Krummacher, Gottfried Daniel - Jakobs Kampf und Sieg - 3. Betrachtung
1. Mose 32,27
Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
In dieser merkwürdigen Geschichte folgt ein Wunder auf das andere. Der Sohn Gottes renkt dem Jakob die Hüfte auseinander, aber Jakob verliert darüber so wenig den Mut, daß er sich dem um den Hals wirft, der ihm alle Kraft genommen, und sich von ihm tragen läßt, da er für sich nicht mehr stehen kann. Jetzt ereignete sich ein neues Wunder. Der Sohn Gottes bittet den Jakob, der Sieger den Überwundenen, der Starke den Schwachen: Laß mich gehen! Aber Jakob weiß seine Zeit klüglich in acht zu nehmen. Er antwortet: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Laß mich gehen! So spricht der Sohn Gottes zu Jakob. Dies Wort gehört zu den wunderbaren Worten, deren die Schrift mehrere enthält, zu den Worten, welche auf den ersten Blick etwas Ungereimtes zu besagen scheinen und doch den Charakter der göttlichen Weisheit an sich tragen. Wollten wir eine ganze Reihe solcher Paradoxen, solcher scheinbaren Ungereimtheiten anführen, so möchten es die Stellen sein, wo Paulus sagt: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark“; „als die Traurigen, aber allezeit fröhlich“; „als die Armen, die aber doch viele reich machen“; „als die nichts inne haben und doch alles haben“.
„Laß mich gehen!“ War das Ernst oder Verstellung? Verstellung? Wer kann das von dem Wahrhaftigen denken? Ernst? So war es ihm ein Geringes, sich aus den Armen Jakobs loszuwinden. Es war also eine neue Versuchung, in die er den Erzvater führte. Wehe ihm, hätte er ihn losgelassen! Elendiglich wäre er zur Erde hingesunken; der Sohn Gottes wäre verschwunden und mit ihm der Segen, welchen er durch sein Festhalten erlangte. Laß mich gehen! Wie, konnte er ihm die Arme nicht auch verrenken, welches doch leichter geschieht, als eine Hüfte? Nein, so weit reichte seine Macht nicht, weil sie innerhalb der Grenzen bleiben mußte, welche ihr das gegebene Gotteswort: „Ich will dir wohl tun“, anwies. Die Verrenkung der Arme aber, das Loswinden aus denselben, das Wegeilen, ohne gesegnet zu haben, wäre nicht Wohltun, sondern Schaden gewesen, und das konnte er freilich nicht um seines Wortes willen.
Laß mich gehen! Bedurfte er dazu der Einwilligung seines Freundes? gewiß! Er hatte ja den Bund der Gnade mit ihm und allen geistlichen Nachkommen Abrahams errichtet, nach welchem er ihr aller Schild und Schutz sein will. Er hat sich selbst zum Segnen und Wohltun verbindlich gemacht und kann dieser mit einem Eidschwur bekräftigten Verbindlichkeit ohne die Einwilligung seiner Bundesgenossen nicht los werden, und er selbst hat ihnen in der Wiedergeburt einen solchen Sinn gegeben, daß sie ihm dieses nie einräumen können noch werden. Ich halte dir vor dein Wort: Ihr sollt mein Antlitz suchen, darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz. Verleugnen wir, so wird er uns auch verleugnen; glauben wir nicht, so bleibt er doch treu. Er kann sich selbst nicht leugnen (2. Tim. 2,12. 