Krummacher, Friedrich Wilhelm - Wer ist ein Christ?
über Luc. 18, 10-14.
Luk. 18, 10 - 14.
Es gingen zween Menschen hinauf in den Tempel zu beten; einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand, und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner; Ich faste zweimal in der Woche, und gebe den Zehenten von Allem, das ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust, und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch- Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden: und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden.
Wir müssen uns einmal darüber verständigen, geliebte Freunde, was wahres Christenthum sei; denn auch unter uns, - so viel habe ich schon bemerkt, - herrscht darüber bei nicht Wenigen noch eine große Unklarheit. Schrecklich ist's, daß wir's sagen müssen. Man denke: Unklarheit über die von Gott gesetzte Ordnung, in der wir selig werden sollen; und Unklarheit darüber inmitten der Christenheit, ja der evangelischen Kirche! Aber kann es uns befremden, wenn wir erwägen, was für eine Zeit über uns hingegangen ist? Es umgraute uns länger, als ein Menschenalter hindurch, eine Zeit, da man an den Sonntagen hunderte von Predigten hören konnte, in denen der Name Christi auch nicht einmal mehr genannt, geschweige als der Name, in welchem allein das Heil sei, gepriesen wurde; eine Zeit, in der es möglich war, daß ein Prediger unserer Provinz, ein übrigens achtbarer Mann, allen Ernstes, und der Anerkennung seiner Zeitgenossen gewiß, sich rühmen konnte, er habe seine Gemeine nunmehr so weit in der „Aufklärung“ gefördert, daß Niemand in ihr mehr, außer einem alten Mütterchen, noch das heilige Abendmahl begehre. Was Wunder drum, daß in Tausenden, und aber Tausenden auf Christi Namen Getaufter das christliche Bewußtsein bis auf die letzte Spur erloschen ist, und sie, fast wie die Heiden, von den ersten Elementen auf in der Lehre des Evangeliums wieder unterwiesen werden müssen. In unsern Tagen besinnt man sich nun wieder auf das, um was man so schnöde betrogen ward, und fängt an, die unterschlagenen Güter aus den räuberischen Händen der verneinenden Irrlehrer zurückzufordern. Nichtsdestoweniger ist Unzähligen, die da wähnen, jetzt die rechte Fährte entdeckt zu haben, der Zauber der Täuschung noch nicht gelöst. Sie haben ein Christenthum wieder; aber es ist nicht das rechte, das ursprüngliche, das göttlich geoffenbarte. Vielmehr ist's ein willkührlich verändertes, dem Sinne und der Neigung des natürlichen Menschen angepaßtes, und als solches nur ein armer Schatten, ein elendes Afterbild des wahren. Welch' ein Wagniß aber, eine Stiftung Gottes ändern und fälschen wollen! Welch' ein Frevel das! Welch' todeswürdiges Majestätsverbrechen! - „Aber was ist denn Christenthum?“ - In der eben verlesenen sehr bekannten Gleichnißrede malt es uns die göttliche Meisterhand des Herrn selbst vor Augen. Hier werden uns die wesentlichsten innern Lebens- und Charakterzüge eines Nichtchristen, wie diejenigen eines wahren Christen zur Anschauung gebracht. Fassen wir sie nacheinander scharf ins Auge, und gereiche uns unsre Betrachtung, jenachdem wir in dem Bilde des Einen oder des Andern uns selbst erkennen, zur Zerknirschung unsrer Herzen, oder zur Belebung unsres Dankgefühls zu Gott!
1.
