Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der Weg zum Heil.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der Weg zum Heil.

Gast-Predigt über Hebräer 4,16 gehalten zu Rheydt am 18. September 1842 von Friedrich Wilhelm Krummacher.
Elberfeld, 1842.
Bei Wilhelm Hassel.

Vorwort.

Den vielen theuern Freunden jenseits des Rheins, welche die Veröffentlichung des nachstehenden Vortrags freundlich begehrten, sei derselbe hiemit dargereicht, und ihm ein reiches Maaß der herzlichsten und wärmsten Liebesgrüße beigefügt. Namentlich entbiete ich den beiden würdigen Pastoren der Gemeine, zu welche die folgenden Worte zu reden mir vergönnt war, den Herren Krebs und Philipps den innigsten Brudergruß, der dankbarsten Erinnerung voll an die schönen, reichgesegneten Stunden, die ich in gewürzter Unterhaltung mit ihnen verleben durfte, und unter dem betenden Wunsche, daß die verheißungsvollen Lebenskeime, womit der Acker, den sie bebauen, so reich befruchtet scheint, unter dem Zustrom „gnädiger Regen“ aus der Höhe recht bald zu einem vollen, schönen Kirchenfrühling sich entfalten mögen.

Elberfeld, im October 1842.

F. W. Krummacher.

Weiß ich doch nicht, Geliebte, was für eine eigene stille Freude eben zu dieser Stätte mich begleitet, und mich zu euch, die ich doch zum ersten Male sehe und grüße, in ein Verhältniß innerer Trautheit versetzt, als wäre ich schon seit Jahren heimisch unter euch, und nach dem Herzen eingebürgert. Ist’s, was so harmonisch mich und heiter stimmt, etwa die Erinnerung an den reichen Geistessegen, womit, wie mir nicht unbekannt geblieben, der Herr von Alters her vor vielen andern diese Gemeinde krönte; ist’s das Bewußtsein von der zahlreichen Schaar tief innig Einverstandener, von denen ich mich hier auch heute noch umgeben sehe? Ist’s der freundliche Willkomm, den ihr mir geboten, die wohlwollende Aufnahme, die ihr mich in eurer Mitte finden ließet; oder mag’s das ahnungsreiche, prophetische Gefühl sein, das meine Brust durchgeht, und, der zitternden Wünschelruthe über einem gold- und silberhaltigen Boden ähnlich, mir die Kunde gibt, daß auch hier der verborgenen Schätze noch viele im Acker ruhen, und der Herr ein großes Volk in dieser Gegend habe, welcher er in naher Zukunft schon entschleiern, oder später erst zu seinen Fahnen sammeln werde? – Ich weiß es nicht. Es wird das Alles, was ich eben nannte, wohl zusammen wirken. Die herzerhebende Empfindung wenigstens, die den Beruf eines Predigers zu begleiten pflegt, der zum ersten Mal vor einer Gemeinde die Harfensaiten des Evangeliums rühren darf, ist’s selbstredend nicht, was meine Seele so beflügelt, so froh bewegt. Lauscht ihr doch lange schon den seligen Klängen dieser Saiten, ihr, denen das Glück zu Theil geworden, allsonntäglich und zwar von treuen mit der Kohle vom Altar der Versöhnung gerührten Lippen mit der reinen unverfälschten Botschaft von eurem Heil in Christo euch begrüßt zu hören. – Wie aber, Freunde, daß ihr noch nicht alle dieser Botschaft freudig glaubt? Dünkts vielleicht auch euch, wie so Manchen in der Welt, ein schweres Joch, zu dessen Uebernahme ihr aufgerufen werdet? Oder meint ihr, ein zu großes Wagniß gelte es des Verstandes wie des Herzens bei dem Fahnenschwur zu Christi Sache? – Nun, es dürfte, wie überhaupt an der Zeit, so vielleicht auch hier am Orte sein, auf jene Fragen näher einzugehen. Folgt dem Gange unserer ferneren Erwägungen, und was gilt’s, das Gegentheil von dem, was ihr besorgt, wird bald zu Tage treten.

Text: Hebräer 4,16.
Darum so lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfahen, und Gnade finden, auf die Zeit, wenn uns wird Hülfe noth sein.

Wer noch nicht wüßte, was Evangelium sei, aus diesem Einen apostolischen Worte könnte er den Begriff des Evangeliums entnehmen. Wir erfahren hier nämlich in ebenso umfassender als bündiger Weise zuerst, was das Evangelium offenbart, sodann, wozu es aufruft, und endlich, was es verheißt und worauf es vertröstet. Begleite der Herr mit seinem Segen die nähere Erwägung dieser Punkte.

I.

