Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Heilandsliebe.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Salomo und Sulamith - Heilandsliebe.

Vierte Predigt

Hohelied Salomons 8, 6. 7.

Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, und wie ein Siegel auf deinen Arm! Denn Liebe ist stark, wie der Tod; und Eifer ist fest, wie die Hölle, ihre Gluth ist feurig, und eine Flamme des Herrn. Daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen - noch die Ströme sie ersäufen!

Es sind Worte nicht des Bräutigams Christi, sondern der Braut, der erweckten gläubigen Seele, die wir betrachten wollen. Sie bittet ihren himmlischen Freund, daß Er ferner sie in seiner Liebe bewahren möge - und erzählt zugleich mit kurzen, nachdrücklichen Worten, wie der Herr Jesus liebe.

Die Sünderliebe Jesu sei denn auch nach Anleitung unseres Textes der Gegenstand unserer Betrachtung. Wir werden sie kennen lernen

  1. als eine große und freie Liebe,
  2. als eine starke Liebe,
  3. als eine eifrige Liebe,
  4. als eine treue Liebe.

I.

Setze mich als ein Siegel auf dein Herz - als ein Siegel auf deinen Arm! So Sulamith. In der That große Dinge sind es, die sie begehrt in diesen Worten - und doch, was begehrt sie anders, was mehr, als was der Heiland tausend Sündern thut, ehe sie es begehren? Er setzt sie als ein Siegel auf sein Herz, als ein Siegel auf seinen Arm. Des Heilands Herz - das ist der Urborn aller Liebe. Fällt nur ein Tröpflein daraus in eines Menschen Herz, wie hebt der Mensch dann an zu lieben; und siehe, es ist doch nur ein Tröpflein aus dem Urquell. Da sieht man mit Erstaunen den Vater Abraham an, wie seine Gottesliebe die Liebe der Natur verschlingt, und ihm den Arm stählt, sein einig, liebes Kind, dem Herrn zu Lieb, zu schlachten. Da sieht man mit Verwunderung den König David auf dem Schlachtfelde stehen, wie er wider die Natur, und über die Natur und ihr Vermögen himmelhoch erhaben die Leiche seines Todesfeindes Saul mit heißen Thränen benetzt und in bitterliche Klage ausbricht, daß der Schild des Gesalbten also zerschlagen ward. Da steht ein Moses in der Wüste und ringt die Hände gen Himmel und betet: „Herr, es ist wahr, ach, das Volk hat eine große Sünde gethan - aber vergib Du ihnen diese Sünde! wo nicht, so tilge auch mich aus Deinem Buche, das Du geschrieben hast.“ Welch eine Liebe! Da schreit ein Stephanus, von Steinwürfen zu Boden geschmettert, mit dem letzten Athemzuge über seine Feinde sein: „Herr, behalte ihnen diese Sünde nicht!“ Und ein Paulus gibt mit Freuden das ganze Lebensglück, wie es die Welt dem Menschen bieten kann, um den kummervollen Beruf dahin, durch Schmach und Verfolgung, durch Geißeln und Steinregen, durch Kerker und Ketten den armen Brüdern in den Todesschatten die Salbe Gileads zuzutragen - und wenn er auch selbst darüber Leib und Leben verlieren sollte. Die Liebe dieser Menschen war groß zum Erstaunen. Wer kann die Lauterkeit und Treue solcher Liebe - wer ihre Höhe, Länge, Breite und Tiefe ausreden? Und doch war diese Liebe ein schwaches Tröpflein nur, aus jenem Liebesmeere ihnen zugeflossen, das in dem Herzen Jesu wogt.

