Krummacher, Friedrich Wilhelm - Sage den Kindern Israel, daß sie ziehen!

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Sage den Kindern Israel, daß sie ziehen!

Neujahrspredigt gehalten am 1. Januar 1852.

Und der Herr sprach zu Mose: Was schreiest du zu mir? Sage den Kindern Israel, daß sie ziehen.
2. Mose 14,15.

Gott zum Gruße, theure Brüder, an diesem ersten Morgen eines neuen Jahrs! – Bis hierher half der Herr! Gelobet sei sein heiliger Name! „Leben und Wohlthat hat er an uns gethan, und sein Aufsehn bewahrete unsern Odem.“ – Wir rufen: „Herr, du bist groß, und dein Name ist groß, und kannst es mit der That beweisen;“ und spannen getrosten Muthes unsre Segel zur Weiterreise. – „Getrosten Muthes?“ fallt ihr fragend ein. – Ich verstehe euer Bedenken. Ihr wollt mich daran erinnern, daß es das Jahr 1852 sei, das vor uns stehe! Aber, wie eure Sorge demselben auch das Horoskop gestellt, immer bleibt’s doch das Jahr 1852 nach Christi Geburt. Und gelänge es dem Teufel, es gar umzuwerfen, und in das Jahr Eins seiner Thronbesteigung zu verwandeln, so träte es auch darum noch nicht aus der Reihe der Jahre heraus, über welche das unumschränkte Scepter dessen waltet und gebeut, der ein Herr aller Herrn heißt, und der da macht, beide, mit den Kräften, die im Himmel und auf Erden sind, was er will. Ja, hat sich’s nicht jetzt schon erzeigen müssen, daß auch das Jahr 1852 seiner Botmäßigkeit unterworfen ist? Durch sein Fügen und Regieren hat es bereits merklich seine Gestalt verändert. Die ganze Welt stimmt darin überein, daß es sich mit einem Male wie durch ein Wunder ganz anders ansehe, als es vor wenigen Wochen noch, aus der Ferne angeschaut, erschienen sei. Offenbar sehen wir seine Stirn minder bewölkt, als vor Kurzem noch. Doch liegt hierin keinesweges eine Bürgschaft, daß es unter seinem weiten Mantel nur Rosen für uns bergen werde. Die Welt steht an tausend Enden immer noch über sehr bedenklichen Minen; und bliebe die Welt auch unerschüttert, was Alles kann über ein einzelnes Menschenleben nicht ergehn?

Brüder, unser Text versetzt uns in einen der bedeutungsvollsten Momente der heiligen Geschichte. Israel steht am rothen Meere. Ihr wißt um seine verzweifelte Lage. Hinter ihm der Feind; zu beiden Seiten starre Felsenwände; vor ihm die brausende See, und nicht Brücke noch Schiff zum Uebergange. Wo aus nun und ein? Moses hat die ausdrückliche Zusicherung von seinem Gott: „die Egypter sollen inne werden, daß ich der Herr bin!“ Fußend hierauf spricht er dem bereits verzagenden Volke Muth ein. „Fürchtet euch nicht“, ruft er ihnen zu; „stehet fest: der Herr wird für euch streiten, und ihr werdet stille sein!“ – Hört, hört! Wer staunt nicht über die Beherztheit und Festigkeit des Mannes in so ungeheurer Lage? Doch eine Frage des Herrn an ihn verräth uns, daß die Kühnheit, welche die Worte Mosis athmen, diejenige seines Empfindens überbietet. „Was schreiest du zu mir?“ spricht der Herr. Also Sturm, Kampf, Nothschrei des angefochtenen Glaubens in Mosis Seele. Doch der Herr weiß das Ungestüm seines Gemüthes zu bedräun. “Sage den Kindern Israel“, spricht Jehova, “daß sie ziehn!“ Und Moses ruft gehoben sein „Vorwärts,“ schwingt glaubensfreudig seinen Stab, und Israels Kinder ziehn mit Frieden.

„Ach, wenn wir das auch vermöchten!“ – Brüder, wir können es, wo wir uns nur dem Israel Gottes beigesellen. Zwei große Wahrheiten gehen dann als Feuer- und Wolkensäule vor uns her, und sorgen, daß es bei der Nacht uns nicht an Licht, noch in des Tages Schwüle an süßem Schatten fehle. Die erste Wahrheit: es waltet über der Welt ein persönlicher Gott; die andre: dieser Gott ist mit seinem Volk.