Ja, Freunde, es strahlt eine herrliche Sonne an unserm Horizont; es umleuchtet uns in der Nacht der Erde, und zwar mit untrüglichem Glanze das Licht einer himmlischen Offenbarung. Wir haben keinen todten, selbstisch auf sich zurückgezogenen Gott, der seinen armen Geschöpfen gegenüber von Anbeginn der Welt sich fremd gehalten und geschwiegen hätte. Nein, unser Gott hat seinen Mund zu uns aufgethan, unser Gott hat geredet, und wir sind nicht so unglücklich, mit unsren Fragen um die ewigen Angelegenheiten auf die Aussagen unsrer eignen kurzsichtigen Vernunft uns beschränkt zu sehen. Freilich ist auch unsre Vernunft, selbst in ihrem gegenwärtigen Zustande, nicht völlig inhaltsleer; es sind ihr gewisse ewige Ideen eingeboren, wie die, daß ein Gott sei, daß ein heiliger Wille walte, dem sich der Mensch zu unterwerfen habe, und der geistige Mensch den Tod nicht sehen werde, sondern unsterblich sei. Aber theils sind nach dem Eintritt der Sünde in die menschliche Natur diese Ideen nur noch als dunkle Ahnungen der Seele inne wohnend; theils glimmen sie in der Tiefe als ein vielfach getrübtes, höchst unsicheres Dämmerlicht, bei dessen Schein gewisse und feste Tritte sich nicht thun lassen. Da hat denn der grundbarmherzige Gott das arme Restlein der ursprünglichen Gotteserkenntniß, das trüb genug und mit düsterem Wahn vermischt noch in uns übrig blieb, für unhinlänglich, ja für Nichts geachtet, und außer uns eine bessere und vollständigere Illumination uns angezündet, indem er uns durch seine Propheten und Apostel, vor allem aber durch seinen eingebornen Sohn, mit einem festen, klaren, unzweideutigen Wort beschenkte, das uns nun freilich, wie seinen heiligen Willen und sein Gesetz, so unsere eigene wahre Beschaffenheit und ewige Bestimmung in allseitigster Entschleierung vor die Blicke stellt. Diejenigen würden aber noch geringe Begriffe von der Herrlichkeit der göttlichen Offenbarung verrathen, die da meinen könnten, es habe jenes Wort aus der Höhe nur bezwecken wollen, die in unsrem natürlichen Bewußtsein nur schlummernd vorhandenen Ahnungen zu wecken, zu reinigen, zu entwickeln und zu vervollständigen. Nein! es sollte sein Wort auch Dinge uns offenbaren, und hat sie uns geoffenbaret, die in dem Ahnungskreise unserer Vernunft durchaus nicht lagen, sondern denselben weit überschritten. Der Apostel sagt 1. Corinther 2: „Das kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott uns geoffenbaret durch seinen Geist.“ Was ist dies aber? Es ist nicht die Existenz eines höheren Wesens, nicht sind’s die Vollkommenheiten, die diesem Unsichtbaren eigen sind, nicht dessen Gesetz, noch die Unsterblichkeit der menschlichen Seele; ja selbst nicht einmal die Zukunft eines großen Gerichts. Dies kam Alles, wenn auch in noch so schwebenden und unvollkommenen Begriffen, in des Menschen Herz. Was aber in dasselbe nicht hinein kam, war, wie der Apostel sagt: “Dasjenige, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.“ Einige Verse vorher nennt er’s: „die heimliche, verborgene Weisheit Gottes, welche Gott verordnet habe vor der Welt zu unserer Herrlichkeit.“ Er meint den Gnadenrathschluß Gottes zur Erlösung der sündigen Menschheit, und freilich, der ist der eigentliche Inhalt, der Mittelpunkt, der Stern und Kern desjenigen Gotteswortes, welches wir das Evangelium nennen.