Ein Pharisäer wird zuerst uns vorgeführt, und in demselben ein Mann, dessen Name nach bestimmten Andeutungen des Herrn in den Bürgerlisten Seines Reiches nicht verzeichnet steht. Aus welchem Grunde nicht? Etwa, weil er ein Pharisäer ist? Das sei ferne! In diesem Orden wurden Viele an den Herrn Jesum gläubig, und ihr wißt, daß sogar ein Apostel Paulus aus demselben hervorging. - „Aber der Pharisäer dort“, sprecht ihr, „war ein Heuchler!“ - Woher wißt ihr das? Haltet etwa auch ihr „Pharisäer“ und „Heuchler“ für gleichbedeutende Begriffe, so irrt ihr. Auch unter den Jüngern Gamaliels gab es nicht wenige, die mit gutem Grunde den Ruhm der „Ueberzeugungstreue“ für sich beanspruchen konnten, und doch in Gottes Augen verwerflich waren. Der Pharisäer in unserm Evangelium scheint jedenfalls der aufrichtigeren und' argloseren unter seinen Ordensbrüdern einer gewesen zu sein; aber der Name eines Christen gebührt ihm nicht. - „Warum denn nicht? Hat er etwa keinen Glauben?“ - O, mehr, als Viele unter euch. Ihr hört ja, wie er laut seinen Glauben an einen lebendigen und persönlichen Gott bezeugt. - „Ist's denn etwa nicht der rechte Gott, an den er glaubt?“ - O, freilich; der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, seiner Väter, ist es. - „Verachtet er vielleicht Kirche und Gottesdienst?“ - Nichts weniger als das; ihr trefft ihn ja zur Stunde des Gebets im Tempel. -'„So ist seine Religiösität wohl todte Verstandessache nur?“ - Nein, nein, er betet ja, und Gebet ist ja Bethätigung des Glaubens. - „Trat er denn das göttliche Gesetz mit Füßen?“ - Ich bitte euch! er ist - vor menschlichem Gerichte mindestens, - unsträflich nach dem Gesetze. Darf er doch mit allem Fuge von sich rühmen, daß er kein Räuber, kein Ungerechter, kein Ehebrecher, noch ein Betrüger sei wie der Zöllner. Er hat ein so unbescholtenes Leben hinter sich, daß vielleicht Wenige nur von uns es wagen dürsten, sich mit ihm zu messen. „Aber Gott öffentlich dafür zu danken, daß er, der Pharisäer, kein Räuber, kein Ehebrecher u. s. w. sei!“ - Nun, möchtet ihr darum ihn tadeln? Ist's nicht vielmehr löblich, daß er Gott, dem Allerhöchsten, dafür die Ehre giebt? - „So ist er denn ein heimlicher Geizhals, oder ein Schlemmer?“ - Keins von Beiden! Er fastet zweimal die Woche, und stiebt den Zehnten nicht blos von den Gütern, die das Gesetz besteuerte, sondern von Allem, das er hat. - „Aber daß er des Zöllners in der Weise gedenkt, wie er thut!“ - Nun, an und für sich erscheint auch dies nicht eben verwerflich. Ist es nicht denkbar, daß auch ein wahrer Christ, der etwa einen schweren Verbrecher zum Blutgerüste wandeln sähe, im Hinblick auf denselben gerührt bei sich sprechen könnte: „Sei gepriesen, o Herr, daß ich so tief, wie dieser dort, nicht gesunken bin?“ Glaubt es nur, der Pharisäer, mit dem wir's zu thun haben, ist kein schlimmerer Mann, als taufende unsrer sogenannten „Mitchristen“; ja sein Wandel ist vielleicht unsträflicher, sein Sinn religiöser, als der ihre: denn daß er seine kirchlichen Werke nur in Scheinheiligkeit verrichte, und nicht in der ehrlichen Absicht, Gott damit zu dienen, dies mit Bestimmtheit vorauszusetzen ist durchaus kein Grund vorhanden. „Aber wie“, werft ihr befremdet ein, „ein in keinem Stück zu beschuldigender Mensch, ein Mensch, der ernstlich dem Gesetze Gottes nachzuleben strebt, ein Mensch, der Wohlthätigkeit übt, an die Bibel glaubt, zur Kirche geht, und sogar betet: und ein solcher Mensch doch noch kein Christ? oder, was nach eurer Anschauung ein und dasselbe ist, doch noch nicht wohlgefällig vor Gott?“ - Nein, Freunde; aus dem Munde dessen, der die Wahrheit selber ist, vernehmt ihr, daß er dies noch keinesweges sei. - „Aber warum nicht?