Sehr einfache und bekannte Sätze dies; aber wer erkennt sie in vollem Ernste an? Kommt, lernen wir, so weit es noch nöthig ist, sie glauben; oder lassen wir uns, wofern wir über die Schülerbank hinweg sind, im Glauben an sie befestigen und stärken. Ich weiß nicht, was wir Besseres an der Schwelle eines neuen Jahres thun könnten? Stehe der Herr unser Gott uns bei, und segne er unsern Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!

1.

Daß wir bei der Anfangslehre alles religiösen Wissens wiederum beginnen, und euch, die ihr längst solltet Meister sein, zu den ersten Buchstaben der göttlichen Worte zurücke führen müssen! Aber leider! thut es also Noth. Die Gemüthswelt vieler Tausende ist wieder tabula rasa, blanker, leerer Grund. Ein dämonisch vergifteter Zeitgeist hat die letzten Reste christlichen Bewußtseins in den Seelen der Leute weggeätzt; und so liegt uns, den „Haushaltern über Gottes Geheimnisse“, nichts dringender ob, als vor jedem Weitern das Abc aller höhern Wahrheit in die nackten Herzenstafeln wieder hineinzuzeichnen.

Furchtbar wäre der Gedanke, daß des Menschen Willkühr und der Zufall die einzigen Mächte wären, die am Ruder des Weltschiffs und am Webstuhl der Geschichte säßen. Da sich Alles in der Welt nur eben mache, wie es könne, und über dem Getriebe der Adamskinder wie über dem Zusammenfluthen der sogenannten „Umstände“ kein höherer Wille regierend und gestaltend walte: der Gedanke wäre nicht zu tragen. Und doch hegen ihn in dieser glaubenslosen Zeit, dunkler oder klarer, Millionen, die darum auch, wie sie im Leben keinen Frieden haben, wenn ihre Stunde schlägt, verzweifeln, oder thierisch verdumpft von hinnen fahren. Wie stehen diese in den Schlingen einer sich selbst überlassenen Zeitbildung bis zum Atheismus fortgerissenen Leute an der Schwelle eines neuen Jahres? Das Jahr ist für sie eine große dunkle Urne, in der eine blinde Macht, Ohngefähr genannt, gedankenlos die bunten Loose mischte. Mit bebender Hand tasten sie hinein; denn niemand steht ihnen dafür, daß sie nicht statt des Heilsamen das für sie Verderblichste und Aergste greifen werden. Für sie wacht, sinnt und sorgt keine ewige Weisheit und Liebe in der Höhe. Sie glauben keinen Gott, oder sie nennen in ungereimter Weise Gott die erträumte dunkle, unfreie, bewußtseinlose Naturkraft, die Alles erzeuge, und Alles blindlings wirke, und von der sie sagen, daß sie im Menschen ihre höchste Potenz entfalte und erst in seinem Geiste, der übrigens als ein aus dem dunkeln Urgrund schnell aufblitzender Funke im Tode in das unpersönliche All, d.h. in das Nichts zurückesinke, zum Bewußtsein ihrer selbst gelange. O welch eine Verblendung oder Verstocktheit gehört dazu, den lebendigen und persönlichen Gott zu übersehn, der schon in der sichtbaren Schöpfung, die uns umgibt, wohin wir die Blicke richten, so unverhüllt und augenfällig uns entgegentritt, und überall her so laut und so vernehmlich sein “Hier bin ich“ uns zuruft! Findet sich doch in diesem weiten Gebiete nirgends auch nur die leiseste Spur, daß hier statt eines ewigen Verstandes nur der Zufall walte. Auf Schritt und Tritt begegnet uns hier vielmehr Vernunft, Plan, Absicht, Berechnung, bewußter Zweck; und die Einrichtungen entsprechen allwege dem jedesmaligen Zwecke in so vollkommenem Maße, daß man’s mit Händen greift, sie seien überlegt und sinnig vorbedacht.

