Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Stichworte des Abfalls.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Die Stichworte des Abfalls.

Predigt über Lucas 19,22. gehalten den 8. Februar 1852.

Lucas 19,22.
Aus deinem Munde richte ich dich, du Schalk.

War wir nur ungern uns gestatten, Geliebte, geschehe heute einmal. Wir entheben ein Schriftwort seinem geschichtlichen Zusammenhange, und geben ihm eine weitere und allgemeinere Anwendung, als die von dem Redenden zunächst gewollte.

Tagtäglich beut sich uns ein seltsames Schauspiel dar. Es giebt eine Welt, die es uns nicht verzeihen kann, daß wir sie einer Art neuen Sündenfalles schuldigen, und ihr aufbürden wollen, vom Wege der Wahrheit gewichen und dem Vater der Lügen in’s Netz gerathen zu sein. Allerdings ist diese Anklage eine harte, und schließt nichts Geringeres, als die Behauptung in sich, daß sie, die Angeschuldigten, nicht selig werden könnten: denn was nicht aus der Wahrheit ist, geht verloren. Sie fordern unwirsch Beweis für unsre Aussage, indem sie uns nicht selten einen Paradeaufzug von Wohlanständigkeit und guten Werken und Sitten vorzukehren haben, der uns fast in Verlegenheit setzt, und es uns wenigstens schwer macht, aus ihren Thaten sie zu richten. Ehe wir’s uns jedoch versehn, kommen sie uns wieder selbst zu Hülfe, und verrathen sich um so unzweideutiger durch ihre Reden. Wie oft werden wir, zumal in den Kreisen der sogenannten Gebildeten und Gesitteten, an unser Texteswort erinnert: “Aus deinem Munde richte ich dich, du Schalk!“ Und selten nur geschieht’s, daß das Gericht, aus eines Menschen Munde über ihn gehalten, nicht zugleich den ganzen Menschen trifft; da ja der Mund der Dolmetscher des Herzens ist, und von dem übergeht, wovon dieses voll ist.

Irrlichtern gleich, die zwar als freundliche Sterne und traute Heimathlichter sich gebährden, in denen jedoch der Kundige bald nur die warnenden Zeichen eines nahen Moors, eines vielleicht bodenlosen Sumpfs erkennt, durchweben fünf Worte und Ausdrucksformen die moderne Sprache und Gesellschaft, und beurkunden mehr als zur Genüge die religiöse Verderbniß und Zerrüttung der letzteren. Laßt uns diese fünf Irrwische, die obenhin betrachtet, so unschuldig sich ansehn, heute einmal vor uns zum Stehen bringen, und ihre innere Bedeutung wägen. Ich enthalte mich, diese Stich- und Losungsworte im Voraus namhaft zu machen. Mögen sie eins nach dem andern vor uns auftauchen und ihre Würdigung finden! Nur das laßt mich schon jetzt bemerken, daß sie ziemlich umfassend die ganze erbärmliche Theologie des leider! größten Theils unserer Zeitgenossen uns beleuchten, und namentlich deren Anschauungen von Gott, von der Sünde, vom Heilsweg, von des Menschen sittlicher Aufgabe in dieser Welt, und vom Tode und Jenseits uns verrathen werden.

„Richtet ein recht Gericht!“ Auch so heißt der Mahnworte eins, die aus dem Munde des göttlichen Meisters an uns ergehn. Laßt uns dieser Aufforderung heute entsprechen. Richte nur Er selber mit uns und durch uns; jedoch zu Leide nicht, sondern zu Heil und Frieden!

1.