Wie Jesus liebt -wer kann das sagen? Wir haben keinen Maßstab, seine Liebe zu ermessen, keine Worte sie auszusprechen. Wir haben nichts Aehnliches, damit wir sie vergleichen könnten; und von unsern kühnsten Begriffen wird sie nicht erreicht. Sie ist ein Abgrund, in den die himmlischen Geister anbetend hinunterstarren, ohne den Boden zu erreichen - und eine Höhe, deren Gipfel selbst die Seraphinen mit ihren Gedanken nicht übersteigen. Siehe, wie Er, der Geliebte, vom Vater der Herrlichkeit geliebt wird von Ewigkeit her: in demselben Maße, Grade und Umfang liebt Er wieder, wen und was Er liebt. Ach kein Verstand versteht - keine Ahnung ahnet die Liebe Christi - sie übersteigt alle Erkenntnis) und alle Sprache. Und siehe - wie sein Herz, so ist sein Arm: das heißt, wie seine Liebe, so seine Macht - ohne Gränzen, unausdenkbar, unbegreiflich. Daß Er mit einem Stäblein die Wogen des rothen Meeres zu Haus stellte, wie eine Mauer von Krystall - und die harten Felsen in fließende Brunnen wandelte - daß er durch den Schall der Posaune Jerichos unüberwindliche Mauern zusammenstürzte - und die Sonne stehen hieß an der Feste des Himmels - daß Er mit einem Wörtlein das Leben zurück rief in die Verwesung, und die Todten wieder umholte aus ihren Gräbern: das war nur ein Geringes seiner Macht - und nur wie ein Spiel seines Riesenarms. Hub nicht sein Arm eine ganze Welt aus dem Nichts empor, und gebot dem, das nicht war, daß es sein sollte - und siehe, es ward? Hat nicht sein Arm den Orion gemacht am Himmel, und die Bande des Siebengestirns zusammen gebunden? Und doch, was wir von seiner Macht gesehen - siehe, es ist nur ein Schatten derselben; Er kann schaffen und machen, was Er will, sagt die Schrift; Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. O - wer kann seines Armes Macht und Stärke ergründen? Sein Arm ist wie sein Herz - seine Macht wie seine Liebe. Wir haben davon ein gering Wörtlein vernommen, wer aber will den Donner seiner Macht verstehen!

Und auf wen hat Er nun diese seine Liebe gerichtet, und wem kommt seine Macht zu gute? Gleich sucht sich, gleich findet sich - sagt der bekannte Spruch. Aber der Herr Jesus liebet nach einer andern Regel. Nicht als ob die Engel nur der Gegenstand seiner Liebe wären, und die Cherubinen: Er nimmt nirgend die Engel an sich - sagt Paulus. Nicht als ob er die Gerechten, die Tugendhaften, die Edlen, die Weisen, die Gewaltigen und Herrlichen nach dem Fleische unter den Menschenkindern aufspürte, sie in sein Herz zu fassen; ach siehe! seine Liebe ist eine Sünderliebe - und sein Arm ist den Elenden entgegen gerecket. Wir - wir Kinder des Todes - wir sind es, um derentwillen von Alters her die Eingeweide seiner Barmherzigkeit brausen, und gegen welche sein Herz entbrannt ist in Flammen unendlicher Zärtlichkeit. Welche Liebe, die Ihn, den Herrn der Herrlichkeit, zur Selbstentäußerung drängte, und zur Verlassung seines Weltenthrons! Welch eine Liebe, die ihn herniederzog in die Gestalt unseres sündlichen Fleisches, und in die Nacht unseres dunkeln Thränenthals! Welche Liebe, die Ihn vermochte, in unsern Jammer herabzusteigen, und unsere ganze Sündenlast, sammt Fluch und Zorn aus sich zu nehmen! Welche Liebe, die Ihn beweg, der Allerverachtetste zu werden unter den Menschenkindern, und die Ihn bis zum Tod erniedrigte, und sein Herz am Kreuzesstamm brechen und verbluten ließ! Welche Liebe! Und siehe - Sünderliebe war es, nichts als Sünderliebe: denn nicht der Engel halben - nein - deinet- und meinetwegen, lieber Bruder, hat Er sich in solche Noth begeben. Der arme Sünder ist seiner Liebe Gegenstand; die fluchbeladene Erde ist seiner Liebe Offenbarungsstätte - und das abgestorbene Herz ist seiner Liebe Werkstatt, und wo Er jemals in der Welt sich geoffenbaret hat, da offenbarte Er sich als ein solcher, der ein Herz hat für die Elenden, der den Verlornen hilft, und der die Sünder annimmt. Siehe, solches ist das Herz unseres Jesu - und sein Arm, seine Macht stehet in dieses Herzens, in dieser Sünderliebe Diensten. Hat er doch von jeher so gewaltet, so verfahren in der Welt, als ob Er seine Macht zu nichts Anderm hätte, als zur Rettung, zum Heile der Sünder. Ihnen zu gut hat Er mächtig die Hölle geschlagen und den Satan unter seine Füße zertreten. Für sie überwand Er den Tod und zerbrach des Grabes Siegel; und was Er noch gethan und täglich thut - auf des Sünders Heil ist es Alles berechnet. Was wollen wir mehr? Uns gehört sein Herz - und uns sein Arm. Er lebt nicht sich - er lebt den Sündern - deß sind wir fröhlich!