18). Unser Unglaube kann Gottes Glauben nicht aufheben (Röm. 3,3). Aber er begehrte doch wohl nicht wirklich, daß Jakob ihn von der angenehmen Verbindlichkeit, ihm wohlzutun, loslöste? gewiß nicht, sondern er wollte das Vergnügen haben, zu sehen, wie fest durch seine Gnade auch das Herz seines Bundesgenossen ist, wenn auch viele Wasser der Trübsale über ihn ergehen, wie Gottes Same in seinen Kindern bleibt. So war es ihm ungemein angenehmen, wenn ein Hiob erklärte: „Und wenn der Herr mich auch töten wollte, so will ich doch auf ihn hoffen“, ungemein angenehm, wenn seine Jünger sagten: „Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast allein Worte des ewigen Lebens“, wenn seine Kirche in den äußeren Trübsalen und Anfechtungen unverrückt an ihm bleibt. Er selbst ist Urheber von diesem allen, und eben deswegen gefällt es ihm so, denn er hat Wohlgefallen an allen seinen Werken. Welch eine Freude wird es ihm gemacht haben, daß er den Jakob gar nicht wegkriegen konnte, daß er sich kurzum an seinem Worte hielt, daß er sich mit nichts von der Stätte verdrängen ließ, der Herr möchte sagen und tun, was er wollte, nachdem er einmal das Wort von ihm weg hatte: „Ich will dir wohl tun“, daß er sich gar an seinen Hals war, als er ihn des Vermögens, allein zu stehen, beraubt hatte, und auch nun noch unerschütterlich blieb, da es zu ihm hieß: „Laß mich gehen!“ Welch ein Vergnügen macht es ihm, wenn sich der Christ durch keine Leiden und Anfechtungen an ihm irre machen läßt, sondern auch dann an seinem Worte und seiner Gnade klebt, wenn es widerwärtig geht, wenn er getreu ist bis in den Tod.
Dies mutete der Herr dem Erzvater zu, ihn zu prüfen, ob er den auch lieb habe, der ihn so hart angriff und ihm so empfindliche Schmerzen verursachte. Was hier der Herr selbst zu Jakob, - das sagte zu Hiob sein Weib: Du hältst an deiner Frömmigkeit noch fest, obschon dich Gott mit unerhörten Trübsalen heimsucht? Nimm Abschied von ihm und laß ihn fahren! Es ist in der Tat keine geringe Weisheit und Kunst, sich in der Trübsal nicht nur geduldig zu verhalten, sondern sich ihrer sogar zu rühmen und an der Güte, dem Mitleiden und der erbarmenden Freundlichkeit des Herrn dennoch keinen Augenblick zu zweifeln, obschon man mit der Kirche (Jes. 63), klagen möchte: Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich; dennoch sagen: Du bist doch unser Vater, mit David bekennen: Dein Weg ist heilig (Ps. 77); und mit dem Klagelied Jeremias: „Deine Güte ist alle Morgen neu!“ Das ist Kunst! Gewiß hat Gott in dieser Zeit der Not manchem seiner Kinder zugemutet, diese Lektion aufzusagen; und zu manchem mag der Versucher gesprochen haben, was die Feinde Jesu zuriefen, da er am Kreuze hing: „Er hat Gott vertraut, der erlöse ihn nun.“
Laß mich gehen! Dies sagte der Herr zum Erzvater, um seinen Glauben zu prüfen, ob der Erzvater dennoch an der Verheißung festhalte: ich will dir wohl tun, obschon das widerwärtige Benehmen des Sohnes Gottes gerade das Gegenteil zu beweisen schien. Der Glaube hat mancherlei Stufen: Jetzt ist es ein Glaube, weil man sieht, fühlt, schmeckt und sich der Herr in seiner Freundlichkeit und Gnade so zu der Seele des Begnadigten bekennt, daß er sagen möchte: ich glaube nicht bloß um des Wortes willen, sondern ich erfahre es an mir selber, daß Jesus Sünder selig macht. Das sind teure Erfahrungen, süß in der Empfindung, köstlich in der Frucht. Aber der Glaube, welcher in diesen Umständen ungemein stark zu sein scheint, ist doch im Grunde sehr schwach. Er wandelt an dem Stabe der Empfindung; die empfindliche Freude am Herrn ist seine Stärke. Er hat seinen Grund mehr in sich selbst als im Herrn und sinkt oft zur äußersten Mutlosigkeit herab, wenn die Entzückung nachläßt.