Das Evangelium öffnet uns des Himmels Pforten, und zeigt uns in der lichten Höhe – was zeigt es uns? Ja, einen lebendigen, persönlichen, heiligen Gott führt’s uns vor, und zeigt uns das Ruder der Weltregierung in dieses Gottes Händen, und Schaaren hehrer Engel vor seinem Stuhl, die vor Ehrfurcht starr, ihr Angesicht mit Flügeln decken. Es zeigt uns in Gottes Hause Reihen schimmernder Wohnungen für die Gerechten auf Erden, welche im göttlichen Gerichte als solche erfunden werden dürften, die in Gesinnung und That das ganze Gesetz erfüllten. Dies Alles, wir schauen’s nun im klarsten Lichte; aber solch Gesicht, sagt an, was hilft es uns? Stillt es unser Herz? kann es uns Beruhigung gewähren? Ja, denen vielleicht, die noch in der furchtbaren Täuschung jenes reichen Jünglings sich befindender da wähnte, Alles, was Gott in seinem Gesetze fordere, von Jugend auf gehalten zu haben. Die Gedankenlosen mag es befriedigen, die Verblendeten, die Oberflächlichen, die Nichteingeweihten in die innerste geistliche Natur des ewigen göttlichen Gesetzes. Wir, die wir des Gesetzes Heiligkeit durchschauen und uns selbst, schrecken vor jenem Anblick, wie der Prophet einst, mit einem: „Wehe mir! ich vergehe!“ bestürzt zurück. Wir stehen, wie weiland Moses, vor dem Angesichte des Herrn zitternd, und lassen unsere Augen umgehn ängstlich forschend, ob das Alles sei, was uns das Wort enthülle, und nicht ein freundlicheres, ein tröstlicheres Bild sich uns erbiete. Und wie wir uns umschaun, und in unsren Innern schon der Schrei verlauten will: „Ihr Berge, fallet über uns!“ da ruft eine Stimme: “Lasset uns hinzutreten zum Gnadenthron;“ ein Schleier fällt, und o, des seligüberraschenden Schauspiels, das vor unsere Blicke tritt. Siehe, ein Gottesstuhl taucht vor uns auf, nicht mehr in eitel Feuerflammen brennend, sondern vom Regenbogenglanz des Friedens überbreitet; mit Blut genetzt zwar seine Veste, aber nicht zum Wahrzeichen mehr eines drohenden Gerichts. An seinen Stufen statt des alten: „Verflucht ist Jedermann, der nicht bleibt in Allem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er’s thue,“ jetzt die süße Inschrift: „Selig sind, die da hungert und durstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden!“ Zu seiner Seite statt des Schwertes und der richterlichen Waage jetzt der Palmzweig und die weiße Flagge der Versöhnung. Und kein Cherub mehr, der den Zugang bewache; freie Gasse jetzt, auch für den Schächer, auch für den Zöllner. Keine Schranke mehr, wie dort am Sinai, mit der Aufschrift: Fern, ihr Profanen! Eine offne Pforte jetzt, und drüber die Ladung: „Kommet her Mühselige und Beladene, und laßt euch erquicken!“ O wie ward doch aus dem Stuhle des Gerichts dieser Thron der Gnade? Wie aus dem Blitze sprühenden Richtersitze dieser Ausgangspunkt der herrlichsten und erhabensten Amnestie, die je erklungen? Wie geht es zu, daß der Gott, „vor dem, wer böse ist, nicht bleibt,“ jetzt als ein Gott erscheint, bei welchem viel Vergebung? Wie, daß dieser Gott nicht mehr, wie es sein Gesetz erheischt, in’s Buch des Todes, sondern auch in’s Buch des Lebens Namen schreibt, wie deinen und wie meinen Namen? Hat er sein Wesen mit einem Male geändert, und aufgehört, in Heiligkeit und Gerechtigkeit der Vollkommene zu sein? Hat er seine Forderungen herabgespannt und gemildert, eine schlaffe menschliche Moral statt seines strengen heiligen Gesetzes adoptirt, und sich bereden lassen, es mit der Sünde so scharf und so genau nicht mehr zu nehmen? – O, ich bitte euch, wie wäre das denkbar? Das Evangelium enträthselt uns das Geheimniß des Vorhandenseins eines göttlichen Gnadenthrons doch etwas anders. Es gibt uns eine Deutung, bei welcher Gott Gott bleibt, und von seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit nichts einbüßt. Es war ein König, erzählt uns das Evangelium, ein König im Paradiese. Einen reicheren gab es nicht auf Erden, einen schöner Geschmückten eben so wenig. Aber wie hoch und ausgezeichnet er vom Könige aller Könige belehnt war, er setzte in schmählichster Weise seine Krone, seinen Purpur und sein Scepter auf das Spiel, ja, gab sie preis, verlor sie. Und da er später sie wieder suchen wollte, und sich suchend zur Erde bückte, fand er die Krone nicht mehr: wo sie hingefallen war, wuchsen ihm statt ihrer stechende Dornen; nicht mehr den Purpur, sondern statt seiner griff seine Hand ein ewiges Schmachgewand; nicht das Scepter: in einen Stecken hatte sich’s verwandelt, der unablässig ihn verwunden sollte. Er erschrak, der bitterlich verarmte, und hub an zu weinen. Da klang ein Laut daher: „Ich muß bezahlen, das ich nicht geraubt habe!“ Und eine andere Stimme rief: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt!“ Und eine andere: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“ Und wie er durch seinen Thränenschleier aufsah, der gefallene König, da stand vor ihm eine hehre Erscheinung, ein Gottgleicher aus der Höhe, und siehe! die Dornen lagen zu einem Kranze geflochten um seine Stirne, das Spottkleid ruhte um seine Schultern, und seine heiligen Glieder bluteten unter den Schlägen jenes schauerlichen Steckens. Warum aber, o mein Gott! warum das doch? – Darum, damit jener, von seiner Höhe so tief Herabgestürzte, der verlornen paradiesischen Kleinodien wieder theilhaftig würde. Nicht wahr, ihr kennt diese Geschichte? Es ist diejenige, die in der Schrift das Wort vom Kreuze heißt, und in deren Tiefen auch die Engel gelüstet, hineinzuschauen; sie, in welche die Liebe Gottes ihren ewigen Triumph feiert; die Geschichte von dem andern Adam, dem ewigen Bürgen, in dem Gott war, die Welt mit sich selbst versöhnend; der, von Gott gesendet, an unsre, der Sünder Stelle trat, in dieser Stellvertretung für uns gehorchend, für uns duldend dem durch uns geschändeten Gesetze wiederum zu seiner Majestät verhalf, und uns in sich, dem erhabenen Haupte, entsündigt darstellte dem Ewigen, und annehmenswerth und krönungswürdig, um dann, durch Mittheilung seiner Natur und seines Geistes, auch sich wieder wirksam und lebenskräftig darzustellen in uns, der Gemeine. Ja seht, in dieses Mittlers unausdenkbarem geheimnißvollem Werke hat sich der Allmächtige den Wunderweg geöffnet, in welchem er, unbeschadet seiner Heiligkeit und Wahrheit, und ohne Widerspruch mit der Ordnung seines Hauses, Gesetzesschuldner belohne als Erfüller des Gesetzes; und so schwebt der göttliche Gnadenthron nicht in der Luft; so ruht er nicht in einer Willkühr, die Gott entwürdigen würde, oder gar auf einer Einbildung unserer Phantasie, die eine nähere Beleuchtung mit der Fackel der Vernunft zu scheuen hätte, noch wie Mancher denken könnte, auf den Trümmern des Gesetzes; nein, nein, auf einem guten halt- und unwandelbaren Grunde steht der Gnadenthron, ein ewiges Zeugniß, ein glänzendes Denkmal der anbetungswürdigen Weisheit Gottes. Er steht gegründet auf den lebendigen blutbenetzten Felsen Christus. Gerechtigkeit und Gericht sind auch dieses Stuhles Veste, und nicht eine göttliche Inconsequenz, nicht ein Wortbruch Gottes. Zion ist, wie die Schrift sagt, durch Recht erlöset worden, und ihre Gefangenen durch Gerechtigkeit.

II.