Tritt hinaus in’s Freie. Schon der entlaubte Baum da draußen fragt: Wer verordnete mir diesen stillen Winterschlaf, in dem ich für neue Sommertriebe meine Kräfte und Säfte concentrire? Wer, fragt dich der Schnee auf den Feldern, breitete mich als eine wärmende Decke über die grünen Saaten, daß der Frost sie nicht versehre? Der Frost selbst, er fragt dich: „Wer machte, daß, wenn ich in Bach, Teich, Strom und Meer die Gewässer fasse, und theilweise zu Kristall verdichte, diese den ganzen Reichthum von Wärme, den sie in sich bergen, in deine Atmosphäre entlassen müssen, damit ich das Maß nicht überschreite, und nicht auch dich, und Alles, was Odem hat, erstarren mache? Es fragt dich die Sonne vom Firmament: Wer richtete es so trefflich ein, daß meine Gluth, damit du in ihrem Brande nicht vergehest, in demselben Augenblicke, in welchem sie die Erde und die Wasser drunten wärmt, die erfrischenden Nebel aus der Tiefe herauflockt, und die Erde mit dem träufelnden Wolkengewölbe überbaut? Wer, fragt dich der Wechsel von Tag und Nacht, von Sommer und Winter, gab dem dunkeln Planeten, den du bewohnst, den Anstoß zu seinem wunderbaren Umschwung um die Sonne? Wer regelte diesen Umschwung in so bewundrungswürdiger Angemessenheit zu aller Nothdurft der riesigen Haushaltung hier unten? Wer, ruft der rollende Donner aus der Höhe dir zu, durchzog den Luftkreis über dir mit den unsichtbaren Elektrophoren, die die erschlaffte Atmosphäre, die dich umströmt, immer wieder zur rechten Zeit belebt, und ihr neue Spannkraft leiht? Wer, fragt Alles, was im großen Garten der Natur an Gewächsen dich umgrünet und umblüht, legte schon in die Wurzel uns den Trieb zum Saatkorn, und verschloß in diesen Körnlein die schöpferische Keimkraft und die Zukunft unsrer Gattung? – Und wie viele tausend Erscheinungen gleicher Art richten an dich dieselbe Frage. Vollbrachte dieses Alles ein Ohngefähr, wie wollt ihr diesem Ohngefähr die vernünftige Ueberlegung streitig machen? Die Idee eines mit sich zu Rathe gehenden Zufalls steht aber mit sich selbst im Widerspruch und ist ein Unding. Der in der weiten Schöpfung wirkenden, waltenden und schaltenden Kraft eignet einzig nur der Name Gott, und zwar sofern derselbe den Begriff der Persönlichkeit einschließt. Doch vernimmt weiter, und laß mich dir noch diejenigen Natureinrichtungen namhaft machen, welche ein denkender amerikanischer Arzt mit unter den Stützen nennt, an denen er sich aus der Finsterniß des Atheismus zu dem Lichte der Gotteserkenntniß hervorarbeitete. Wäge den Athem, der von deinem Munde geht. Er ist, nachdem du ihn eingesogen, grade so viel schwerer geworden, als die Luft um dich her, wie dazu nöthig ist, daß er, wieder ausgehaucht, sich alsobald zur Tiefe senke, und das Erdreich und dessen Gewächse dünge. Freue dich, daß dem also ist; denn wisse, daß bald die ganze Menschenfamilie unrettbar dahinwelken, ja die Erde zu einem großen stillen Todtenhofe werden würde, wenn die in der Lunge wesentlich veränderte Luft unvermischt mit frischer und gesunder, immer wieder eingeathmet werden müßte. – Miß das Wasser in Brunnen, Bach und Strom. Welch ein Glück, daß es um nichts dichter, aber auch um nichts flüssiger ist, als du es befindest. Denn im erstern Falle würde es sich mit Elementen vermengen, die es schlechthin untrinkbar machten, im andern die Menschenstämme ewig von einander scheiden, indem es weder zu durchschiffen, noch zu durchschwimmen wäre. Untersuche den Boden, über den du wandelst. Ein wenig fester nur, als er ist, würde er dem Regen und Thau dergestalt den Zugang zu den Wurzeln aller Vegetation erschweren, daß die Erde bald zu einer dürren Steppe, ohne Strauch und Baum veröden müßte; ein wenig lockerer würde er den Gewässern, die von Oben strömen, nicht mehr wehren können, daß sie ihn mälig in einen Alles in sich verschlingenden Sumpf verwandelten. Aus diesen wenigen Exempeln schon, die sich um viele Tausende vermehren ließen, mögt ihr abnehmen, daß in dem großen weiten Haushalte der Natur nichts auch nur im allergeringsten anders sein dürfte, wo nicht der ganze Wunderbau zusammenstürzen sollte. Und diese überall den Stempel der anbetungswürdigsten Weisheit an der Stirne tragenden Einrichtungen sollten dem Zufall ihre Entstehung verdanken? Welch’ eine unzählbare Menge glücklicher Würfe müßte da geschehen sein! Aber wie könnte doch an Zufall zu denken sein, wo Alles so augenfällig und handgreiflich von Plan, Ueberlegung und liebevoller Fürsorge zeugt? Man spricht von “Gesetzen der Natur“, und wir reden auch davon, und preisen deren Weisheit. Aber wer legte diese Gesetze in die Natur hinein? Gesetze setzen doch einen Gesetzgeber voraus. Oder willst du, um mich eines Bildes des genannten Arztes zu bedienen, dem Manne gleichen, der bei Besichtigung einer kunstreich construirten Maschine die letzte Ursache des Umschwungs aller der Räder, die er sich drehen sah, zu erforschen suchte und endlich dieselbe in einem großen Rade entdeckt zu haben glaubte, statt auch über dieses bis zum treibenden Dampfbehälter, und dann auch noch über den hinaus bis zum Maschinisten und zum Techniker vorzudringen? – O Wahnsinn, lieber die sogenannten Naturgesetze für von Ewigkeit her bestehende erklären, und die so natürliche Frage, woher denn so treffliche Gesetze ihren Ursprung genommen, mit der kahlen Antwort: „das bleibt ein Räthsel“ zurückweisen, als eine über diesen Gesetzen erhabene gesetzgebende ewige und persönliche Vernunft glauben zu wollen; ein Glaube, der so unaussprechlich nahe liegt, und jenes sogenannte “Räthsel“ in so vollkommenem und genügendem Maaße lös’t, daß die Schrift in Wahrheit nicht zu viel thut, wenn sie diejenigen, die demselben ihr Herz verschließen, Narren und Thoren schilt. –