Es schreitet durch die heutige Welt, freilich über die Lippen der Leute nur, eine sonderbare Macht. Als Macht erscheint sie vermöge der ihr beigelegten Titel und Attribute; in Wahrheit aber ist sie nur ein leerer, nichtiger Schatte. Jedermann nennt sie; aber Niemand verbindet mit ihrem Namen einen klaren Begriff. Allaugenblicklich wird sie angerufen, aber Keinem fällt es ein, ihr ernstlich zu vertrauen. Wollt ihr sie kennen lernen, so gehet, und äußert irgendwo einen Segenswunsch. Sagt etwa: „Möge dir’s immer so wohl ergehn, wie heute;“ oder: „Daß dir das Unternehmen, an welches du die Hand gelegt, gelingen möge;“ und hundertmal werdet ihr, ehe einmal eine andre Antwort euch antönt, in bester Meinung erwiedern hören: „Der Himmel gebe es!“ Seht, da habt ihr die unbekannte Größe, oder, daß wir im Bilde bleiben, den ersten über dem religiösen Moorgrunde unsrer Tage tanzenden Irrwisch. Der “Himmel“ ist das seltsame Lieblingskind namentlich unsrer gebildeten Zirkel; der “Himmel“ ihr Idol, mit welchem sie freilich nur tändeln und spielen. „Der “Himmel“ erhalte, segne, geleite dich!“ Wie oft verlauten diese Phrasen um uns her. Nach den Göttern Griechenlands schmeckt jenes Wort, an den Olymp erinnert’s, ohne jedoch auch nur halb so viel Gehalt in sich zu bergen, als selbst die Bezeichnungen der Heiden für ihre überirdischen Mächte und deren Trabanten. Ich will nicht behaupten, daß nicht hin und wieder einmal Einer auch sein dürftiges und nichtssagendes “der Himmel“ mit einer gewissen vorchristlichen Ahnung von einer höhern Welt, und darum denn auch mit einem entfernten Anfluge frommer Empfindung ausspricht; aber immer liegt dem sinnlosen Ausdrucke ein mehr oder minder bewußtes Zugeständniß an eine moderne Aufklärung zum Grunde, welche, wie keck sie auch gegen solche Anklage protestire, in ihrem innersten Wesen atheistisch ist.

Der Christ kennt eine Gottheit, die “Himmel“ hieße, nicht. Wie ekelt dieser Name für ein pures Nichts ihn an! Wie widerwärtig ist ihm dieses Schönpflaster auf dem häßlichen Angesicht der Gottesleugnung! Der Christ glaubt einen lebendigen und persönlichen Gott und Herrn: den allwaltenden Schöpfer, Gebieter, Gesetzgeber und Richter aller Welt, der nach wohl vorbedachtem Rath und Plan das Universum regiert, und über jedes Einzelwesen ununterbrochen Kontrolle führt und Buch hält. Einen Gott glaubt er, der allgegenwärtig und überall wirksam in seinem Worte offenbar, und in allen seinen Wegen heilig ist; einen Herz und Nieren prüfenden, nach Recht und Gerechtigkeit vergeltenden, aber ebensowohl Gnade spendenden, Gebet erhörenden, Thränen zählenden und Thränen trocknenden Gott. Einen solchen glaubt der Christ; und wie er ihn glaubt, so nennt er ihn: Jehova, Herr, Gott; und rechnet sich’s zur Ehre, seinen Namen nennen und bekennen zu dürfen. Merk’s, du, der du mit deinem “der Himmel“ an diesem Namen vorüberhuschest, und auch dann selbst, wenn du einen Schritt weiter gehst, und bis zu dem Namen “Vorsehung“ dich versteigst, hinter dieser Bezeichnung nur deinen Unglauben versteckst und dem Bekenntniß des lebendigen Gottes geflissentlich ausweichst! Aus deinem Munde richten wir dich, du Schalk! Du glaubst nicht, du bist kein Christ. In deinem innersten Bewußtsein ist der Thron des persönlichen Gottes umgestürzt, sein Scepter zerschellt, sein Auge erloschen, sein Arm erlahmt. Erhebe Einspruch dawider, so laut du willst: du bist, ob embryonisch erst, oder schon entwickelt, - ein Atheist. Denn wäre dir der persönliche Gott noch eine Wahrheit, wie kämest du zu der abgeschmackten Redensart: “der Himmel“? Ich weiß es, die Mode legte dieselbe dir auf die Lippe; aber das Lügenkind “Mode“ hat tiefer bei dir gegriffen, als in deinen Mund, und nicht von deiner Lippe nur, sondern auch aus deinem innersten Bewußtseinsgrunde den Namen des lebendigen Gottes weggeätzt. Tausenden widerfuhr, was dir. In dem größten Theile aller Schichten der heutigen Gesellschaft, der sogenannten „höheren“ zumeist, ist der Gott aller Götter entthront, und der blaue Dunst “Himmel“, oder zur Abwechselung auch wohl einmal “Schicksal“ und “Natur“ genannt, an seine Stelle gesetzt. Dieser weitgreifende Abfall von dem Glauben an den persönlichen Gott ist der Grundschaden unsrer Zeit. Dieser Unglaube hat den Abgrund entsiegelt, aus welchem mit hohen Wogen die Verderbensströme quillen, die Niemand mehr zu hemmen noch zu dämmen weiß. Es wird sich der Allerhöchste die Ehre seines Namens gewaltsam wiedernehmen müssen. Es werden Gerichte kommen, wie sie die Welt noch nicht gesehn hat. Dann mögt ihr zusehn, ihr Kinder dieses Aeons, wie euer Nebelbild “Himmel“ euch decke, und vor der Verzweiflung schirme. Wir zittern für euch und eure Zukunft. Mit euerm “Himmel“ werdet ihr zur Hölle fahren!