O Halleluja, daß der Stuhl unseres Gottes jetzt ein solcher ist: ein Stuhl, zwar auf Recht gebaut, aber von dem die Gnade das sanfte Scepter neigt. „Lasset uns, ruft der Apostel, mit Freudigkeit hinzutreten zu dem Gnadenthron!“ O, ich denke, Brüder, wir ergreifen des Apostels Hand, und rufen wie aus einem Munde: „Ja, ja, wir gehen mit dir!“ O wie viele Tausende haben vor diesem Thron schon ihre Knie gebeugt; wie viele Millionen sind aller ihrer Lasten für Zeit und Ewigkeit hier los und ledig worden. Und nicht Zöllner blos und arme Schächer drückten hier ihr Antlitz selig weinend in den Staub. Große Dichter legten hier ihre Harfen nieder, und wollten hinfort das Lied des Lammes nur singen. Weltberühmte Philosophen brachten ihre Lehrsysteme hierher, und übergaben sie den Opferflammen, freudig bekennend, daß die einzig wahre und Frieden bringende Philosophie in Christo ruhe. Gepriesene Gelehrte haben hier ihrem Gott gedankt, wieder zu Kindern geworden zu sein, um solcher Seligkeit mit theilhaftig zu werden. Lorbeergeschmückte Helden und Gewaltige der Erde haben hier ihre Kränze, Kronen und Diademe hingeworfen, und huldigend ausgerufen: „Du, du allein bist’s würdig! Anbetung dir und Preis und ewige Ehre!“ Und ihr wolltet Anstand nehmen, ein Gleiches zu thun? – Ihr fragt, was es heiße: hinzutreten zum Gnadenthron? Es heißt verzichten auf den erlogenen Ruhm, etwas Anderes zu sein vor Gott, als ein armer Sünder; ablassen, auf eine eigene Gerechtigkeit zu trotzen, die man in Wahrheit nicht besitzt; dem Wahn entsagen, als vermöchte man sich selber zu versöhnen; von der lästerlichen Zumuthung an den Dreimalheiligen Abstand nehmen, daß er das trübe Tugendstückwerk, wie wir es ihm aufzutischen haben, willkührlich und von der Wahrheit fallend für eine wirkliche Erfüllung seines Gesetzes solle gelten lassen; voll heiligen Gnadendurstes dann, der göttlichen Erlösungsanstalt sich gerne unterwerfend, den Allmächtigen angehen mit der flehentlichen und vertrauensvollen Bitte, er wolle uns, ach! nicht als in uns selbst Gerechten, denn nichts weniger seien wir, denn solche, sondern als armen schuldbeladenen Sündern einzig um der Verdienste des großen Bürgen, seines Sohnes, willen, unsere Missethat verzeihen, und das Recht der Kindschaft zuerkennen; seht, Freunde, das heißt im biblischen Sinne zum Thron der Gnade nahen. – „Aber, mein Gott!“ – Was wollt ihr? – „Dann müssen wir ja anerkennen, daß wir uns selbst nicht helfen könnten?“ – Nun ja, das müßt ihr freilich. Was wollt ihr weiter? – „So stellen wir uns ja mit Zöllnern und mit Sündern auf eine Stufe der Bedürftigkeit? –„ Sicher, Freunde, das ist unvermeidlich. Was habt ihr mehr noch? – „Wir gesellen uns dann ja zu jenem unselbständigen Volke, das in aller Welt verachtet ist?“ – Allerdings. Es sprach der Herr der Herren einst zu denen, die es mit halten wollten: „Der Schüler ist nicht über den Meister. Haben sie mich verworfen, so werden sie euch ein Gleiches thun.“ – Gibt es noch was zu erinnern? – „Ja“, sprecht ihr, „gehen wir in deine Straße ein, so folgen wir ja nicht frei mehr unseren eigenen Gedanken und Prinzipien, sondern unterwerfen uns blindlings einem Worte, das obendrein sich so gar nicht erfassen noch begreifen läßt.“ – So ist es! Diese Freiheit, wie jener Eigenruhm, sie müssen unter das Messer; aber dann werdet ihr auch ewig selig, während ihr auf jedem andern Wege, als auf dem zum Gnadenthrone, Kinder des Todes und verloren bleibt.

Doch stille, stille! Ich kenne dieses Jahrhundert der Gedankenverwirrung, und weiß, wie schwer es den Kindern dieser Zeit wird, zum Glauben zu gelangen. Wie ihre ganze Erziehung und Bildung in einer flachen, glaubenslosen Zeit, die Lectüre dieser, jener das Evangelium verneinenden Schriften und Tagesblätter, und so mancher popularphilosophische scheinbar gegründete Einwurf den Glauben ihnen erschweret hat, und die Gesellschaft, mit der sie täglich verkehren, die Schmach, die fast alle Wege auf den Gläubigen ruht, und der so weit verbreitete und so tief gewurzelte Wahn, als sei es ein Zeichen der Unbildung, und zieme sich für honette Leute nicht, von Jesu und seinem Evangelium zu halten, was die Kirche, denselben ihnen noch immerdar und unablässig zu erschweren fortfährt, ich weiß es. Ja um so genauer kann ich’s wissen, da ich selbst ein Kind dieser glaubenslosen Zeit bin, und alle die Hemmnisse, womit sie den Weg zum Evangelium verzäunte, aus eigenem Innewerden habe kennen lernen und überwinden müssen. Darum bin ich o wie weit davon entfernt, die Nichtglaubenden in unsren Tagen alle ohne Weiteres verdammen zu wollen; vielmehr empfinde ich nur tiefes Mitleid mit denselben, und fühle mich sehr, sehr geneigt, statt sie zu richten, zu freundlicher und traulicher Besprechung mich mit ihnen hinzusetzen, ob es durch Gottes Gnade gelingen möchte, ihnen die Steine des Anstoßes aus dem Wege zu räumen, ihnen den Weg zum Gnadenthron zu ebnen. Und wie gerne thät’ ich solches in diesem Augenblicke auch euch; denn ich muß ja vermuthen, daß es an Zweiflern der eben bezeichneten Gattung auch unter euch nicht gänzlich fehlen werde. Die Kürze der Zeit aber will es kaum gestatten; doch sei euch, wenn auch in flüchtiger Andeutung nur, das Eine und Andere zur Erwägung mit auf den Weg gegeben.