“ - Zuerst ist der Mann in argem Wahn befangen, und kein Kind des Lichts; denn er achtet eine äußerliche Gesetzmäßigkeit und Unbescholtenheit der Gerechtigkeit gleich, die von Gott erfordert werde, und vor Gott gelte. So versteht er das göttliche Gesetz nicht; denn verstände er's, so würde er sich von demselben verdammt, und nicht gerechtfertigt fühlen, indem das Gesetz nicht allein die That, sondern auch, ja vor Allem, die Gesinnung in Anspruch nimmt, und ebensowohl mit Lüsten und Affecten übertreten wird, und tausendmal von ihm übertreten wurde, wie mit Werken. Er kennt die Heiligkeit des Allerhöchsten nicht: denn Unzähliges, was ihn schon verwerflich macht vor Gott, heiße es Lug oder Trug, Neid oder Haß, Hochmuth oder unreine Begierde, bringt er als etwas „Geringfügiges“ nicht in Anschlag. Er kennt nicht sein Herz, das trotzige und verzagte, das von der Liebe Gottes und dem Leben in Gott entfremdete; denn kennete er's halbwege nur, er würde zwischen sich und dem Zöllner eine so unendliche moralische Kluft, wie er sie wahrzunehmen glaubt, nicht befestigt sehen. Er kennt nicht die Natur und die Macht der Sünde, die als himmelhohe Scheidewand zwischen Gott und uns sich aufthürmt, und die in jeder Gestalt den göttlichen Fluch nach sich ziehen muß, wenn Gott nicht mit sich selbst zerfallen, und aufhören soll Gott zu sein. Er kennt sie nicht; denn wenn er sie kennete, würde er nicht meinen, sich seine Uebertretungen selbst vergeben zu können. Jetzt, in der Lüge verstrickt, wähnt er's. Er fragt, - und dies ist ein anderer Zug, der ihn charakterisirt und verurtheilt, - nach keinem Mittler.,- „Er stand, und betete“, sagt der Herr mit bedeutsamem Nachdruck. Auf eigenen Füßen, in eigener Vollmacht stand er vor Gott, sich selbst Vertreter und Anwalt genug. „Er betete bei ihm selbst, meldet der Herr bezeichnend weiter. Er bespiegelte sich in seinem Gebet, und verwob dasselbe mit in den nichtigen Selbstgerechtigkeitsschmuck, auf den er trotzte, und mit welchem er im göttlichen Gerichte zu bestehen hoffte. Er begann: „Gott, ich danke dir!“ - Also geradeweges wagt er sich Gott darzustellen, und in den Thronsaal Seines Heiligthumes einzutreten. Das Bewußtsein eigener Würde macht ihn so beherzt. Es kommt ihm keine Ahnung von der Notwendigkeit einer Fürsprache, einer Vermittlung. - Und wie ergießt er sich nun? „Ich danke dir!“ beginnt er. Schön dies! - Aber wie nun weiter? Etwa: „daß Du Gnade vor Recht ergehen lassen willst; denn was würde aus mir Armen, trotzdem, daß durch deine Bewahrung mein Leben von grober Missethat frei blieb, wo Du nach der ganzen Strenge Deines Gebots mit mir verfahren wolltest!?“ - O, wäre Derartiges aus ihm heraus verlautet! Aber nein! „Ich danke Dir,“ spricht er, „daß ich nicht“ - that? - O spräche er so noch, es ließe sich hören. Aber er spricht: „Daß ich nicht bin, wie andre Leute, und wie der Zöllner dort in seinem Winkel!“ - Ihr seht, Eins fehlt dem Manne: das zerbrochene Herz, und damit freilich Vieles, ja Alles, um ein Christ zu sein. Er ist nicht in der Lage, die Erlösungsanstalt Gottes in Christo Jesu würdigen zu können, und sich ihr zu unterwerfen. Er gab sich nicht durch den Glauben Christo hin, und erfuhr darum auch nicht die Erneuerung durch den heiligen Geist, deren man der Reichsordnung Gottes gemäß nur in der Gemeinschaft mit dem Sohne theilhaftig wird. Unser Pharisäer ist trotz all' seines religiösen und sittlichen Schmuckes das alte Adamskind wie es zur Welt geboren ward, und darum verwerflich vor Gott, und kein Christ. - „Wie, ein moralisches Leben wäre noch kein Christenthum?“ - Der König der Wahrheit sagt: „Nein!“ Und ob dieses „Nein“ die Edelsten und Besten unter uns aus Gottes Reich excommunicierte: es behält seine Geltung, und die Ewigkeit wird es besiegeln. -
2.