2.

Der Name “Himmel“ für Gott ist das erste Symptom des religiösen Verfalls unsres Geschlechts. Ich nenne ein zweites. Wieder ist’s ein scheinbar unschuldiges Wort; aber genau besehn nicht weniger, als jenes, ein unzweideutiges Merkmal der bedenklichen Entleerung von den wesentlichsten Anschauungen und Begriffen des Christenthums, woran dieses unglückselige Jahrhundert leidet. Tretet in welche Gesellschaft neusten Schlages ihr wollt, und horcht euch darin um, wenn eben von Vergehungen die Rede ist. Ein Wort werdet ihr da immer wieder verlauten hören, während ihr nach einem andern wahrscheinlich lange vergebens lauschen müßt. Von “Fehlern“ wird die Rede sein. Fehler, eigne wie fremde, gesteht man zu. Nach dem Wort “Sünde“ werdet ihr umsonst die Ohren spitzen. dieser Ausdruck ist in den Wörterbüchern der modernen Bildung gelöscht, und in der Unterhaltung mit dem Bann belegt. Sehr begreiflich dies. Das Wort “Fehler“ bezeichnet etwas Geringfügiges, nur der Oberfläche Anklebendes, und mit leichter Mühe aus eigner Kraft zu Entfernendes und Auszugleichendes: einen Rostfleck an einem übrigens schönen Bilde; einen Auswuchs an einem sonst edlen Baum. Der Ausdruck “Sünde“ dagegen greift zu tief, nimmt die Sache zu scher, und erinnert an Gericht, Vergeltung, Strafe und Nothwendigkeit der Sühne, wovon man nicht hören mag. Das Christenthum weiß nur von Sünde. Keine, auch nicht die geringste, Verletzung des göttlichen Willens, wiegt leicht in seiner Wage. Jede Uebertretung eines göttlichen Gebots gilt dem Christenthum als Attentat gegen die allerhöchste Majestät. Jegliches Vergehen stellt sich nach seinem Ermessen scheidend zwischen Gott und den Uebertreter in die Mitte, und fordert für letztern den Fluch. Ja, so hoch schlägt das Christenthum den unbedeutendsten unsrer sogenannten Fehler an, daß es, absehend vom Opferblut des Lamms, das Urtheil einer ewigen Verdammniß darüber ausspricht. Wie gewaltig bezeugt Gott der Herr selbst es unter dem alten Bunde, sowohl in dem ganzen Opferritus und in den Vorbildern der levitischen Waschungen und Blutbesprengungen, als auch in den schreckensvollen Strafverhängnissen, womit er selbst die scheinbar unbedeutendsten Vergehen bedroht und heimsucht, daß jede sittliche Verirrung Sünde, d.h. ein Etwas sei, welches gesühnt werden, und für das Genugthuung geschehen müsse, wenn es uns nicht zur Hölle verdammen und ewig verderben solle. Was aber kümmert die seichte, windige und frivole Welt unsrer Tage solch Gotteszeugniß? In die Gerümpelkammer schleudert sie’s, und verharrt bei ihrem Worte “Fehler“, und bei dem federleichten Begriffe, den sie mit ihm verbindet. Aus diesem Grunde geschieht’s denn auch, daß sie das ganze Werk der Erlösung nicht versteht, von dem, was Buße heißt, nichts inne wird, von Christo und seinem Gnadenthrone ferne bleibt, und die sogenannte „Bluttheologie“ mit ihrem Spott und Hohn begeifern kann. Fehler sind ja so gefährlich nicht, daß es ihrethalben der Vermittelung und Versöhnung bedürfte. – In der That ist dem Vater der Lügen durch die Umsetzung des Wortes und Begriffs “Sünde“ in den Fehler-Namen und Begriff nichts Geringes gelungen, und wohl mag er mit Behagen sich die Hände reichen, so oft er das luftige Wörtlein „Fehler“ verlauten hört. Die Ausdrücke “Himmel“ für “Gott“, und “Fehler“ für “Sünde“ sind die Schellenklänge, die ihm mit ziemlicher Sicherheit die Nähe seiner Heerde verrathen; oder sie bezeichnen ihm wenigstens das Revier, in welchem er wohlfeilsten Kaufes Beute machen könne.