Und wenn denn einmal von “Naturgesetzen“ die Rede sein soll, aus welchem derselben will man die wunderbare Erscheinung der Ebbe und Fluth erklären, wodurch das Meer, damit es nicht in Fäulniß gerathe, in beständiger Bewegung erhalten wird? – Aus welchem Naturgesetze, fahre ich und zwar mit unserm bekehrten Arzte wieder, zu fragen fort, erklärt es sich, daß der Planet Mercur, der viel kleiner, als die Erde, und viel näher der Sonne ist, gar keinen Mond hat, der ihm leuchtet, weil er eines solchen wegen der größeren Sonnennähe wahrscheinlich auch nicht bedarf; während dem Jupiter, der, weil fünfzehnhundertmal größer und von der Sonne viel weiter entfernt, als die Erde, gewiß auch mehr Lichtes bedarf, nicht weniger als vier, und einem dritten von der Sonne noch entlegnern Planeten gar sieben Monde strahlen, und außerdem noch, wie die Sternkundigen behaupten, anderweitige Einrichtungen gegeben sind, die ihn für den Mangel an Sonnen-Licht und Wärme schadlos halten? – Wie lassen sich solche dem jedesmaligen Bedürfnisse so genau angepaßte Organisationen anders erklären, als aus der fürsorglichen Berechnung einer ewigen ihrer selbst-bewußten und persönlichen Liebe? Ja, wohin wir das Auge richten, sei’s in die Höhe, oder sei’s in die Tiefe, oder ringsum uns her überall und aus Allem schaut der lebendige Gott uns an. Jede Handbreit Raums in dem großen Weltgebiete ist mit Seinen Fußtapfen übersät, und leuchtet wieder von den augenfälligsten Spuren Seines allmächtigen, überaus weisen und grundgütigen Waltens und Regierens.

Und wie unverkennbar tritt Er als ein persönlicher Gott vollends in der Geschichte uns entgegen! Wie erzeigt er sich als solcher in der Führung und Regierung der Völker! Und wie namentlich in des Volkes Führung, das Er vor allen andern zur hohen Tribüne sich ersah, auf der Er vor der Welt Seinen Namen herrlich machte, und Sein Wesen, Wollen und Walten enthüllete! Der ganze Erziehungsgang, den Er mit seinem Israel einschlug, welch ein fortlaufendes gewaltiges Zeugniß für Seine selbstbewußte Existenz und Sein planvoll berechnetes Aufsehen auf die Kinder des Staubes stellt er dar; und wie erweis’t sich Seine Persönlichkeit in den Zeichen und Wundern, womit Er die Geschichte des Volkes seiner Wahl durchwoben hat!