„Wer ist denn ein Christ“? - An dem Zöllner in unserm Evangelium mögt ihr's erschauen. Brüder! wesentlich gehört's zum Christenthume, daß man sittlich und unsträflich wandle; aber hütet euch, einen unsträflichen Wandel schon für das Christenthum zu halten. Unumgänglich nöthig ist's, daß ihr, um als Christen erfunden zu werden, als gute Hausväter, als gewissenhafte Beamte, als treue Soldaten euch bewährt; aber dieses Alles könnt ihr sein, und obendrein in Bürgerkronen und fürstlichen Ehrenzeichen prangen, und seid darum doch noch keine Christen. - Gewiß steht euer Christen stand sehr in Frage, wenn ihr nicht Barmherzigkeit übt, nicht Wohlthat spendet, nicht die Hand reicht zur Linderung fremder Noth; aber diese schönen Betätigungen allein geben euch noch nicht das Recht, euch den Bürgern des Reiches Christi beizuzählen, wenn auch die rechte Liebe allerdings ein Reis ist aus der Wurzel des Christenthums, ja, so unzertrennlich mit demselben verbunden, wie mit der Sonne das Licht und die Wärme. - Schaut unsern Zöllner! Auch er ist kein Räuber, kein Ehebrecher, noch sonst der gröberen Frevler einer; aber nichtsdestoweniger ist er sich bewußt, daß er, auch abgesehen von den geheimen Betrügereien und Unterschleifen, deren er sich schuldig weiß, - in sich selbst durchaus verwerflich sei vor Gott. Dort steht er in einem entlegenen Tempelwinkel. Hoch, wie der Pharisäer auf ihn herab, sieht er zu ihm hinauf, und achtet sich nicht werth, neben diesem Gerechten im Vordergründe des Heiligthums seine Stellung zu nehmen. Er wagt „seine Augen nicht aufzuschlagen“, während jener sie stolz und kühn erhebt. Ihr merkt, daß er die Heiligkeit auf dem Throne kennt. Er fühlt sich niedergeschmettert von ihrem Licht, und giebt ihr am Staube die gebührende Ehre. Ihm fällt nicht ein, zu sprechen: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin!“ Ihm schwebt ein anderes Bild von der Gerechtigkeit, welche Gott genüge, vor der Seele, als daß er auch nur im Traume daran denken könnte, irgend eine eigene Tugend vor ihm geltend machen zu wollen. Himmelweit sieht er von dem Ziele seiner sittlichen Berufung sich entfernt, und kennt nur ein Sünderbewußtsein, kein andres. O seht, nicht fröhlich steht er da, wie der Jünger Gamaliels, sondern trauernd und erbebend, weil se i n Blick nicht, wie der Blick jenes, nur über die Oberfläche seines Seins und Lebens hinstreift, sondern in die Tiefe hinunter dringt, und den ganzen gottentfremdeten Zustand seines Wesens bemißt. Er „schlägt an seine Brust.“ Eine bedeutsame Geberde, die auf eine blutende Wunde seines Innern, auf ein tiefes Seelenleiden hinweis't. Er ruft: „Gott, sei mir Sünder gnädig“, nach dem grundehrlichen Buchstaben: „Sei mir versöhnt, und zwar um des Versöhnopfers willen!“ Um Erbarmen also schreit er, als Einer, der sich von jeglichem Rechtsansprüche an die Aufnahme in Gottes Gemeinschaft gänzlich entblößt weiß. Er bettelt um Gnade; aber nicht an eine vorausgesetzte Willkühr in Gott appellirend, sondern fußend auf der schon durch den Geist der Weissagung in Aussicht gestellten sühnenden Vermittlung, ohne welche der allerhöchste Gott, der ein Gott der Ordnung ist, und über den ewigen Rechten Seines Hauses hält, nimmermehr irgend einen Sünder hätte begnadigen und beseligen können. -