Und nun sollst du ein Stücklein von seiner Liebe hören, darüber magst du wohl die Knie in den Staub beugen und anbeten. In welcher Gestalt meinst du, und unter welcher Bedingung - und in welchem Zeitpunkt, daß Er den Sünder in seine Liebe aufnehme? Du denkst wohl, wenn der Sünder anhebe sich zu bekehren, dann hebe auch der Herr Jesu an, ihn zu lieben? Ich sage nein. Er liebet ihn früher. So wird Er dann vielleicht anfangen ihn zu lieben, wenn der Sünder beginnt redlich nach dem Wege des Lebens zu fragen und zu forschen? - Nein - noch ehe dieses redliche Wollen und Suchen im Sünder war, hat Der ihn schon geliebet, der da wirket beides das Wollen und Vollbringen des Guten. Siehe, der Herr Jesus setzet den Sünder als ein Siegel auf sein Herz, als ein Siegel auf seinen Arm, und das ist etwas unaussprechlich Großes! Was ist ein Siegel? Es ist der reine, vollständige Abdruck der in einem Petschaft oder Siegelring eingedrückten Figur. Wenn wir nun sagen, der Herr Jesus setze den Sünder als ein Siegel auf sein Herz, so heißt das nichts anders, als Er nimmt einen getreuen, vollständigen Abdruck des Sünders - Er nimmt seine wahre Figur, Er nimmt den Sünder nach seinem wirklichen Bilde, wie er ist von Natur als Sünder, als zerrüttete, abgefallene Kreatur, schon in sein Herz, in seine barmherzige Liebe auf; und wenn es weiter heißt: Er setze ihn wie ein Siegel auf seinen Arm - so will das sagen: Ehe noch etwas Gutes im Sünder sei, so sei demselben der Arm des Herrn und seine Macht schon zum Heil, zur Hülfe und Rettung geweiht und zugesagt; so sei für ihn und zu seiner Bekehrung die Stärke Jesu schon in den Dienst seiner Sünderliebe getreten. Ach! und so ist es wirklich. Ja, glaube nur, ehe noch ein Fünklein des neuen Lebens in dir war, ehe noch die geringste Veränderung in dir Statt gefunden hatte - da warst du schon in die Sünderliebe Jesu aufgenommen; denn wie hättest du mögen bekehrt, verändert und gläubig werden, wäre dir nicht zuvor schon der Anfänger und Vollender des Glaubens in hülfreicher Liebe zugethan gewesen? Denn daß du dich aus dir selbst nicht bekehret hast, davon bist du doch sicher überzeugt. - Das bekennt jeder Wiedergeborne mit tiefer Beugung: Ich habe nicht dich erwählt; sondern du hast mich erwählt. Da du noch hingingst in deinem Naturstande, wie deine Mutter dich in die Welt geboren, in deiner ganzen Sündigkeit - und noch nicht von ferne den Gedanken hattest, dein Herz zu Gott zu schicken: da hatte die Sünderliebe des Heilandes schon ihr Auge auf dich geheftet. Als ein Siegel wardst du gesetzt auf sein Herz - das heißt: dein getreues Bild, dein wirklicher Abdruck - deine wahre Sünderfigur - war schon ein Gegenstand seiner erbarmenden Liebe geworden; und da du nun wirklich zum Herrn gezogen wurdest, da führte nur der Arm des Herrn den Rath der Liebe an dir aus, der schon längst gefaßt war. Ja, an einen jeden Wiedergeborenen ergeht das Wort des Herrn: Ich habe dich je und je - nicht etwa nur von dem Augenblick deiner Bekehrung an - ich habe dich je und je geliebet, und dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Schon in deiner 'Sünderfigur liebte ich dich; als Sünder schon warest du meinem Herzen eingedrückt. Ich setzte dich als ein Siegel auf mein Herz - als ein Siegel auf meinen Arm; ehe du riefest, hörte ich dich und antwortete dir. Sehet - das ist die große, freie Sünderliebe unseres Bürgen!