Zuvörderst bedenkt, ihr lieben Freunde, daß, wenn Gott uns Arme mit einer Offenbarung beschenkte, dieselbe, wie schon erwähnt, nothwendig Vieles enthalten mußte, was in unserer natürlichen Vernunft nicht liegt, sondern, ohne derselben zu widersprechen, hoch über deren Ideenkreis hinausgeht. Wenn sie uns der Art nichts enthüllte, wozu dann in aller Welt eine Offenbarung, da, was dieselbe uns verkündete, uns ohne sie die eigene Vernunft schon sagte? Beherziget ferner die Wahrheit des bekannten Spruches, nach welchem im Lichte Gottes erst das Licht gesehen wird. Gar Manches in der Schrift will uns als Thorheit erscheinen, bis wir vom heiligen Bedürfniß nach der Gemeinschaft Gottes getrieben der Schrift uns nahen. Dann entdecken wir sofort, wo wir vorher nur Anstoß und Wirrwarr gewahrten, die heiligste und tiefste Gottesweisheit. „Also zuerst doch“, sagt ihr, „ein vertrauensvolles Sichhingeben an das Wort der Schrift?“ Ja Brüder, so beginnt der Weg des Lichtes und des Heils. Zuerst ein aus der Noth des nach Gnade durstenden Herzens gebornes Sichhinwerfen auf das ewige Evangelium, weil jeder andere Boden unter unsren Füßen wankte; zuerst ein passives Ergriffenwerden von Jesu Christo: denn eine göttliche That macht und begründet den Anfang unseres Gnadenstandes; aber dann ist das Ergreifen an uns, und wir ergreifen Christum, und dringen tiefer und tiefer in die Hallen der ewigen Wahrheit ein, und finden nun, wie darin Alles im höchsten Sinne des Wortes so überaus vernünftig ist. Und während die Welt nun von uns sagt: „die Menschen haben aufgehört zu denken,“ haben wir erst recht zu denken angefangen, nachdenkend, nachdem uns das Vordenken nicht zum Ziele brachte. Und o welch’ eine unübersehbare Welt der tiefsten Gottesgedanken hat eben jetzt erst unserer Reflexion sich aufgethan, zumal wenn wir sie mit dem Gebiete seichter und haltloser Raisonnements vergleichen, auf dem wir uns bisher herumgetrieben. Freilich bleibt uns immer noch manch Geheimniß im Worte übrig, das wir in unserm gegenwärtigen Zustande noch nicht ganz ergründen können; aber das Gebiet des Geheimnißreichen und das des Unvernünftigen ist mit nichten eins und dasselbe, und von der unvergleichlichen Herrlichkeit alles dessen, was schon nach und nach uns aufgeht, schließen wir folgerecht auch auf die Köstlichkeit derjenigen Schätze, die uns in andern Stellen noch versiegelt bleiben. Manches freilich fassen wir hier nie ganz. Nach gewissen Seiten hin bleibt uns z.B. der Zustand des ersten Menschen vor dem Sündenfall ein Räthsel, ein Räthsel die Fallsgeschichte selbst, sowie die Vergliederung des menschlichen Geschlechts mit Adam, seinem Haupte. Aber da erinnern wir uns in vernünftiger Selbstbescheidung, daß wir gegenwärtig nur in der Eigenschaft gefallener Menschen denken können, und darum natürlich außer Stande sind, uns in Zustände vor dem Falle, als in unvordenkliche, hinein zu versetzen. Und nun erwäget ferner das höchst gewichtige Wort, das 1. Cor. 13,8 der Geist durch den Mund des Apostels ausspricht. Da wird uns gemeldet, die Liebe höre nimmer auf, während nicht allein die Weissagungen und die Zungen, sondern auch die Erkenntniß aufhören würden. Der Apostel meint die geistliche Erkenntniß, die Erkenntniß der göttlichen Wahrheiten, wie sie unter den Christen lebt; und nicht die todte meint er, nein, die lebendige Erkenntniß; behauptet aber auch von ihr, sie werde abgethan. Auffallend das, nicht wahr? Man sollte meinen, wenn irgend etwas ewig bliebe, dann sie; aber nein! sie wird vergehen. Wehe also dem, der außer ihr nichts anderes besitzt, und wäre er ein Meister in Israel. Schöpfte er die Erkenntniß aus Gottes Wort, so ist sie allerdings nicht trüglich, sondern wahr. Er kann sich fest und steif daraus verlassen. Er sieht seine Füße auf einen Fels gestellt. Nichts desto weniger steht seiner Erkenntniß eine große Umwandlung bevor: denn wir hoch und tief sie gehe, sie ist “Stückwerk.“ „Was, die der Bibel entnommene Erkenntniß Stückwerk?“ Der Geist, der die Bibel eingegeben, sagt’s ausdrücklich. Was wir wissen aus der Schrift vom Wesen Gottes, von der heil. Dreifaltigkeit, von dem Falle in Adam und mit ihm, von der Person des Gottessohnes, von dem Geheimniß seiner Menschwerdung, von seinem Versöhnungswerk, von seinem ewigen Priesterthum, und von dem Leben jenseits, für welches er die Seinen sich erkaufte, das hat Alles festen Halt und Grund, und wird als ewige Wahrheit sich erweisen, wenn die Lehrgebäude aller Weisen dieser Welt als Nebelbauten der Lüge längst in Nichts zerstoben. Aber für’s Erste wissen wir von jenen großen Sachen nicht gar viel, sondern es ward uns nur davon geoffenbaret, was uns zu unsrem Heil zu wissen dringend noth that. Zum Andern wissen wir, was wir davon wissen, nicht so, daß wir philosophisch, durch Vernunftbeweise, Andere zur Anerkennung der Wahrheit desselbigen zwingen könnten, indem nur dem heiligen Bedürfnisse und dem Glauben, nicht aber der bedürfnißlosen und hochfahrenden Speculation die göttliche Offenbarung gegeben ist. Und endlich, und dies hat der Apostel vorzugsweise bei jenem Wort im Auge, fassen wir, so lange wir hienieden wallen, die göttlichen Verhältnisse immer nur nach Menschenweise auf, und haben in unsern Lehrartikeln die ewige Wahrheit zwar; aber wir haben sie erst in menschlichen Anschauungen, Vorstellungsformen und Begriffen. Und wir sollten sie darin haben; denn sonst hätten wir sie gar nicht. Die göttlichen Wahrheiten konnten wir nur fassen, sofern sie unsern menschlichen Horizont nicht überstiegen, und irgendwie an unsre arme, irdische Begriffswelt anknüpften. Mit Absicht hat sich die unendliche Mutterliebe Gottes herabgelassen, in seinem Worte die himmlische Ideen, so weit es ohne Verletzung der Wahrheit geschehen konnte, in unsre menschlichen Begriffe gleichsam zu übertragen, und menschlich von Gegenständen mit uns zu lallen, von denen wir, hätte er göttlich davon reden wollen, nicht das Geringste würden verstanden haben. So haben wir denn in Allem, was wir unverfälscht und rein der Schrift entnahmen, durchaus Wahres; an der Form aber, in der wir’s haben, an der Art und Weise, wie wir’s uns denken, und denken dürfen, hängt nichts Falsches zwar, nichts Unwahres; die Form ist vielmehr eine beziehungsweise vollkommene, und die unsrem Bedürfniß angemessenste, die erdenkbar war; aber doch hängt viel Menschliches daran, uns so viel Kinderartiges, daß uns unsre gegenwärtige Erkenntniß, an diejenige gehalten, zu der wir einst im Stande der Verklärung gelangen werden, vorkommen wird wie einem erwachsenen Manne die Vorstellungen seiner Kinderjahre, wenn er sie von dem Standpunkte seiner gereiftern Einsicht anschaut und beurtheilt. Ich sage noch ein Mal, einen entsprechenderen, angemessenern und adäquateren Ausdruck hätte für unsere gegenwärtige Fassungskraft der Geist der Offenbarung den ewigen Ideen nicht verleihen können, als wir ihn in unserer Bibel finden; aber immer bleibt der Ausdruck ein veränderlicher, ein beweglicher, nur auf eine gewisse zeitliche Empfänglichkeitsstufe berechneter, und jenseits wird er einem ungleich vollkommenern weichen müssen. Wozu diese Betrachtung? Euch, in denen die Thätigkeit des Verstandes vorwiegt, zur Beruhigung. Dünkt dieses oder jenes aus dem Gebiete der christlichen Wahrheit euch zu räthselhaft, dünkt’s euch zu menschlich, oder zu sehr das Gepräge zeitlicher Verhältnisse an der Stirne tragend, so wisset ihr, daß ihr die Sache zwar dem Wesen nach in unverfälschtem lauterem Begriffe habt, aber doch immer in einem Gewande, das einst dem geeigneteren und durchsichtigeren Raum macht. Und Das wissen hebt über manchen Zweifel weg, und lehrt das für die Zeit Gegebene in freudiger Erwartung zukünftiger vollendeterer Erleuchtung kindlich und dankbar froh genießen.