Daß ihr euch nun nicht vermeßt, auf diesen tief zerknirschten Mann in seinem Thränenwinkel naserümpfend mit dem blinden Pharisäer herabseh'n zu wollen! Dieses Mannes Trauer ist eine heilige Trauer. Sein Schmerz ist Geburtsschmerz zu neuem Leben; sein Selbstgericht eine Beurkundung, daß die Wahrheit in ihm den Triumph über die Lüge davontrug; seine Bitte ein Ausdruck tiefgründender Einsicht in die Majestät des Gesetzes und den Gnaden-Rathschluß Gottes. Ja, dieses Mannes Buße ist eine große, preiswürdige That: die That eines entschiedenen Bruch's mit Allem, was Sünde heißt, einer erleuchteten Anerkennung, daß dem Heiligen in der Höhe mit dem Firniß unsrer armseligen Gerechtigkeit nicht gedient sein könne; eines entschloßnen Ausgangs aus dem Lager des Lügenvaters; eines eben so entschloßnen Uebergangs zum Reichsbanner Gottes, und einer kräftigen Ermannung zu einem neuen höheren Lebensanfang. - Der geknickte Zöllner ist ein größerer Held, als ihr, die ihr nur darum das Haupt nicht senkt, wie er, weil ihr der Sünde nicht in's Auge zu schauen wagt, sondern, euch selbst betrügend, ihre Schreckensmacht verkleinert. Er überbietet euch, die Kinder der neuesten Ausklärung, unendlich an Verstand und Denkkraft; denn wie kindisch und widersprechend erscheinen seinen Anschauungen gegenüber eure „Allvater “-Träume und „Wiedersehens“-Phantasien! Der Zöllner ist ein gründlicherer Theologe als Tausende von Predigern, und ein bessrer Philosoph, als die gepriesensten Weisen „nach dem Fleisch.“
Doch wozu befasse ich mich mit der Vertheidigung und Ehrenrettung dieses Mannes, da schon ein ungleich Höherer, ja, der Herr, der göttliche Herzenskündiger selbst, sich anschickt, für ihn in den Riß zu treten. Hört Ihn! „Ich sage euch“, spricht Er, „dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem, (d.h.: jener blieb ungerechtfertigt;) denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden!“ - Hört ihr? Dies der in letzter Instanz entscheidende Richterspruch; und dreimal selig der Mann, dem er gilt! - „Gerechtfertigt.“ Großes, inhaltschweres Wort, gleichbedeutend mit „freigesprochen von aller Schuld vor Gott“, mit „für unsträflich, für gerecht erklärt und zwar um der ihm göttlich zugerechneten Gerechtigkeit seines Bürgen und Mittlers willen!“ -Die Bemerkung, der Zöllner sei „gerechtfertigt in sein Haus gegangen“, deutet unverkennbar an, es sei ihm über seine Rechtfertigung, die an sich ein außer dem Menschen sich vollziehender gerichtlicher Akt ist, auch in seinem Innern Kunde zu Theil geworden. Erging hin in Frieden, als ein Mensch, der nun kein Bewußtsein mehr von seiner Sünde, sondern ein im Blute des Versöhners „vollendetes Gewissen“ hatte. Derselbe heilige Geist aber, der „seinem Geiste Zeugniß gab“, daß er (nicht um seiner Werke, auch nicht um seiner Buße, sondern lediglich um der in freier Gnade ihm zugerechneten, und durch den Glauben von ihm ergriffenen Verdienste Christi willen) ein „Kind Gottes“ sei, erneuerte ihn auch im Kern seiner Persönlichkeit, im innersten Grunde seines Wesens, und machte ihn der „göttlichen Natur“ theilhaftig. Die Liebe Gottes war fortan die treibende Kraft bei all' feinem Sinnen und Thun. „Das Alte war vergangen; siehe, es war Alles neu geworden!“ -