Ihr glaubt es nicht, wie einem solch Bewußtsein die Sünde und das Leben des Fleisches zum Ekel macht. Bei dem Bewußtsein: mir ist Barmherzigkeit widerfahren - kann der Stolz nicht wuchern; kann der Geiz nicht gedeihen; kann die Lust nicht grünen und in's Laub schießen - das ist nicht möglich: denn die Liebe Christi, wo sie über eine Seele kommt, wo sie erfahren, ermessen, erwogen und empfunden wird - da ist sie stark wie der Tod; ein Tod, ein Schwefelfeuer und eine Pestilenz dem alten Menschen.

II.

Und wie sie groß ist frei und unbedingt diese Liebe, in demselben Maße ist sie auch stark und mächtig; und wie stark denn? Stark, sagt Sulamith, wie der Tod. Welch eine treffende Bezeichnung! Ja, stark wie der Tod - wir habens ja erfahren. Dem Tod widersteht Niemand; mit unüberwindlicher Gewalt führt er sein Zepter über alles Fleisch - die Stärksten wirft er zu Boden, und die Gewaltigsten werden sein Raub. Und o, wer vermag der Liebe Christi Widerstand zu thun, wenn sie ausgeht, den Sünder zu sahen und in ihre glückseligen Netze zu verstricken? Da versucht ein Saulus vergebens, wider den Stachel zu locken; da gelingts einer Samariterin nicht lange, sich zu sträuben und auszuweichen; da muß ein Nathanael bald, trotz seines: „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“ die Segel streichen und von Herzen bekennen: „Rabbi, Du bist Gottes Sohn; Du bist der König von Israel!“ Da muß ein roher Kerkermeister bald mit zerbrochenem Herzen zu Boden stürzen und seufzen: „Was muß ich thun, daß ich selig werde?“ Und ein heidnischer Hauptmann muß an seine Brust schlagen und ausrufen: „Der ist wahrlich Gottes Sohn gewesen.“ Ja, stark wie der Tod ist seine suchende Sünderliebe - wer mag sich wider sie setzen! Sie verfolgt den Sünder, auf den sie ihre Absicht hat, auf Schritt und Tritt; sie geht ihm nach in die Stille seiner Kammer und in das Geräusch der Welt, und mitten im Gewühl der Zerstreuungen, und auf den Bänken, da die Spötter sitzen, dringt sie auf ihn ein, in dieser oder jener Weise, bis sie ihm das Herz zerschlagen und ihn herumgeholt hat von seinen Todeswegen. Wie lange, meine Brüder, haben wir uns gesträubt gegen ihre Angriffe; wie lange haben wir ihren Netzen und Schlingen auszubiegen gesucht, wie lange uns die Ohren zugehalten vor ihrem Zuruf, und uns gleichsam mit ihr herumgeschlagen, daß sie uns nicht überwältige. Aber siehe, ist sie uns nicht zu stark geworden? Hat sie nicht zuletzt das Feld behalten und uns zum Raube gefaßt? Ja - Gottlob, daß sie auch uns das starre, trotzige Herz zerbrochen - und ohne auf unser Sträuben und Ausschlagen Rücksicht zu nehmen, uns in die Bande des Bundes gezwungen hat! Gott Lob und Dank in alle Ewigkeit, daß auch wir es an uns selbst erfahren haben, daß seine Liebe stark ist, wie der Tod! Wer will ihr widerstehen?