Seht, Freunde, so führe ich gerne noch eine Weile fort, euch so mancherlei Verschläge abzutragen, die euch den Weg zum Gnadenthron versperren; aber die Zeit gebietet Eile. Darum nur Eins noch. Sprecht, dünkt euch die Zumuthung zu stark, daß ihr anerkennen sollt, wie ihr vor dem göttlichen Gesetze nicht als Unsträfliche, sondern als Sünder und als Uebertreter dasteht? In der That, ihr müßtet sehr verblendet sein, wenn ihr diese Anerkennung versagen könntet. So zeigt mir nun aber, wie Gott, der Heilige und Gerechte, ohne Willkühr und Lüge in einem andern Wege euch dennoch gerecht erklären und darnach selig machen könnte, als in demjenigen der Gnade auf Grund einer vorhergegangenen Vermittlung? Zeigt, wie er, ohne mit seinen eigenen Vollkommenheiten und mit seinem Wort in Widerspruch zu gerathen, euch, die ihr der Strafe verfallen, nicht allein könnte die Strafe erlassen, sondern gar als Unsträfliche die Krone des Lebens zuerkennen, wenn nicht vorab ein Anderer an eurer Statt die Bedingungen erfüllte, an welche er selbst unwiderruflich die Seligkeit knüpfte, ja knüpfen mußte? Nein, diese Aufgabe lös’t ihr nicht. Ihr verstummt, Geliebte, und ihr müßt verstummen. Und doch wollt ihr das Evangelium als ein unvernünftiges verwerfen, das so über alle Maaßen herrlich die höchsten Fragen des denkenden Geistes lös’t? Das Evangelium, das einen Weg zur Seligkeit entschleiert, in welchen alle Vollkommenheiten Gottes so gleichmäßig verkläret und verherrlicht werden? Das Evangelium, welchem die Millionen alle, die ernstlich je nach Gott gedürstet, einmüthig das Zeugniß geben müssen, daß es allein im Stande sei, die tiefsten Bedürfnisse des zu sich selbst gekommenen Herzens gründlich und dauernd zu befriedigen? Das Evangelium, das mit offenem Visire an die Schulen aller Weisen aller Jahrhunderte klopft, und jede Wissenschaft und jede Menschenlehre freudig in die Schranke ruft, und zu ihnen spricht: „Ich will euch weichen und euch den Schauplatz räumen, wenn ihr von den tausend Wundern, mit denen ich seit achtzehnhundert Jahren die Welt erfüllte, auch nur ein einziges, wie ich, in’s Leben zu rufen im Stande seid;“ und was irgend Erdenweisheit, was menschliche Wissenschaft heißt, das muß verstummen vor solcher Herausforderung und sich zurückeziehn. Und dieses Evangelium wolltet ihr nichts desto weniger, statt es mit Halleluja zu begrüßen, vornehin und geringschätzig zur Seite weisen? In der That, wenn irgend Etwas vernünftigen Leuten übel anstehen würde, und für ein unzweideutiges Zeichen von Gedankenlosigkeit, Unbildung und Flachheit gelten müßte, so würde es solch Verfahren sein. Aber nein, nicht wahr, so werdet ihr nicht verfahren? Nicht wahr, eure Zweifel beginnen vielmehr zu wanken, und der Aufruf des Apostels Raum bei euch zu finden: “Lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit“, buchstäblich mit „Parrhesie“, das ist, innerlich ungehemmt, frei, mit vollem zweifellosen Glauben und Vertrauen, und festen sichern Tritts, “zum Gnadenthron!“