Doch Wunder glaubt man ja nicht. Nun, so beschaue man sich einmal die Weissagungen, welche Gott seinen Propheten in Mund oder Griffel gab, und die, von menschlichen Zeugnissen nicht allein, sondern zugleich von der Weltgeschichte getragen, am Himmel der beiden Testamente zu Hunderten als Luftspiegelungen der Zukunft an uns vorüberziehen. Man nehme diese bis in die kleinsten Züge ausgeführten Zukunftsbilder, verfüge sich damit im Geiste, an welches Historiographen Hand man immer will, zu den Städten, Ländern, Reichen, deren nachmalige Geschicke sie wiederspiegelten, halte sie mit den eintretenden Begebenheiten vergleichend zusammen, und versuche dann, wie weit man ohne Zuhülfenahme der Idee eines persönlichen, inspirirenden Gottes in der Lösung des ungeheuern Räthsels der genauesten Uebereinstimmung zwischen der Vorherverkündigung, und den oft nach Jahrtausenden erst eingetroffenen Thatsachen, gelange. Man hat es versucht; aber, da man mit Berufung auf natürliche Ahnungen, Vermuthungen oder Divinationen nicht durchkam, sich nur vermittelst des Gewaltreichs, die Weissagung ohne Weiteres zu einem erst nach den Begebenheiten componirten Machwerke zu stempeln, aus der Verlegenheit herauszuhelfen gewußt. Bei dem einen und andern der alten Sehersprüche hat man dieses Verfahren mit einem scheinbaren Erfolge angewandt; aber Angesichts der allermeisten blieb den wunderscheuen Kritikern nur übrig, verlegen den Rückzug zu nehmen, und die Frage nach der Entstehung derselben wenigstens auf sich beruhen zu lassen. – Man fasse doch nur einmal das prophetische Gemälde ins Auge, in welchem Daniel, dessen Weissagungen doch jedenfalls nach Ausweis der Uebersetzung der 70 Dollmetscher einige Jahrhunderte vor Christi Geburt schon existirten, im 7ten Kapitel seines Buches unter den Thierbildern eines Löwen, Bären, Leoparden, und eines vierten nicht namhaft gemachten Ungethüms, die vier mächtigsten Weltreiche des Alterthums, das babylonische, medisch-persische, griechisch-macedonische und römische, an uns vorüberführt. Bemerkt, wie scharf er den eigenthümlichen Charakter jedes einzelnen dieser Monarchien zeichnet, und wie genau und umfassend er, obwol in wenigen Zügen nur, ihren Entwickelungsgang uns vormalt; und nachdem ihr das Bild mit der historischen Wirklichkeit verglichen, entscheidet selbst, ob man Kindern, denen man zu einem summarischen Ueberblick über die Hauptperioden der Weltgeschichte verhelfen möchte, einen bessern Rath ertheilen könnte, als den, das benannte, und etwa noch einige andere Kapitel der biblischen Propheten auswendig zu lernen. Wie treffend ist in dem Daniel’schen Gesichte zuerst das babylonische Reich geschildert, der „beflügelte Löwe“, dem aber zuletzt die gewaltigen Adlerflügel „ausgerauft“ werden, und (durch die Perser) ein menschliches (d.i. zahmes und zages) „Herz“ gegeben, und „menschliches Wesen“ (d.i. Cultur und Gesittung) zugeführt wird. – Wie wahr das andere Reich, der medisch-persische „Bär“, der „auf einer Seite sich erhebt“, (d.i. nach einer Richtung, nemlich nach Westen hin, seine Eroberungen verfolgt) und „drei Rippen verschlingt“, (Babylon, Lydien und Egypten sich unterthänig macht!) Wie bezeichnend das dritte, der macedonische „Leopard“, dessen „Flügel“ auf sein rasches Emporkommen deuten, und in dessen “vier Köpfen“ die vier Königreiche sich spiegeln, in welche das Reich Alexanders des Großen nach dessen Tode zerfallen sollte, und zerfiel! – Und endlich das vierte Thier, das gewaltigere, denn alle andern, das mit seinen „großen eisernen Zähnen“ Alles um sich her „frißt und zermalmt“, und „das Uebrige mit seinen Füßen zertritt“, und „viel anders ist, denn alle die vorigen Thiere“: wie unverkennbar bezeichnet’s das römische Reich, das einzige der Welt, das mit dem Bilde Daniels sich völlig deckt, und in so wesentlichen Beziehungen ein “viel anderes“ war, als alle übrigen Reiche! Wer denkt bei den “zahn Hörnern“, die dem Haupt des Thiers entsteigen, nicht an die zehn Reiche, die aus den Trümmern der römischen Weltmonarchie hervorgegangen, und heute noch aufzuweisen sind? Was aber unter dem zwischen den zehn Hörnern sich hervorarbeitenden „andersartigen, kleinen Horn“ zu verstehen sei, welches „Augen hat, wie Menschen-Augen“, (d.i. große Klugheit und Verschlagenheit besitzt), und „ein Maul, das große Dinge redet“, das mögt ihr selbst untersuchen. – „Drei der vordersten Hörner werden vor ihm ausgerissen“. Katholische Schriftsteller haben uns sagen wollen, die drei „ausgerissenen“ (d.i. aufgehobenen Hörner seien der politisch-römische Staat, das Exarchat von Ravenna, und das Lombardische Königreich, aus denen der römische Kirchenstaat entstanden sei; auf welche Entstehung auch heute noch die dreifache Krone deutet, in welcher der Bischof zu Rom freilich „sehr große Dinge redet“. Ich gebe es euch zur Beurtheilung anheim, ob jene katholische Deutung sich hören lasse; bemerke aber, daß ich mich, falls euch der Daniel’sche Seherblick in Verwunderung versetzt, im Stande befände, noch Hunderte von Weissagungen in Gottes Wort euch nachzuweisen, die die eben angeführte an Bestimmtheit der Fassung vielleicht noch übertreffen, und eben so buchstäblich sich bewahrheitet haben, wie jene. Erklärt aber, wenn ihr könnt, diese über Jahrtausende sich erstreckenden heiligen Orakel anders, als aus einer unmittelbaren Offenbarung eines persönlichen Gottes, dem die Zukunft eben so „blos und entdeckt“ vor Augen liegt, wie die Vergangenheit und Gegenwart! – Ja die biblischen Weissagungen, wie sie bis auf’s Jota in der Geschichte Fleisch und Blut angezogen haben, reichen allein schon überschwänglich hin, um alle Zweifel an dem Dasein jenes außer- und überweltlich existirenden, ewig waltenden und regierenden, allerhöchsten Gebieters, als Ausflüsse entweder nur der ungeheuersten Unwissenheit und Blindheit, oder der Herzenstücke des verkommenen Adamssohnes erscheinen zu lassen, der „die Finsterniß mehr liebt, denn das Licht.“ Ja, nicht zu zählen sind die Absurditäten, die derjenige gelten lassen und unterschreiben muß, der den persönlichen Gott verneint. Tausende von Thatsachen rücken Ihn uns greifbar in den Gesichtskreis; aber man kennt dieselben nicht, oder will sie nicht kennen; und daher der Atheismus, wenn von solchem bei dem Menschen, dem die Ewigkeit ins Herz geschrieben ist, überhaupt die Rede sein kann.