Liebe ist stark, wie der Tod. Scheidet nicht der Tod den Menschen von dieser Welt und ihrem Wesen? Reißt er nicht den Menschen hinweg aus dem Gebiete des Irdischen und Vergänglichen? Und siehe, die Sünderliebe Christi thut ein Gleiches. Sobald ihr Strahl in unsere Seele fällt - sobald wir ihrer inne, theilhaftig und versichert werden, und auch mit Paulo sagen können: mir ist Barmherzigkeit widerfahren - sobald wird der Welt Valet gegeben; ihre Lust ist uns vergällt; ihr Freudenwasser trüb und abgestanden: denn wir trinken dann aus andern Quellen - und da wir sonst zu Hause waren, da fühlen wir uns nun als die Fremdlinge, unheimlich und beklommen. O eine wunderbare Veränderung erleidet das Herz, sobald es sich vom Herrn mit Namen genannt, sobald es innerlich das Wort erschallen hört: „Du bist mein!“ Dann geht Magdalena schleunig aus von ihren Eitelkeiten, und wird des Herrn Magd. Dann achtet Paulus Alles, was ihm bisher Gewinn war, für Schaden und Unrath - und ist alleine Christi. Dann läßt man Ehre und Lust und Ruhm und Gunst, und was die Welt sonst bieten kann, so gerne dahinten und folget Jesu nach. Ja, wie der Tod ist die Liebe Jesu; wo sie erkannt, empfunden und erfahren wird, da scheidet sie den Menschen mit Geist und Herzen von der Welt und ihrem Tande; da kann Abraham nicht mehr in Ur - und Loth nicht mehr in Sodom - und Moses nicht mehr an des Egypters Hof verbleiben; man zeucht von dannen mit Herz und Sinnen; man lichtet die Anker - und stößt vom Ufer dieser Erden ab.

Jesu Liebe ist stark wie der Tod. Vernichtende Todesgewalt führt sie mit sich wider den alten Menschen, und ist wie ein Blitzesfeuer, Adam zu verzehren. Wo Jesus einem Sünder seine Liebe erklärt, und seine Gnade zusagt; wo seine Liebe erlebt - erfahren wird, da ist ein stetes innerliches Streben, ein unaufhörliches Vernichtetwerden; da liegt der alte Adam in den Flammen, die ihn zu Asche brennen wollen. Ach! sich sagen müssen: „Der Herr der Herrlichkeit hat dir zu Lieb sein Blut am Kreuz verströmt - und du - du hast Ihm all' die Müh' und Arbeit gemacht mit deinen Sünden“ - sich wirklich versichert fühlen: „Er hat auch dich - dich argen Sünder - in seinen Arm und in sein Mutterherz geschlossen“ - ihr glaubt es nicht, wie das in den Staub darniederbeugt, und demüthig macht und klein, daß man seinen Mund nicht aufthun mag vor Scham und Schande.

III.