3.

Als ein drittes die Auflockerung und Verrottung des christlichen Bewußtseins unsrer Zeitgenossen bezeichnendes Irrlicht durchzieht die Sprache und Gesellschaft unsrer Tage das Wort “Besserung“ für Bekehrung und Erneuerung. Es verräth dasselbe einen Begriff, welcher der Vorstellung, die man mit dem Ausdruck “Fehler“ verbindet, vollkommen entsprechend ist. Handelt sich’s von weiter nichts, als “Fehlern,“ so bedarf es freilich nur der “Besserung“. Tausendmal vernehmt ihr die Aeußerung: „Bessern muß sich dieser, jener Mensch,“ oder: „Ich gelobe, mich zu bessern,“ ehe einmal das Wort “Bekehrung“ an euer Ohr schlägt. Das letztere Wort scheint in der „guten Gesellschaft“ geächtet. Was Wunder? Es greift ja wieder viel zu tief, und zeigt eine all’ zu ernste Miene. Erhebt es doch die Anklage wider den Menschen, daß er auf ganz verkehrter Straße sich befinde, wo ihm nichts Anderes übrig sei, als vollständig Kehrt zu machen. Deutet es doch auf einen Zustand vollendeter Gottentfremdung, dem er sich zu entwinden habe; und spricht es doch die Nothwendigkeit einer sittlich religiösen Radikalreform, einer schöpferischen Umgestaltung des innersten Wesensgrundes aus: Ideen, die für den alten Menschen wenig Ansprechendes haben. Wie viel gefälliger tönt dagegen das Wort “Besserung“ oder “Veredlung.“ Dieser Ausdruck kommt seiner Bedeutung nach dem Worte “Abstäubung“ gleich, und läßt noch der Vorstellung Raum, daß das zu vervollkommnende Subjekt an und für sich nicht so gar übel sei. Das Grundwesen der menschlichen Natur bleibt bei diesem Ausdrucke unangetastet, und es wird durch ihn nichts Erheblicheres gefordert, als Säuberung der an sich guten Substanz von einzelnen Unebenheiten und Flecken. “Besserung,“ „Veredlung“ heißen die moralischen Stich- und Lieblingsworte der Kinder dieser Zeit. Wir richten sie aus ihrem Munde als Solche, die aus der Sphäre des Christenthums völlig heraus sind. Denn das Christenthum weiß von einer nur theilweiser Ausbesserungen bedürftigen Menschennatur nichts, sondern erklärt Alles, was vom Fleisch geboren ist, für Fleisch. Jeden natürlichen Menschen bezeichnet’s ohne Umschweif als einen „von dem Leben, das aus Gott ist,“ Entfremdeten. Es nennt ihn „in Uebertretung und Sünden todt,“ ja „ein Kind des Zornes von Natur,“ weil es ihm, dem von der Selbstsucht durch und durch vergifteten, schon an der wesentlichsten Grundbedingung aller Heiligung, an der Liebe zu Gott gebreche. Auch den veredeltsten Zweigen am Stamme des ersten Adams hat das Christenthum keine andere Aussicht zu eröffnen, als diejenige eines endlichen abgehauen und in’s Feuer geworfen Werdens; und als erste und unerläßliche Anforderung für Alle, welche selig werden wollen, trägt es in seinem Schilde den Spruch des Königs der Wahrheit: “Es sei denn, daß Jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Bekehrung, Wiedergeburt, prinzipielle Umgestaltung des innersten Lebensgrundes heißt die Bedingung, an welche das Christenthum die Aufnahme in den Himmel knüpft; was die heutige Welt dagegen “Besserung“ und “Veredlung“ nennt, erblickt’s nur mit unter den Treppenstufe, freilich den mit bunten Teppichen bekleideten, über welche Millionen in die ewigen Wüsten hinuntersteigen.