2.

Nein, die Welt ist kein Schiff, das mast- und steuerlos dahin treibt; sondern ein solches, in dem eine allmächtige Hand das Ruder führt. Die Menschheit ist kein ungezügelter und sich selbst gelassener Haufe; sondern eine große Heerde, die ein allgenugsamer Hirte weidet. Die Geschichte ist kein Gewebe menschlicher Willkühr und blinden Ohngefährs, sondern ein Kunstwerk, zu dem der Ordner aller Dinge die Fäden des menschlichen Thuns und Unternehmens zu verschlingen wußte. Und erscheint sie als ein solches Kunstwerk noch nicht überall, so ist zu bedenken, daß sie erst noch ein Fragment, und unser Auge für Gottes Wege noch sehr umflort ist. Wartet, bis Gott der Herr am Ziele seiner Führungen ankam, und die Ewigkeit alle Schleier heben, und Auge und Verständniß schärfen wird. O wie werden wir dann anbetender Verwunderung voll zu den Füßen des Ewigen niedersinken, wenn wir entdecken werden, wie Alles, auch das Seinem heiligen Willen Widerstrebendste und Feindseligste, unter Seiner gewaltigen Hand dennoch Seinen erhabenen Reichs- und Regierungsplänen sich unterordnen, fügen, ja förderlich erzeigen mußte. O, welch ein reicher Trost entsprudelt dem Bewußtsein schon, daß hoch über dem Gewirre hier unten in ewiger Klarheit der Thron jenes Allgebieters ruht, und Alles, was hienieden sich bewegt, in Gängelbanden geht, deren Enden in Seine allmächtige Hand zusammenlaufen! O holder, Beruhigung athmender Stern, der in dieser Wahrheit schon uns anstrahlt! Wie sollte man Angesichts seiner nicht getrost in das Dunkel eines neuen Jahrs hinübersteuern? Es ist ja darin Alles schon in fürsorglicher Weisheit vorgeseh’n. Was in einem unsrer Nachbarländer sich kürzlich zugetragen hat, wird eben so gewiß nur dem Herrn dienen müssen, als schon auf’s genauste abgemessen ist, wie weit dessen Folgen greifen sollen. Ob der Friede noch ferne uns beglücke, oder die Fackel des Krieges sich entzünde; ob Segen niederströme in unser Land, oder die Geißel verdienter Gerichte uns treffe: es ist das Alles im „Rathe der unsichtbaren Wächter“ schon entschieden. Kein Zufall wird auf dem neuen Jahreswege uns begegnen. –

