den herrlichen Gütern des Evangeliums teilhaben, die sich allesamt dessen versichert halten und getrösten sollen, daß Christus für sie genug getan habe, daß er um ihrer Sünden willen gestorben und um ihrer Gerechtigkeit willen auferwecket sei, daß sie einen gnädigen Gott, Vergebung aller ihrer Sünden und das ewige Leben haben, mögen sie übrigens gesinnt sein, leben und handeln wie sie wollen. Da sei ferne! Dann wäre das Evangelium eine unheilige und die Gottlosigkeit befördernde Lehre, die man aufs nachdrückliche zurückweisen und bekämpfen müßte. Nein, das Evangelium hat zwei Schlüssel. Mit dem einen schließt es eben so das Himmelreich vielen zu, wie es dasselbe mit dem andern vielen öffnet. Es fährt keineswegs so in das rohe Volk hinein und stürzt sich nicht wie ein Platzregen auf jedermann herab, wo auch die naß werden, welche vor dem Regen fliehen, auch die selig würden, die es nicht wünschen. Wir räumen es nicht ein, daß Christus für alle Menschen gestorben sei, da er selbst sagt, er lasse sein Leben für die Schafe; wie sollten wir denn vorgeben können, alle Menschen hätten an seinen Gütern Teil? Hätten sie das, so würden sie auch an der Herrlichkeit Christi teilhaben, da man doch das offenbare Gegenteil an ihnen gewahrt, zum unwidersprechlichen Zeichen, daß sie keine von denen sind, die Christo angehören. Aber so wenig wir dies einräumen, eben so wenig predigen wir den ehrbaren und unbescholtenen Menschen das Evangelium, als ob sie deswegen, weil sie das sind, auch teil hätten an den reichen Gütern des Hauses Gottes; das sei ferne! Mögen sie sich's auch voll Trotz einbilden, so müssen sie doch wissen, daß sie das Geld nicht haben, wofür man irgend ein Teilchen von dem feuerbeständigen Gold kauft, das da reich macht, und vor Gott nichts mehr, wo nicht gar weniger gelten, wie die Erstgenannten. Aber eben so wenig knüpfen wir die freie Gnade an gewisse, vorläufige, von dem Menschen selbst zu erfüllende Bedingungen, unter welchen wir ihm erlauben aufzusehen, auf Jesum; denn Gott hängt die Erde an nichts (Hiob 26,7) auch im Gnadenreich.
Unser Text sagt's uns deutlich genug, welche es sind, denen Evangelium gepredigt werden soll. Es sind die Armen. Das sind diejenigen, welche ihre Sünde und Strafbarkeit mit Scham und Schmerz erkennen, die darüber bekümmert und niedergeschlagen sind, die für sich allein kein Durchkommen sehen, die nach Vergebung der Sünden, nach Gerechtigkeit, Trost und Heiligung hungert und durstet, die es auf allen Seiten gewahr werden, wie sehr sie eines Seligmachers bedürfen und ihn deswegen aufs lebhafteste suchen und begehren. Diese sind es, denen nicht das Gesetz, sondern das Evangelium gepredigt wird, denen man keine Lasten auflegen, sondern Erleichterung verschaffen, die man nicht mit Forderungen ängstigen darf, deren sie ohnehin schon genug an sich selbst machen, sondern die man mit den Verheißungen erquicken muß. sie sind es, vor deren tränenfeuchten Augen man den unausforschlichen Reichtum der Schätze Christi auseinander legen, die man als Mühselige und Beladene aufs freundlichste herbeilocken, ja sie gewissermaßen nötigen und zwingen soll, in den Hochzeitssaal zum Abendmahl herein zu kommen, zu essen und zu trinken, trunken zu werden von den reichen Gütern seines Hauses und sich durch keine Bedenklichkeiten zurückscheuchen zu lassen, von welcher Art dieselben auch sein möchten. Wer da die Harfe Davids am lieblichsten zu rühren und die Trauergeister zu verscheuchen vermag, daß der Freudenmeister, Jesus tritt herein, ist der Beste. Da soll kein Gesetzton mißlautend drein tönen, der diese Armen ängstigt, sondern ihnen, als den jetzt geborenen Kindlein, die unverfälschte lautere Milch des Evangelii zugedient werden, daß sie dadurch wachsen mögen.
Und hiermit beschließe ich meinen Beitrag zur Beantwortung der Frage:
Was ist echt evangelisch?