4.

„Aus deinem Munde richte ich dich, du Schalk.“ Ich höre dich, du Zögling dieses Aeons, wie nur vom „Himmel,“ „Fehler“ und „Besserung,“ so stets nur von “Sittlichkeit“ statt von “Gottseligkeit“ reden. Hiermit verräthst du deine Anschauung von der dem Menschen verordneten moralischen Aufgabe, oder von seinem höheren Berufe; und zwar eine Anschauung wieder, in der sich auf’s neue in unverkennbarster Weise deine Entfernung von dem wesentlichsten Inhalte des Christenthums kund giebt. Dir und unzähligen deiner Zeitgenossen scheint das Ziel der höchsten Menschenbestimmung darin erreicht, daß man einem abstrakten Sittengesetze entsprechend, nur vor den Menschen unsträflich erfunden werde. Der allmächtige Gott ist andrer Meinung, und spricht: “Wandle vor mir, und sei fromm!“ Daß der Mensch sich mit Leib und Seele Ihm ergebe, in Seinen Weisungen die einzige Richtschnur seines Verhaltens suche, ununterbrochen in dem lebendigen Bewußtsein der unbedingtesten Abhängigkeit von Ihm verharre; was er vornimmt, nur als vor Seinen Augen vollziehe; bei Allem und zu Allem allein von der Liebe zu Ihm sich treiben, bewegen und regieren lasse; überall die Frage an Ihn auf seiner Lippe trage: „Was willst Du, daß ich thun soll?“ und einzig Seine Ehre suchend, nimmer zufrieden sei, er wisse denn, daß Gott zufrieden sei mit ihm; - sehet, darein setzt das Christenthum des Menschen Beruf. Gottseligkeit fordert es; es dringt auf Heiligung des Herzens und des Geistes in der Liebe Gottes. Die glänzendste Sittlichkeit, wenn sie abgelöst ist vom Leben des Glaubens, getrennt vom stetigen Liebesverkehr mit Gott, und entblößt vom Hauch und Schmelz der Gottinnigkeit und himmlischen Gesinnung, gilt ihm nur einer Schminke gleich auf den verzerrten Züge einer mißgebürtlichen Erscheinung. Die moderne Welt dagegen stempelt dasjenige, was allein Werth hat in Gottes Augen, zur „Schwärmerei“, zum „Mysticismus“, und wozu sonst; und preist dafür eine von jeder Gemeinschaft mit Gott und seinem Gesalbten abgerissene, ja mit dem Freibrief, glauben und leugnen zu dürfen, was ihr beliebe, versehene Ehrbarkeit und Legalität, als den Höhepunkt, aller sittlichen Herrlichkeit. Wißt ihr, was eine solche außer Gott auf ihrer eignen Wurzel grünenden und des Glaubens und der göttlichen Liebe baare Tugend an dem Maaßstabe des Christenthums gemessen ist? Ein schimmerndes Todtenkleid für den Gang zum Hochgericht; eine Blumenguirlande um den Hals eines zur Schlachtbank wandelnden Opferthieres. Nichtsdestoweniger tönt in der Welt die Losung fort: „Sittlichkeit! – Pflichterfüllung! – Was liebt am Glauben?!“ Die Leute aber mit diesem Modegeschrei auf ihrer Lippe bezeichnen nur das Maaß, in welchem unser verblendetes Jahrhundert vom Christenthume abgewichen ist, und läuten, ohne es zu ahnen, mit jener gassenläufigen Moralparole sich selber nur die Armesünderglocke; denn nur Gottseligkeit macht selig.

5.