Eine höhere Staffel ist es: nicht sehen und doch glauben, dem Worte gemäß beten und an Erhörung glauben, obschon man sie nicht mit Findern zeigen kann, glauben, des Herrn Wege seien eitel Güte und Wahrheit, obschon es die Vernunft nicht sieht.
Noch weiter aber geht es, wenn man glaubt auf Hoffnung, wo nichts zu hoffen ist, ja wider die Hoffnung, wider die Empfindung an. So glaubte selbst der Herzog unserer Seligkeit sich durch, da er, von Gott verlassen, von der sichtbaren und unsichtbaren Welt bestürmt, voll Schmerzen an Leib und Seele drei Stunden lang am Kreuze hing. Gott legte ihn in des Todes Staub, und dennoch nannte er ihn im Glauben seinen Gott. Das ist das Höchste im Glauben. Wer da überwinden will, der muß in der Erkenntnis des Geheimnisses Gottes befestigt, der muß in der Verleugnung seiner selbst schon weit gekommen, ihm muß das Gelenk des Vertrauens auf eigene Weisheit und Kraft ziemlich verrenkt sein. Er muß Jesu ziemlich tief ins Herz schauen können und wird dann doch wohl mit Paulus sagen müssen: Uns ist bange, aber wir verzagen nicht (2. Kor. 4,8). Ich glaube, darum rede ich (Ps. 116,10), werde aber sehr geplagt.
Laß mich gehen! Auch der Mut Jakobs ward auf die Probe gestellt. laß ihn gehen, hätte er denken können. Deine Tränen, deine Bitten sind ja ohnehin vergeblich. Die Hüfte hat er dir verrenkt, und was sagen dir die Schmerzen anders, als daß er keine gnädige Gesinnung gegen dich hegt? Wer weiß, was er dir noch weiter für Unheil zufügt! Sieht er doch wohl ein, daß du jämmerlich hinsinken und so dem Esau, ohne nur einmal fliehen zu können, in seine grausamen Hände fallen müßtest, und doch verlangt er: Laß mich gehen! Aber so hatte Jesus schon dafür gesorgt, daß er ihn nicht loslassen konnte und durfte, indem er ihm keine Wahl ließ, sondern ihn selbst in die Notwendigkeit gesetzt hatte, sich an ihn halten zu müssen. Nein, Jesus mußte ihn selbst wegstoßen. Freiwillig ihn loslassen, das tat er nicht; und wegstoßen, das kann Jesus nicht, denn er hat gesagt: Wer zu mir kommt, den werde ich ihn hinausstoßen. Also Mut oder keinen Mut, Jakob mußte wohl!
O glückselige Seelen, die Jesus so verwendet hat, daß nur er sie heilen kann, und die er durch die Empfindung ihres Elendes an sich fesselt, denen er nur die Wahl läßt zwischen Tod und Leben, und die mit Hosea (6,1) sagen müssen: Kommt zum Herrn! Er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen; er hat uns geschlagen und wird uns verbinden. Er wird uns aufrichten, daß wir vor ihm leben. Wohl dem, der sich genötigt sieht, anzuhalten, und sollte er es, ohne Trost zu empfangen, auch bis an seines Lebens Ende fortsetzen müssen, weil er außer diesem nichts als Tod und Untergang sieht. O, ob er verzieht, harre des Herrn! Sei getrost und unverzagt und harre des Herrn!
Laß mich gehen! Welchen Mut mußte das dem Jakob einflößen! Denn was erkannte er daraus? Dieses, daß der Sohn Gottes in seiner Gewalt sei, daß er nicht weggehen wolle noch werde, es sei denn, Jakob gebe seine Einwilligung dazu, und die zu geben, hatte er ihm selbst unmöglich gemacht. Was war das für ein kahler Grund, den er anführte, warum er ihn loslassen sollte: „denn die Morgenröte bricht an!“ Sie mag anbrechen, konnte Jakob antworten, was geht mich das an? Ich habe tausend Gründe, warum ich dich nicht loslasse, und selbst das Anbrechen der Morgenröte ist einer unter denselben! Es bricht für mich ein schwerer Tag an. Ich fürchte mich vor meinem Bruder Esau, ich bedarf deines Segens ganz besonders! Du tust wohl, daß du mich daran erinnerst, damit ich mich noch fester an dich klammere.