Und siehe - mit ihrer Todesstärke vereinigt die Sünderliebe Jesu eine Höllenfestigkeit. Ihr Eifer - sagt Sulamith, ist fest wie die Hölle und wir sagen Gottlob! Gottlob! dazu. Sulamith redet stark und gewaltig - aber herrlich und wahr; so ist es, wie sie sagt. Die Liebe Jesu zu dem auserwählten Sünder ist eine eifrige, ist eine heftige, ja eine eifersüchtige Liebe - die ihren Gegenstand so fest in sich verschließt, so unerbittlich und unwandelbar in ihrer Umarmung fest hält, daß an eine Losgebung von ihrer Seite so wenig zu denken ist, wie an eine Losgebung der Verstoßenen von Seiten der Hölle. Muß auch der Satan auf Erden seine Beute fahren lassen, sobald der Löwe aus Juda es heischet; ist die Beute erst zur Hölle gebracht - siehe, so ist zugeschlossen - und niemand thut mehr auf; die Hölle behauptet ihren Raub und ihr Besitzthum. Es rührt sie kein Weh noch Ach, kein Geschrei noch Wimmern der Verdammten, sie hält sie festgeschlossen mit unerbittlicher Grausamkeit in ihren düstern Klausen - und der Rauch ihrer Qual steigt auf von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und wie die Hölle es macht mit ihren Leuten, so Christi Liebe mit den ihren. Der Herr Jesus hält, was er hat. Meine Schaafe sind mein, spricht Er - und niemand kann sie aus meiner Hand reißen. Da könnte der Teufel kommen, der Verklaget und zu Jesu sagen: siehe, der Sünder, den du angenommen, ist mein - und könnte eine Todsünde, eine himmelschreiende Schuld nach der andern auf sein Haupt zusammenhäufen; da könnte Moses austreten und rufen: Herr, brich den Stab über ihn, der dein Gesetz mit Füßen trat; da könnten die Engel Gottes selbst zusammen schreien: fort mit ihm! der Schacher paßt nicht in das Paradies! - Was möchte es fruchten? Siehe, hat er den Sünder einmal aufgenommen in seine Liebe, so ist sein Eifer fest wie die Hölle. Und ob es der Satan wäre, oder Moses und die Engel - seine Antwort würde lauten: „Hebet euch hinweg von mir, ihr alle mit einander! Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig. Wer hat darein zu reden?“ Fest wie die Hölle ist sein Eifer: Er läßt nicht wieder, was er einmal angenommen; Er holt den verlornen Sohn wieder um von den Träbertrögen, und von den Bänken der losen Buben und der Spötter; und seinen Knecht Salomo verfolgt Er bis in die Teufelskapellen hinein, hinein bis in die Versammlungen der heidnischen Weiber, und des ehebrecherischen Gesindels; ja bis zu den Altären der Götzen geht Er ihm nach, und ruht und rastet nicht, bis Er ihn wieder zurück gebracht, weil er einmal sein Knecht war. So macht Er's - gleich als ob er dem Satan weisen wollte: „Ich bin stärker, denn du!“ Was Er hat, das hat Er - und gibts nicht wieder. Und wo der Satan einen Anlauf macht wider seine Braut - da stäubt das Gefilde, da klirrt sein Wehr und Waffen, bis der Drache unterlegen. Ja, sein Eifer um die Seinen ist fest und unerbittlich wie die Hölle. Ich bin gewiß, sagt Paulus, daß weder Tod noch Leben, weder Engel, Fürstenthum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch irgend eine Kreatur - mag mich scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu, unserm Herrn.

Noch einmal - fest wie die Hölle ist sein Eifer - ja, eine heilige Eifersucht ist seiner Liebe zu den Sündern beigemischt. Welche Seele wäre seines vertraulichen Umgangs gewürdigt worden - und erführe das nicht, wie eifersüchtig seine Liebe sei? Er will seine Leute ganz haben - ganz und ungetheilt - und kann's nicht leiden, daß sie zugleich auch eines Andern seien; kann's durchaus nicht ertragen, daß sie ihm angehören, und doch zugleich auch mit Belial es halten, und mit der Welt buhlen wollen. Darum hört er nicht aus, in vielfacher Weise zu operiren - bis es bei seiner Braut von Herzen heißet: Welt ab - und Christo gänzlich an! Wie pflegt's uns zu ergehen, lieben Brüder, wenn wir einmal wieder der Welt uns gleichstellten, wenn wir seiner einmal vergaßen über den Reizen dieser Welt, und Ihn verläugneten mit Wort und That, und einen Versuch machten, Ihn mit Belial zusammen zu würfeln; wenn wir einmal redend oder handelnd mit Simon treulos sprachen: Ich kenne diesen Menschen nicht - und Ihn aus den Augen lassend, im Sinn, und in der Weise der Weltmenschen wieder verfahren konnten; - was gibt's denn hernach, wenn wir wieder zur Besinnung kommen? Ach siehe! ein Tag der Trübsal und Angst, ein Tag des Wetters und Ungestümes, der Finsterniß und des Dunkels bricht dann herein über unsere Seele; alle unsere Freude ist verschwunden, und unser Friede dazu; es ist ein Gefühl in uns, als hätten wir nun die Gnade verscherzt, und heben ängstlich an zu fragen: womit soll ich den Herrn wiederum versöhnen? Der Herr scheint sich von uns abgewandt zu haben im Zorn, und wir liegen mit unserer Seele wie in der Hölle. Siehe, das ist sein Eifer über unser Abtreten - das ist sein Zorn - aber Gottlob! nur Zorn der Liebe. Seine Zärtlichkeit zürnet, daß wir eine Weile von Ihm ablassen konnten; daß Er eine Zeitlang die Freude entbehren mußte, ganz allein und ungetheilt uns zu besitzen; das schmerzt, das kränket Ihn - das bringt seine Liebe auf; darum entbrannte sein Eifer, und stürzte uns in die Hölle! In die Hölle? Ja - der Herr führt auch die Seinen in die Hölle zuweilen; aber Gottlob! Er führt auch wieder heraus.