Wisset ihr nun, wer ein Christ ist? Ein Christ ist ein Mensch, dessen Grundstimmung eine im Bewußtsein seines persönlichen Unwerths wurzelnde aufrichtige Beugung vor Gott ist, getragen von dem gläubigen Vertrauen auf die durch Christus vermittelte freie Gottesgnade, und unzertrennlich verknüpft mit der Liebe Gottes, kraft welcher er „Lust hat an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen“, ja die „des Gesetzes Erfüllung“ ist. - Ein Christ ist also ein wesentlich anders organisirtes Individuum, als selbst der sittlich trefflichste Mensch, der außerhalb der Glaubensgemeinschaft Christi mit eigenen Kräften waltet und haushält. Wie unsträflich ein Solcher wandle, immer lebt er sich, nicht dem Herrn; immer ist sein Wandel in der Welt, nicht „im Himmel“; immer leitet ihn, wie tief verschleiert auch, die Eigenliebe, während die selige Triebkraft der Kindesliebe zu Gott ihm fremd bleibt; immer nimmt er's mit der Sünde nicht genau, indem er nur die grobe Uebertretung in Anschlag bringt; immer schwächt er die Heiligkeit Gottes ab, ignorirt er Gottes Gesetz, dient er um Lohn, und dünkt sich wider Gottes Ordnung sein eigener Heiland zu sein. Diese Gesinnung aber, wie sie sich auch moralisch übertünche und verbräme, ist dem Allerhöchsten ein Greuel, und von seinem Worte unbedingt verdammt. Der Christ giebt überall Gott die Ehre; und „wer mich ehrt“, spricht der Herr, „den werde ich wieder ehren!“ -
Nun, Freunde! legt den Maaßstab, den ich nach Gottes Wort euch dargereicht, an euch selbst; und wie viele werden von euch übrig bleiben, die ihren Christennamen auch mit der Thai und Wahrheit tragen? Was ihr aber noch nicht seid, könnt ihr werden, und müßt es, wenn ihr eure Seele reiten wollt. Der Zöllner zeigt euch den Weg zum Ziele. Die Wiege des wahren Christen steht im Buß- und Thränenwinkel. Ein Schlag an die Brust ist das erste Lebenszeichen, ein „Gott sei mir Sünder gnädig!“ der Geburtsschrei eines Kindes Gottes. Begehrt ihr, auf einem „ehrenhafteren“ Pfade, als dieser euch erscheinen will, zum neuen Leben in der Gemeinschaft Gottes durchzudringen, so gelangt ihr zu diesem Leben nimmer. Nur eine Pforte hat das Himmelreich; und diese Pforte ist „eng“; ein Steg nur führt zu den Gütern des neuen Bundes; thränenfeucht und „schmal“ ist dieser Steg. - Nur wer der Wahrheit, die ihn zum Sünder stempelt, die Ehre giebt, und „sich erniedrigt, der wird erhöht“; und ewig fest steht, was der Dichter singt:
Die Gnade ist der Hort
Der Armen, die gesündigt,
Und denen das Gesetz
Gerechten Tod verkündigt.
Ihr Hafen öffnet sich
Schiffbrüchigen allein;
Mit einem lust'gen Wind
Fährt da kein Schiff hinein. - Amen.