O wie angenehm wird es Jesu gewesen sein, daß sein Schüler so wohl bestand, daß sein gutes Werk in ihm so lieblich hervorleuchtete! Um seiner gegebenen Verheißungen willen ist Jesus auch gleichsam in unserer Gewalt; und sollte er, seinem Namen gemäß, noch so wunderbar mit uns umgehen wollen, so kann er weder sich selbst noch sein Wort verleugnen. Wirft er dir vor, du seiest ein Sünder, gib ihm vollkommen recht, und rücke du ihm wieder vor, er sei aber der Sünder Heiland. Gib ihm recht, wenn er dir deinen Unglauben, dein Elend, deine Unwürdigkeit vorhält, und halte du ihm vor sein Wort: Suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgetan! Als ein Kindlein lag er in Windeln gebunden, und jetzt sind seine Versprechungen die Seile der Liebe, woran wir ihn festhalten mögen. Und das Beste ist, daß er uns selbst festhält, sonst würde der furchtsame Jakob beim ersten Angriff die Flucht ergriffen haben. Wo wie lieblich! Vor seinem Bruder Esau fürchtete er sich, aber vor dem lieben Sohn Gottes auch da nicht, da er ihm die Hüfte verrenkte.
Laß mich gehen! Wie wunderbar, daß er sich in dem nämlichen Augenblick für überwunden erklärt, da Jakob nichts mehr vermochte. So lange Jakob, auf seine Güsse gestemmt, sich noch wehren konnte, tut sein Gegner auch sein Bestes gegen ihn. Sobald seine Füße ihm keinen Halt mehr geben, und Jesus seine Stütze allein und ganz sein muß, ist er es auch ganz allein und vollkommen, und Jakob vermag nun alles, da er nichts mehr kann, durch den, der ihn mächtig macht, Christus, in welchem er hat Gerechtigkeit und Stärke, und der ihn selbst der eigenen Stärke beraubte.
Es geht im Christentum noch auf eine ähnliche Weise. Im Anfang pflegt man noch viel selbst zu können. Man faßt edelmütige Vorsätze und gedenkt, sie trau auszuführen, was auch ziemlich gelingt. Man wappnet sich mit einer Menge schöner Grundsätze und edler Beweggründe. Man hört und liest Gottes Wort mit Andacht und Salbung. Man betet mit Inbrunst und viel. Fehlt man irgend, man büßt es mit bitterer Reue und erneuert seinen guten Vorsatz: Aber, was pflegt sich nachher zuzutragen? Die Inbrunst im Gebet verliert sich, und das gepreßte Herz kann sich kaum durch Seufzer erleichtern. Tränen hat es selten zu vergießen und muß mit großem Kummer erfahren, daß das Wort wohl recht hat, von steinernen Herzen zu reden. Ja, hätte man nur rechten Kummer darüber! Aber man scheint wie verstockt. Betet man auch, ach, wo ist das innige Gebet? Wo der Glaube? Und es wird doch kein Gebet erhört, es geschehe denn im Glauben. Wo ist die Andacht, da selbst der Genuß des heiligen Abendmahls die Zerstreutheit nicht hemmen kann bei aller Mühe, die man sich gibt, nur mit guten Gedanken beschäftigt zu sein? Und die guten Vorsätze? O man weiß selbst länger nicht mehr, ob sie wohl so recht aufrichtig sein mögen. Die Eigenliebe, der Unglaube, die Herzenshärtigkeit fühlt man wohl, aber – wie es ändern, wenn der Heilige Geist es nicht tut? Und wie den erlangen, da man ein so jämmerlicher Beten ist?
Dann geht es dem Christen nicht anders als dem Jakob bei der Hüftverrenkung. Er meint wohl, er müsse dem Elend ohne Rettung anheim fallen, wovor er sich fürchtet. Tut Jesus es nicht ganz und gar, ist er nicht Anfang, Mittel und Ende, ist es nicht lauter Gnade, daß wir selig werden, so ist wenigstens für ihn weiter nichts zu hoffen. Nur der Name „Jesus“, nur das Wort „Gnade“ hält ihn einigermaßen, da ihm aller sonstige Boden weicht.