„Unaussprechlich beruhigend dies“, höre ich sagen, „im Blick auf den Gang der Weltbegebenheit im Großen und Ganzen; aber der persönliche Gott könnte ja den Wagen der Geschichte über die Trümmer meines zeitlichen und ewigen Glücks hinrollen lassen! Und was frommte es mir dann, daß Er im Regimente sitzt?!“ – Du redest recht! – Er kann dich verderben, wie weiland deine Brüder in den Tagen Noah; und schlagen kann er dich, wie er den Herodes schlug; und von seinem Angesichte dich verstoßen, wie den Cain und den Judas; und wie den reichen Mann im Evangelium kann er dich dem Abgrund der Verdammniß überweisen. Thäte er so, so hätte Er immer in dir ein neues Zeugniß seines persönlichen, heiligen und gerechten Waltens sich aufgerichtet; - aber was hättest du an Ihm? – Vor allem trachte darum, daß Er für dich sei, und nicht wider dich. – „Aber wie dies erzielen?“ Es existirt in der Welt ein Volk, das Er allerdings partheyisch bevorzugt, mit „besonderer Liebe“ liebt, wie seinen „Augapfel“ behütet, und dessen Wohlfahrt das Ziel und bestimmende Maaß all Seines Waltens auf Erden abgiebt. Dieses Volk war da von Anbeginn der Welt, und begreift alle diejenigen in sich, welche dem Worte Jehovah sich unterwerfen, ehrerbietig und dankbar in Seine zum Heil der Sünder getroffenen Veranstaltungen eingehn, Seine in der Sendung des eingebornen Sohns geoffenbarte Liebe erkennen, diesem Sohne ihr Herz geben, und ihn ihren Ruhm, ihr Leben und ihre ganze Hoffnung sein lassen. Diese aus dem Samen Seines Wortes wiedergeborenen, und mit Seinem Geist getränkten Leute bilden das Volk, das Er das Seine nennt, dessen, nach Röm. 11, „die Bündnisse“ sind, „und die Kindschaft, und die Herrlichkeit, und die Verheissungen, von dem das Israel nach dem Fleisch ein Vorbild und Schatten, der gläubige Kern der Israeliten aber, zu dem auch Moses gehörte, ein wirklicher Bestandtheil war. Blickt in den Spiegel unsrer Textgeschichte zurück. Dort steht dies Volk am Strande des rothen Meeres. “Was schreiest du zu mir?“ spricht Jehovah zu Mose, dem Führer des auserwählten Heerzugs. Er spricht’s, der zärtlich den verborgensten Bedürfnissen und Wünschen der Seinen lauscht. “Sage den Kindern Israel“, fährt Er fort, “daß sie ziehen!“ – O hört! Was heißt das, als: „Ich bin ihnen Schiff, Brücke, sichrer Weg, und was sie sonst bedürfen, während ich dem Pharao und dessen Horden Sandbank und Klippe bin, zu Schiffbruch und Untergang?“ –

“Sage ihnen, daß sie ziehen!“ – Brüder, dies Wort steht heute noch in Kraft, und zwar für Alle, die Seines Volkes sind. Sie sollen mit Frieden zieh’n, ob sie selbst Drohenderes noch, als pharaonische Haufen hinter ihrem Rücken, und rothe Meere vor ihren Füßen sähen. Sie werden schon die Straßen vor sich her gebahnt, die Tiefen überbrückt, die Felsen gesprengt und die Berge abgetragen finden. Denn der Allmächtige ist ihr Geleitsmann, der sie „auf Adlersflügeln träget; Seine Weisheit und Stärke bilden die Schirmwacht um sie her, und der Eifer seiner Liebe umziehet sie wie eine „feurige Mauer.“ –