Statt aller sonstigen Anmerkungen möchte ich mit einigen Äußerungen Luthers schließen. Wo das Gesetz und Evangelium, sagt er unter andern, sein eigentlich unterschieden wird, daß nämlich das Gesetz schreckt, verdammet und tötet, das Evangelium aber tröstet, lebendig und selig macht, da bleibt die ganze christliche Lehre rein und lauter, daß man sich dadurch wohl alles Ärgernisses und Irrtums erwehren kann. Es ist aber in allen Schulen und Kirchen etliche hundert Jahre daher nichts Rechtschaffenes von solchem Unterschied des Gesetzes und Evangeliums gelehrt worden, dadurch denn die armen elenden Gewissen in große Fahr und Schanden kommen sind. Wo man ihn aber recht und gewiß hat, so weiß man sein und richtig, was da sei die rechte Weise, wie und wodurch man vor Gott gerecht werden soll. Aber diesen Unterschied haben selbst die heiligen Väter nicht recht eingesehen. St. Augustinus hat ihn zum Teil verstanden, Hieronymus aber und andere haben wenig davon gewußt. Gott will, sagt er ferner, daß die Gottlosen und Selbstgerechten durchs Gesetz gedämpft, gedrückt und beschwert werden, auf daß sie gedemütigt erkennen und sehen, daß sie genug zu tun haben. Das Evangelium aber ist eine Lehre, die gehört allein für die armen, betrübten und geängsteten Gewissen. Doch werden die gottseligen und frommen Christen am meisten damit geplaget, vexiert und gemartert. Auf daß Gott schweige, dämpfe und mit Gewalt zu Boden schlage jene schädliche und wütende Bestie, nämlich den Dünkel, daß die Menschen meinen, sie wollen durchs Gesetz und ihre Werke gerecht, fromm und selig werden (welcher lästerliche Gedanke die Menschen natürlich aufblähet und stolz macht, daß sie meinen, sie gefallen Gott wohl), hat er einen sonderlichen Herkules oder Simson mit einer Keule dazu verordnen und sondern müssen, der solche Bestie mit aller Macht angreife, gefangen nehme, zu Boden schlage und aufarbeite, d.i. er hat auf dem Berge Sinai müssen das Gesetz geben, mit solcher Pracht und so schrecklichem Gepränge und Gebärde, daß alles Volk sich dafür entsetzte, denn der Mensch träumet ihm selbst solche Gedanken, als sei er fromm und gerecht und überhebet sich seiner guten Werke und Verdienste. Einen solchen Heuchler und stolzen Heiligen kann unser Herr Gott durch keine andere Kunst weich machen und demütigen, daß er sein Elend und Verderbnis erkenne als durchs Gesetz, denn dasselbe ist die rechte Keule oder Hammer, der rechte höllische Donner und Axt göttlichen Zorns, der drein schmeisset, zu Boden schlägt und zerschmettert die verstockten und verhärteten Herzen. Das Gesetz ist auch ein Licht, das da leuchtet, sichtbar und offenbar macht nicht Gottes Gnade, auch nicht die Gerechtigkeit, wodurch man die Seligkeit und ewiges Leben erlangt, sondern die Sünde, unsere Gebrechlichkeit, den Tod und Gottes Zorn; das ist des Gesetzes eigen Werk, dabei es wenden und weiter nicht schreiten soll. Das Evangelium ist viel ein ander Licht, das die erschrockenen Herzen tröstet, lebendig macht und aufhilft, denn es zeigt an, wie Gott den unwürdigen, verdammten Sündern gnädig sei um Christus willen, wenn sie glauben, daß sei durch seinen Tod erlöset sind. Wenn wir Gesetz und Evangelium so unterscheiden, geben wir jeglichem sein gebührlich Werk und Amt, das ihm zustehet. Aber dazu muß über das Gesetz der Heilige Geist kommen, welcher im Herzen also sage: Gott will nicht, nachdem das Gesetz sein Werk und Amt an dir ausgerichtet hat, daß du allein sollst erschrecken und getötet werden, sondern daß du durchs Gesetz dein Elend und Verderben erkennest und gleichwohl darum nicht verzweifelst, sondern an Christum glaubest, welcher des Gesetzes Ende ist und gerecht macht alle, die an ihn glauben. Doch ich breche ab, obschon der große Gottesmann viel herrliche Dinge mehr sagt.
Der Geist des Herrn komme über uns, uns durchs Gesetz zu erniedrigen und sodann durchs Evangelium aufzuhelfen, und mache uns so zu rechtschaffenen Christen! Amen.