IV.

Stark wie der Tod ist Jesu Liebe - fest wie die Hölle ist sein Eifer. Und ihre Gluth, singt Sulamith weiter, ist feurig und eine Flamme des Herrn; daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ersäufen. Mit diesen letzten Worten nun bezeichnet sich die Treue Jesu - im Gegensatz gegen unsere Untreue. Mit unserer Bruderliebe, meine Brüder, hat es nicht viel auf sich - und sei sie auch noch so innig, noch so lauter; ach Gott! sie ist und bleibt - mit Christi Liebe verglichen - doch immer nur ein glimmend Döchtlein, über das nicht viele Wassersfluthen hereinbrechen dürfen, wenn's nicht erlöschen soll. Nur etwas Kälte, nur etwas Mangel an Gegenliebe, nur einige Beleidigung und Untreue von Seiten derer, die wir lieben, und unsere Liebe zu ihnen ist erloschen - wenigstens bis zum Erlöschen herabgebrannt. Solche Ströme kann sie nicht ertragen. Und was ist's mit unserer Liebe zum Herrn? Ach Gott! wenn der Herr nicht immer Oel darauf gießt durch neue Erquickungen, durch empfindliche und fühlbare Gnadenerweisungen, so ist es auch damit bald zum Verglimmen gekommen. Nur etwas stark brauchen die Ströme der Lockungen dieser Welt,- oder die Wasser der Anfechtungen und Prüfungen darüber herzufahren; nur eine kurze Weile darf uns der Herr in Dunkelheiten führen, und das süße Gefühl seiner Nähe uns nehmen: so haben wir für den Jesus nicht viel mehr übrig - so beginnt unser Herz schon gegen Ihn zu erkalten und der Psalter unseres Gemüths zu verstummen. Unsere Liebe ist wankend und kann ermatten und erlöschen; wir sind treulos und unbeständig. Aber Jesus ist treu und seine Liebe zu den Seinen steht unerschütterlich fest: ihre Gluth ist feurig und eine Flamme des Herrn - und kein Wasser ist so stark, keine Fluth so wüthend, daß sie das Feuer der Sünderliebe in Jesu Herzen auslöschen, oder auch nur dämpfen könnte. Auch nicht die Sündenfluth der Seinen? - O nein - auch die nicht! Welch eine Fluth von Sünden und Uebertretungen ging von David aus über die Liebe seines Bürgen! Aber siehe, das Feuer dieser Liebe brannte durch die Fluthen hindurch und behielt die Oberhand. Auch von dem Mörder und Ehebrecher ließ der Herr nicht ab, sondern reichte ihm liebend seinen Arm entgegen, auf den Er ihn als ein Siegel gesetzt hatte - und half ihm gnädig wieder heraus aus dem Schlamm und der grausamen Grube, und setzte seine Füße wieder auf den Fels - und David blieb vor wie nach der Mann nach dem Herzen Gottes. Welch ein Strom über die Liebe Jesu war die Untreue Simons! Da hätte ein Anderer gesagt: Nun ist's aus mit unserer Freundschaft - und ich habe nichts mehr mit dir. Aber Jesu Liebe ist kein glimmend Docht, das der erste Wind ausweht. Sie ist eine feurige Gluth und eine Flamme des Herrn, die durch die Fluth aller Untreue, aller Kälte, aller Beleidigungen seiner Sünder mächtig und siegend hindurch bricht. An dem Blicke betrübter Liebe, den Er seinem Simon nach der Verläugnung aus dem Richtsaale zuwarf- daran studiren wir heute noch - und können das Große, das Uebermenschliche, das Göttliche darin nicht fassen noch begreifen. Seine Liebe steht feste. „Es sollen wohl Berge weichen, und Hügel hinfallen; aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ „Meine Schafe wird Niemand aus meiner Hand reißen. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer, denn Alles, und Niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen.“

Aber so dürfte Einer ja nur getrost in der Sünde beharren, da er weiß, daß er darum der Gnade Gottes nicht verlustig gehen werde? – Ach, wie oft muß man diesen elenden und thörichten Einwurf hören! Bedenket doch, daß die Liebe zur Sünde und der Gedanke, auf Gnade sündigen zu wollen, mit der neuen Natur durchaus unvereinbar, und einem wirklich Wiedergebornen ganz unmöglich ist. Fühlst du in dir noch eine Lust, auf Gnade zu sündigen so bist du kein Christ, so ist es mit deiner Wiedergeburt nichts - so gehörst du noch zu denen, die draußen sind - und ist noch nicht das Geringste von Christo dir zu Theil geworden. Das erwäge, und beurtheile dich darnach.