Freunde, verhehlen wir es uns nicht, die Tage des letzten entscheidenden Kampfes zwischen dem Reiche des Lichts und dem der Finsterniß sind hereingebrochen. So dämonisch ausgebildet und zugespitzt hat das Antichristenthum der Wahrheit, so massenhaft der Same Belials dem Heerzuge unter dem Paniere des Gekreuzigten nie noch gegenüber gestanden, wie gegenwärtig. Seid des versichert: es werden die Fahnen sich nicht mehr zusammenrollen, noch die Schwerter in die Scheiden zurückekehren, bis der Kampf vollständig durchgekämpft ist. Der Fürst der Finsterniß wirbt bereits bunte Cohorten, und beginnt schon, auf daß die Schrift erfüllet werde seltsame Bündnisse zu schließen, und unerhörte Coalitionen einzugehen. - Politik und Religion treten in Verbindungen miteinander, deren unheimlicher Charakter je länger je mehr uns bange macht. Staatliche und kirchliche Embleme vermengen sich zu Wappen- und Fahnenbilder, die in schauerliche Kapitel der Apokalypse hinüberdeuten. – Es kann sein, daß das Jahr 1852, wie gefürchtet auch, in Ruhe vorübergehe. Gottes Langmuth gönnt immer noch Pausen, damit, was noch bekehrungsfähig ist, sich zu Ihm bekehre. Aber jede Ruhe wird fortan nur als Waffenstillstand sich erweisen, nach welchem die Fackel des Streits um so wilder entbrennen wird. Wem erbebt nicht bei Erwägungen dieser Art das Herz? – Doch “Sage den Kindern Israel,“ ruft, wie weiland Mosi, so heute mir Jehova zu, “daß sie ziehen!“ – Ja, ziehet getrosten Muthes vorwärts, die ihrSeinen Namen an euern Stirnen tragt. Der Kampf, der heranbraust, ist derselbe, im Blick auf welchen der „Kriegsmann“ aus der Höhe spricht: „Wenn Solches anfähet, zu geschehen, so hebet eure Häupter empor, sintemal ihr wisset, daß eure Erlösung naht!“ – Es ist der letzte Krieg, aus welchem das „heilige Volk“ mit unverwelklichem Siegesschmuck gekrönt, hervorgehen wird. Es freue sich darum, wer jenem Volke beigehört, daß er den Anbruch der Jubelperiode des Himmelreichs nicht mehr in ungemessene Fernen zurücktreten sieht, und festen Schrittes gehe er einer Katastrophe entgegen, vor welcher nicht er, sondern nur die Feinde seines himmlischen Königes zu erschrecken Ursache haben. –

Unzweifelhaft drohen in naher Zukunft schwere Gerichte. Gott hat große Wunder an uns gethan in den letzten Jahren, und donnerlaut uns zur Buße gerufen. Die Welt aber hat von ihrem Taumel nicht ernüchtern wollen, sondern „hält Fleisch für ihren Arm“, und schnarcht in ihrer Sicherheit fort. Gerichte müssen, Gerichte werden kommen. Wenn aber die Welt erschüttert wird, bleibt das Volk des Herrn nicht unberührt. Dennoch, wie spricht der Herr? “Sage den Kindern Israel, daß sie ziehen!“ Ja zieht! – Was euch treffen möchte, nimmer ist’s Erguß der Zornesschaale, sondern nur Züchtigung zum Heil. Euch lächelt jedenfalls durch’s dunkle Gewölk die Gnadensonne. „Gedanken des Friedens“, wie verhüllt auch immer, walten über euch, und nicht “des Leides“; und wo ihr geht und steht, seid ihr des Gottes, der, wie er beim Untergange Sodoms für seinen Lot ein Zoar, bei der Belagerung Jerusalems für die ersten Christen ein Pella hatte, zur rechten Stunde auch schon wissen wird, wo Er euch berge und sicher stelle.

Freilich kann es geschehen, daß auch euch, Seine Lieblinge, mancherlei Ungemach überkomme. Es steht dem neuen Jahre nicht an der Stirn geschrieben, was es euch bringen wird. Krankheit, Armuth, Verkennung, Verluste aller Art, und was deß mehr ist, kann’s für euch unter seinem geheimnißvollen Schleier bergen. – Doch “Sage den Kindern Israel“, befiehlt der Herr mir, “daß sie ziehen!“ – Mit gefaßter Seele denn in Gottes Namen vorwärts! – Ihr wißt ja, was Seinem Volke die Nothstände sind, die es betreffen. Sie vertreten die Stelle der Pionire, die dem Allmächtigen nur für Seine Hülfs- und Rettungswunder den Schauplatz bereiten müssen. Schaudert vor ihnen nicht zurück; seht ihnen vielmehr erwartungsvoll in’s Auge. Wisset, der Gott der Wittwe zu Sarepta, des Propheten Elias am Bache Crith, des Daniel in der Löwengrube, der drei Männer im Feuerofen und des Simon Petrus im Gefängniß: Er lebt nicht nur noch, sondern ist auch der eure. „O,“ rufe ich mit Mose, „wo ist so ein herrliches Volk,“ zu dem Götter also nahe sich thun, als der Herr unser Gott zu uns, so oft wir ihn anrufen?“ –

Beschränken wir denn all’ unser Sorgen auf das Eine, daß wir diesem Volke einverleibt werden. – Tragen wir aber das Zeugniß unsrer Beigehörigkeit zu demselben schon in uns, dann die Häupter empor! – Mit fester Hand dann die Anker gelichtet, und unter dem Wiederhall des Herrnwortes: “Sage den Kindern Israel, daß sie ziehen“, getrost ins neue Jahr hineingesteuert! In unsrer Flagge aber wehe als Devise das apostolische: “Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn!“ - Amen.

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