Aber was tut nun der treue Hirt? Nun ist es rechte Zeit zum Erbarmen. O, was bekommt der arme Mensch zu sehen? Seinen Heiland, sein Evangelium. Er erkennt seine höchste Treue eben darin, daß er ihn so gedemütigt hat, obschon er meinte, sein Meister habe es wunderbar und übel mit ihm vor. Jetzt findet er, daß der Herr aus lauter Barmherzigkeit nichts gelingen ließ, da er vorher nicht fassen konnte, warum er sein ängstliches Flehen nicht erhören wollte. Nun versteht er, daß der Herr bloß darum seinen Weg mit Dornen verzäunte, um ihn den wahren einschlagen zu machen, und ihn deswegen in die Wüste führte, um freundlich mit ihm zu reden. Laß mich gehen! Das ist gleichsam ein Spiel der ewigen Weisheit auf dem Erdboden, da sie oft wiederholt, um ihre Freude an dem Wohlverhalten der Menschenkinder zu haben. Ein Ähnliches wird uns von Mose erzählt, 2. Mose 32. Dieser Mann Gottes blieb lange auf dem Berge Sinai, von welchem herab der Herr sein Gesetz gegeben hatte. Endlich sprach das Volk: Wir wissen nicht, was aus diesem Manne geworden ist, und bewogen den Bruder Moses, ihnen ein goldenes Kalb zu verfertigen. Er tat es, und sie verehrten es als ihren Gott, aßen und tranken, spielten und tanzten. Der Herr tat es dem Mose kund und sprach zu ihm: Ich sehe, es ist ein halsstarrig Volk, und nun laß mich, daß mein Zorn über sie ergrimme und sie auffresse, so will ich dich zum großen Volke machen. Ohne die Einwilligung seines Knechtes wollte der Herr also nichts tun, und diese Herablassung benutzte sein Diener so geschickt, daß er die Vergebung der Sünde mit vom Berge nahm. Und wie geschickt bestritt er den Herrn mit seinen eigenen Waffen! Er bekennt die Bosheit des Volkes, aber er hält ihm auch sein Wort, seinen Eid, die Ehre seines Namens vor und bindet damit gleichsam seine schon zum Strafen aufgehobenen Arme, denn Gott handelt überall nur seinem Worte gemäß.
Das kananäische Weib ist davon auch ein merkwürdiges Beispiel. Sicherlich nur, um ihr zu helfen, machte der Heiland die weite Reise bis an die Grenze von Tyrus und Sidon. Aber gerade, als wollte er mit dem Helfen und Retten nichts mehr zu tun haben, ging er in ein Haus und wollte es niemand wissen lassen, daß er da sei, aber zum Glück konnte er doch nicht verborgen bleiben. Seine Ankunft ward ruchbar und glücklicherweise einem sehr geplagten kananäischen Weibe bekannt. Sie schrie ihm jämmerlich um Hilfe nach, aber Jesus sah sich nicht einmal um, viel weniger redete er ein Wort. Er ließ sie schreien und schritt unbarmherzig vorwärts. Aber man hätte sein Herz sehen sollen, wie das von Erbarmen wallte! Die Jünger, voll Verwunderung über das ungewöhnliche Verhalten ihres Meisters, legen Fürbitte für die arme Frau ein. Sie werden zurückgewiesen, und das auf eine Art, die auch der bedrängten Mutter allen Mut benommen haben würde, hätte der Herr ihr nicht immer heimlich Mut eingeflößt. „Meine Sendung betrifft nur die verlornen Schafe vom Hause Israel, nicht Leute wie dies Weib.“ Aber sie läßt sich nicht abweisen.