Wir aber sagen: Gott Lob und Dank, daß unsere Hoffnung und unser Heil auf solchen Fels gegründet steht, wie die Liebe Jesu ist! Unsere Hoffnung stehet nicht auf unserer Liebe zu Ihm, so daß wir nichts mehr zu hoffen hätten, wenn diese Liebe einmal matt würde in uns und verglömme. Auch stehet unsere Hoffnung nicht auf unserm Glauben, so daß, wenn der Glaube verdunkelt wäre, wir auch die Hoffnung müßten fahren lassen. Noch viel weniger steht sie auf unsern Empfindungen und Andachtsgefühlen, so daß wir verzweifeln müßten, wenn wir unser Herz kalt und trocken fühlten. Nein - unsere Hoffnung steht auf Jesu Liebe zu uns - und da hat unser Anker einen festen Grund gefunden. Sie stehet auf der Liebe, die da stark ist wie der Tod, und fest wie die Hölle - und eine feurige Gluth, die auch viele Ströme nicht können auslöschen. Auf der Liebe steht sie, die dem Sünder nachliebt bis in alle Verirrungen und Abwege hinein - die ihn liebet bis hinab in das Dunkel vieler Schwachheiten, und die Stand hält, wenn wir auch weichen könnten. Seine Liebe zu uns ist unser Trost, ist unserer Ruhe Grund und Basis; sie ist die Stütze, an der wir uns wieder aufrichten, wenn wir fielen, und der feste Stab, an welchem wir das Thränenthal durchpilgern. Sie ist die Quelle unsrer Freude, der Bronnen unseres Muthes, das Feuer unsrer Läuterung, sie ist unsre Heiligung und unser Leben, und was wir sonst noch Alles haben an Jesu Liebe, wer vermag es auszureden! -

So nimm denn, Israel, dein Saitenspiel, du Volk, umarmt von ewigen Liebesarmen, und unter Gottes Gnadenflügeln trauend, wie unter einem Zelt! Thu' deinen Mund mit Freuden auf, und singe mit dem frommen Dichter:

Mein Freund hat mich geliebet bis aufs Blut,
Schuld, Fluch und Tod hat Er auf sich genommen;
Sein Eifer hat verzehrt der Hölle Muth,
Sein Liebeszug ist mir zuvor gekommen.
Bei Ihm ist Rath und That in Drangsalshitze,
Sein Freundesherz ist stets erbarmungsvoll.
Er ist mein Licht, wenn ich im Finstern sitze,
Er zeigt den Weg, worauf ich wandeln soll.

Ja. Hab' ich gleich durch Untreu' Ihn betrübt,
Mein Jesus braucht zur Bess'rung Liebesschläge,
Er ist ein Freund, der ewig, ewig liebt,
Nur Liebe, Liebe find die rauhsten Wege.
Kein Mensch noch Engel reißt dies Band entzwei,
Kein Sündendampf noch Abgrund kann es trennen,
Wenn Erd' und Himmel krachend wird verbrennen,
Dann wird man seh'n, was Jesus Freundschaft sei. -

Mein Jesus, laß mich lieben gleich wie Du,
Laß mich so fest und heilig an Dir kleben,
Wie Du an mir. Zeuch mich ganz nach Dir zu;
Laß mich in Dir, und nicht mehr in mir leben;
Laß mich mein selbst und aller Welt vergessen,
Um nur zu ruh'n in Deinem Arm und Schoß.
O! mögt mein Herz von Dir so sein besessen,
Daß jedes Weltband mögte brechen los!

Ach ja, dazu verhelfe dir und mir Immanuel! Amen.

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