III.

Aber wozu? Hört den Apostel. “Auf daß wir Barmherzigkeit empfahen,“ spricht er, “und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns Hülfe noth sein wird.“ Diese Zeit dringendster Hülfsbedürftigkeit wird, wie heiter uns auch heute der Tag noch scheine, uns Allen kommen. Einst sinkt unser Gestirn, es neigt sich unser Tag, und der Abend fällt daher. Der Apostel setzt es als unausbleiblich voraus, und frühe genug wird sein Wort in unserer gemeinsamen Erfahrung seine Besiegelung finden. Ich weiß es nicht, was eure Zukunft für euch im Schooße birgt; liegt sie vor euren eigenen Blicken in tiefer Verhüllung, wie vielmehr vor den meinen. Nichts destoweniger schimmert, so dünkt mich, durch ihren Schleier so manches durch: für die Einen Dies, für Andere Jenes, und gar Vieles und Vielerlei für Alle sammt und sonders. Was sehe ich? Ganze Reichen von Schmerzenslagern zuerst und Krankenbetten, thränennaß und von weinenden Angesichtern umringt. In welchen Hütten werden sie, ehe wir es uns versehen, in das Gebiet der Wirklichkeit hinübertreten? Trümmerhaufen vereitelter Hoffnungen, mißglückter Pläne, gescheiterter Unternehmungen stellen mir sich dar. Welchen unter uns mag es aufbehalten sein, heute oder morgen über ihnen wehklagend die Hände zu ringen? Berge gewahre ich von welkem, rauschendem Laube, mit dem die Winde spielen, und muß besorgen, es spiegle in diesem öden Gesichte sich nur die nahe Zukunft der Freuden- und Ehrenkränze, die heute noch grün und blühend um deine und um deine Stirn sich winden. Ich erblicke, o was weiter? Hier einen Spaten, verhängnißvoll und riesig, der Verhältnisse des Wohlstandes unter die Erde gräbt und Reiche arm macht; - wo wird er ansetzen? Dort einen Bogen, gespannt um statt der Pfeile Nahrungssorgen zu schießen und häusliche Nöthen; wohin mag er zielen? Eine Sense da, die Wünsche wegmäht, wie Gras, und Erwartungen zu Heu macht; - auf wessen Felde wird sie klingen? Und dort ein blitzend und zweischneidig Schwert, das Bande der Liebe trennt, Ehen zerschneidet, Freundschaften lös’t; - wo wird es hauen? Und Särge schimmern durch den Schleier durch, und Särglein, schwarz, und von vielen, vielen Thränen feucht, von Vaterthränen und von Mutterthränen, von Thränen armer Wittwen und verlaßner Waislein, und drauf geschrieben auf den düsteren Schreinen steht hier: „Mein Ein und Alles ruht in diesen Brettern!“ und da: „O hätt’ ich mit dir sterben können, mein halbes Leben!“ und dort: „Nun ist mir die ganze Welt ein ödes Grab!“ und ach! die Klagen sprengen die unbarmherzigen Särge nicht, und der Ruf der Verzweiflung ist kein Auferweckungsruf, kein Ruf des Lebens! Ach, wann werden diese Scenen unter uns ins Leben treten? O viel eher, lieben Brüder, als es Manche denken. Und verzöge auch das Eine oder Andre; seid versichert, die Zeit, da uns wird Hülfe noth sein, bleibt nicht aus. Es schlägt uns Allen einmal die Stunde, da es uns nicht so schwer mehr werden wird, jenem prophetischen Worte Glauben zu schenken, daß „Alles Fleisch sei wie Heu, und alle Herrlichkeit des Menschen wir des Grases Blume;“ denn siehe! in unserm eigenen Garten ist das Gras verdorrt, die Blume abgefallen. Farblos, entblättert und bedeckt mit der Asche ach! der schönsten Freudenkränze unseres Daseins liegt die Flur unseres Lebens öde ums uns her, und Ein Klang nur, ach! ein Todtenglockenklang, schwebt eintönig noch hindurch: das Salomonische „Alles ist eitel!“ dumpf und traurig wiederhallend. Und zuletzt – o was zuletzt? Da fällt ein Beil, da zuckt ein Messer nieder, und euer Haupt ist beider Ziel. Ihr kennt noch eure wahre Lage nicht, Geliebte. Ihr seid zum Tode verurtheilt, ihr seid es alle. Der Stab ist über euch gebrochen. Vielleicht schon morgen vollzieht sich der schauerliche Spruch. Dann müßt ihr von hinnen; ob gern ihr geht, ob ungern, ihr müßt, und euer Sträuben ist vergeblich: denn eure Stunde schlug, die Ladung vor den Richterstuhl ward erlassen, und die Bücher eures Lebens liegen aufgeschlagen. Ihr zieht ab, um aus dem Munde der allerheiligsten Majestät, als der höchsten und letzten Instanz, die Entscheidung über euer ewiges Loos zu vernehmen; und bei dieser Schlußsentenz behält es sein Bewenden.