Sie verrennt ihm den Weg, tut einen Fußfall und schreit: Her, hilf mir! Jetzt muß sie noch die härteste Probe bestehen, sie bekommt zur Antwort: es ist nicht fein, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Recht ist es freilich nicht, antwortete sie; behandle mich denn nicht wie ein Kind, sondern wie man einem Hündlein tut, dem man etwas von den Überbleibseln gibt! Da ist Jesus überwunden. Weg, ruft er aus, dein Glaube ist groß, dir geschehe, wie du willst.
Er gesellt sich nach seiner Auferstehung zu den beiden Jüngern, welche nach Emmaus wandern. Er redet so mit ihnen, daß ihnen ihr Herz in Liebe und Freude zu brennen anfängt, da er ihnen die Schrift auslegt. Er hält ihre Augen und sie wandern mit ihm fort. Sie hören ihm zu, ohne zu wissen, wer er ist. Endlich, gegen Abend, kommen sie an die Herberge. Seine Liebe ist zu groß, sie noch zu verlassen, und doch will er das Vergnügen haben, von ihnen eingeladen zu werden. Sie nötigen ihn, zu bleiben. Eigentlich heißt es: sie zwangen ihn, was ihm sehr lieb war. Er blieb also. Indem er das Brot brach, wurden ihnen die Augen geöffnet. Sie erkannten ihn, und in dem nämlichen Augenblick verschwand er. Ihre Freude war für sie beide allein zu groß. Sie eilen nach Jerusalem zurück, und da ist alles eine Freude, ein Leben, ein Triumph: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“
Lazarus, sein Freund, stirbt, obschon man ihm seine Krankheit meldet und er wieder sagen läßt: er werde nicht sterben. Ruhig bleibt er an seinem Ort. Er läßt und liegt da vier Tage. Alles Hoffen ist am Ende. Er läßt die Maria und Martha weinen und jammern, die er doch auch lieb hat, und besucht sie nicht einmal. Ja, er macht sie fast irre an ihrem Glauben, den Lazarus ist gestorben, obschon er gesagt hatte: die Krankheit sei nicht zum Tode. Endlich kommt er, aber zu spät, und steht nun da und weint mit, da er doch hätte helfen können. „Ach, Herr! Wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben“, sagt Maria und fällt weinend und ganz zerknirscht zu seinen Füßen nieder, und niemand kann sich des Weinens enthalten, er selbst auch nicht. Auf einmal heißt es: Lazarus, komm heraus! Und der Tote steht wieder lebendig da, nachdem er vier Tage gelegen. Denn Christi Wort und Zusage muß erfüllt werden, es mag gehen, wie es will. Und Abraham tat der Sache durchaus nicht zu viel, daß er nach empfangener, göttlicher Zusage auf Hoffnung glaubte, wo nichts zu hoffen war.
Laß mich gehen! Sollen viele von den Angehörigen Christi, die sich mit Hand und Herz ihm ergeben, mit den Namen „Jakob“ und „Israel“ genannt werden, wie es Jesaja 44 heißt, so geht es ihnen auf eine ähnliche Weise wie ihm.
Laß mich gehen, so sagt im Anfang die Welt und Sünde zu dem Herzen, das sich Jesus ergeben will, als ob man es im Dienst der Sünde besser haben werde, als in der Nachfolge Jesu. Sie kann heftig und auf mancherlei Weise reizen und versuchen, daß man Jesu sein Herz entziehen, nicht länger gegen sie streiten, sondern sich ihr unterwerfen solle. Die Welt rät:
laß Jesus gehen. Warum wolltest du deinen bisherigen Gesellschaften und Vergnügungen entsagen und deine Tage verkümmern? Denke doch, was würden andere dazu sagen? Wer kann doch so leben? Es ist ja wohl nicht nötig, und wenn es ja nötig ist, ist es ja noch immer früh genug. Sie sucht nur ein Teilchen unsers Herzens zu gewinnen, weil dann alles Übrige leicht nachfolgt. Hat Jesus selbst solche Versuchung aushalten müssen, da es hieß: dies alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest, so werden auch wir sie uns gefallen lassen und als gute Streiter Jesus Christi leiden müssen. Auch der Feind sagt: Laß mich gehen, wie er Jesu selbst lügenhafter Weise die ganze Welt versprach, wenn er Gott fahren lassen und dem Fürsten dieser Welt dienen wollte.