Nicht wahr? ihr ahndet jetzt, was dem Apostel bei der Zeit, „da uns Hülfe noth sein werde“ vor Augen schwebt. Was aber hat’s, wie düster sie sich ansehn, mit allen jenen Erlebnissen und Ständen auf sich, wenn man darunter des lebendigen Gottes als eines Vaters sich getrösten, aus den Stürmen der Welt mit einem „Abba!“ an seine Brust sich werfen, an seinem Herzen sich ausweinen, und traulich sein Haupt in seinem Schooß zur Ruhe legen kann, und von dem Fittich seiner Liebe sich überbreitet, in seine Hände sich gezeichnet, und in die Zahl seiner Hausgenossen und Kinder sich aufgenommen weiß. O wie viel tausend Mal sah man, die solch’ Bewußtsein in die Noth des Lebens begleitete, auf den Dornen ihrer Schmerzenslager liegen, als lägen sie auf seidenen Pfühlen; und sah sie, bei’m Sinken des letzten Sterns ihres zeitlichen Hoffens, selbst erst aufleuchten wie Sterne in der Nacht, nur Frieden Gottes strahlend und Himmelsfreude, und hoch über den Trümmern alles dessen, was ihr irdisches Glück einst hieß, die Flügel des Glaubens schlagen, als wären sie erst jetzt recht frei, recht selig worden; und hörte sie, vom Tode schon erfaßt, siegreich frohlocken: „Ich weiß, an wen ich glaube, und bin gewiß, daß er mir meine Beilagen bewahren wird bis an jenen Tag.“ Woher sie dazu die Rüstung nahmen und die Kraft? Sie hatten, bevor die Wetter über sie hereingebrochen, Barmherzigkeit erlangt und Gnade gefunden. Da habt ihr des Räthsels Lösung. O so streckt auch ihr mit der ganzen Inbrunst eines zerschlagenen Herzens nach diesen Gütern euch aus; denn ohne sie von der Zeit überfallen werden, da Hülfe noth thut, ist entsetzlich und ein großer Jammer. Wisset aber, nur in Christo wird man des lebendigen Gottes als des seinigen sich bewußt; außer Ihm, in dem der Ewige uns faßlich und in Gnaden nahe trat, hat man keinen Gott, geschweige denn Vater. Nur in Christo verstehen und erfassen wir Gottes Herz; fern von Ihm, dem großen Mittler, bleibt uns statt Gottes ein todter Gedanke nur, ein leerer Name. Nur in Christo neigt uns der Allmächtige sein Friedenszepter zu; in der Abgeschiedenheit von Ihm, der uns priesterlich vertritt, bleiben wir Knechte, die ihr Lebenlang in Furcht des Todes ihre Straße ziehen. Nur in Christo erschließt sich uns die himmlische Welt, über deren Bildern das Verwelken der Erdenkränze zu verschmerzen o, so leicht ist; außer seiner, des Himmelsfürsten, beseligender Gemeinschaft bleiben wir an der Scholle gekettet, und mit dem luftigen Bau unserer zeitlichen Herrlichkeit stürzt unser Himmel ein, um ach! hinfort der Hölle für ihre Ansprüche auf unser Leben Raum zu machen. Weil dem aber also ist, so rufe ich noch einmal, theure Freunde, hinein in eure Mitte so zärtlich, wie die innigste Liebe es nur rufen kann, so bittend, wie einem Botschafter an Christ Statt es ziemt, so allgemein und freudig, wie es durch den großen Hohenpriester geöffnete Bahn gestattet, so dringend, wie es der sehnliche Wunsch erheischt, der mein ganzes Herz erfüllt, der Wunsch, wir möchten uns heute nicht zum letzten Male so vor dem Herrn vereint gesehen haben, sondern einst in jenem schönern Tempel, wo das ewige Hallelujah dem erwürgten Lamm gesungen wird, uns alle, alle wiederum zusammen finden; - so, sag’ ich, ruf’ ich noch ein Mal, und ach, daß der Herr den Ruf mit seinem lebendig machenden Odem begleiten, und mit glücklichstem Erfolge krönen wollte: „Lasset uns hinzugehen mit Freudigkeit zum Gnadenthron, auf daß wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden auf die Zeit, wenn uns wird Hülfe noth sein!“ Amen.

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