Solange es angehen will, nimmt er dem Menschen das Wort vom Herzen weg. Gerät es ihm nicht weiter, sondern fängt der Mensch an, mit Ernst ans Seligwerden zu denken, dann sucht er ihm die Gottseligkeit als viel zu schwer, das Herz Jesu als voll Zorn und Ungnade zu schildern und ihn zu bereden, es sei nun ohnehin zu spät; es hilft so nicht; beruhig dich, so gut du kannst, und laß die ernsten Gedanken an Jesus und sein Heil fahren! Wenn er nicht gar anführt, was die Verächter Maleachi 3 sagen: Es ist umsonst, daß man Gott dienet, und was sind wir es gebessert, daß wir seine Gebote halten und hart Leben führen vor dem Herrn Zebaoth!
Ja, wie Jesus selbst dort fragte: Wollt ihr auch weggehen? Und hier zu Jakob sagte: Laß mich gehen! So kündigt er auch uns an, daß, wenn wir ihm nachfolgen wollen, wir uns selbst verleugnen und das Kreuz auf uns nehmen müssen, daß man nicht lauter Freude erwarten müsse, sondern auch empfindliche Leiden. Wenn er uns oft lange beten läßt, ehe er hilft, oder sich aufs neue verbirgt, wenn wir glauben, ihn jetzt recht gefunden zu haben, wenn wir in seinen Wegen nicht merken können, daß er uns liebe, daß er für uns sorge, daß er es wohl mache, sondern er uns vielmehr entgegen zu sein scheint wie dem Jakob, dann spricht er gleichsam: Laß mich gehen!
In solchen Umständen hat der Christ eine schöne Gelegenheit, eine Probe abzulegen, wie viel er von Jesus hält, inwiefern es ihm mit dem Seligwerden ein wahrer Ernst sei, was er suche und erwähle, womit er es halte, was er aufopfern wolle. Da ging ein Hiob so weit, daß er erklärte: „Von meiner Gottseligkeit lasse ich nicht, und sollte ich darüber sterben.“ Ein Abraham war bereitwillig, sein Liebstes und Bestes, was er in der Welt hatte, seinen Isaak, aufzuopfern. Die Apostel und viele tausend andere Christen scheuten keine Bande und Gefängnis, ja selbst alle Martern und den grausamsten Tod nicht, um Christus zu gewinnen.
Der Heiland kann aber nicht nur, sondern gibt den Seinigen auch wirklich oft einen solchen Blick in sein Herz voll Gnade, Liebe und Wahrheit, daß sie wie Jakob klar einsehen, daß sie in seinem Namen bitten mögen, was sie wollen, dessen gewiß, daß er es ihnen schenken werde, ja gewissermaßen schenken müsse um seiner Treue und Wahrheit willen. Es wird ihnen so weit um das Herz, daß sie den ganzen Nachdruck des Wortes empfinden: „Hat er seines eigenen Sohnes nicht verschonet, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben: wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ „Alles, was ihr den Vater bittet in meinem Namen, das wird er euch geben.“ So weit ward es auch dem Jakob um das Herz bei den Worten: Laß mich gehen! Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn, antwortete er. – Doch davon ein ander Mal! Nur noch dies eine:
Wollt ihr wahre, rechtschaffene Christen werden, so fürchte sich euer Herz nicht und erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an Jesus Christus! Geht es auch zuweilen wunderlich, unbegreiflich und schmerzhaft her: es hat nichts zu sagen. Erschreckt nicht, wenn ihr durch eigene Kraft weiter nichts mehr ausrichten könnte, denn Christus macht euch nur darum schwach, damit seine Kraft in euch mächtig werde. Habt guten Mut, oder habt keinen, nur laßt Jesus nicht! Getreu ist, der euch ruft, er wird es auch tun. Amen.