Doch wem macht das Seligwerden noch irgend Sorge? Um Alles ist man eher bekümmert, als um das. Zum Seligwerden gehört ja nicht eben viel. Es muß sich von selbst verstehen, daß man einst selig werde. Nicht wahr, so denkt ihr, ihr Kinder dieser Zeit? Oder deucht euch die Beschuldigung, die ich wider euch erhebe, ungerecht? Wisset, aus eurem Munde richte ich euch an in diesem Punkte. Sagt mir, wie pflegt ihr jeden mit dem Tode Abgegangenen zu nennen? Ihr nennt ihn den „seligen“, ohne auch nur von ferne daran zu denken, daß in unzähligen Fällen ihr nur berechtigt wäret, von einem “Abgerufenen“ oder einem “Verewigten“ zu reden. Das Wörtlein “selig“ ist euch so geläufig geworden, daß ihr’s von dem Namen keines Todten mehr trennen könnt. Freilich denkt ihr bei dem Worte nicht eben viel; aber die Gedankenlosigkeit, mit der ihr es aussprecht, zeugt schon wider euch. Nimmer wäre die gangbare Bezeichnung „der selige“ für jeden Verstorbenen aufgekommen, wäre nicht eine schwere Verdunkelung des christlichen Bewußtseins vorhergegangen. Die Heilige Schrift ist mit dem Namen “selig“ so verschwenderisch nicht. “Selige“ nennt sie nur „die Todten, die in dem Herrn starben“, während die Sprache der modernen Welt diese Benennung auf alle Verstorbenen ausdehnt. Würde sie das Wort der „selige“, die „selige“ so leicht, wie gegenwärtig, über die Lippen bringen, wenn ihr die Weltordnung der göttlichen Gerechtigkeit, und das jenseitige Gericht, und des Herrn Wort: „Wer nicht glaubt, der wird verdammet werden“, und sein Bezeugen von dem schmalen Wege, der zum Leben führe, und nur von Wenigen gefunden werde, noch eine Wahrheit wäre? O sicher ginge sie sparsamer dann mit dem Wörtlein “selig“ um, während sie es jetzt als die wohlfeilste aller Waaren mit vollen Händen ausstreut. Welch’ ein Geschrei der Befremdung und des Unwillens pflegt sich zu erheben, wenn wir Prediger einmal mit einer Grabrede auch nur einen Schatten von Ungewißheit blicken lassen, ob auch der zu Bestattende die Krone des Lebens davon getragen habe. Allerdings steht es uns nimmer zu, als die Todtenrichter uns zu gebehrden. Wir haben das letzte entscheidende Urtheil über jeden Abberufenen allezeit Gott, dem Allwissenden, anheim zu geben. Nichtsdestoweniger drängt uns zuweilen das Herz, die zweifellose Zuversicht auszusprechen, daß die abgeschiedene Seele jetzt bei dem Herrn sei, und am Throne Gottes jauchze. Was wir aber in dem einen Falle müssen, vermögen wir nicht in jedem anderen. Dennoch wird von uns gefordert, daß wir überall ein Gleiches thun. Der heutigen Welt, wenn sie überhaupt noch ein Jenseits glaubt, ist alles Todte selig, und es würde mich kaum befremden, wenn ich sie gar von dem „seligen Judas“, dem „seligen Kain“, dem „seligen Herodes“ reden hörte. Wo bleibt da das Christenthum? Es ist seinem wesentlichsten Lehrgehalte nach verleugnet und beseitigt. Sein “Richterstuhl“ auf der Schwelle der Ewigkeit ist abgebrochen; seine “enge Himmelspforte“ zum unermeßlich weiten Portale für Crethi und Plethi ausgedehnt; seine Heilsordnung für null und nichtig erklärt, und seine Aussagen von dem Unterschiede zwischen Gerechten und Ungerechten, von der Verschiedenheit ihrer jenseitigen Loose, von den zwei Räumen der Ewigkeit, dem Paradiese und der Hölle, und von der Nothwendigkeit der Versöhnung, der Wiedergeburt und der Heiligung durch Gottes Geist, erscheinen zu bedeutungslosen Phrasen, ja zu offenbaren Lügen gestempelt. So ist denn auch das an sich so süße Wörtlein: “selig“, wie es mit Anwendung auf die Todten gegenwärtig bei der Welt im Brauche ist, keinesweges so unschuldig und arglos, wie es auf den ersten Blick sich ausnimmt. Es tanzt ebenfalls als ein Irrwisch und Phosphorflämmlein über einem Pfuhl, und deutet auf eine Zersetzung und Verrottung aller christlichen Anschauungen und Begriffe.

Im Hohenliede ergeht einmal an uns der Zuruf: “Fanget uns die Füchse, die kleinen Füchse, welche uns die Weinberge verderben.“ Solche den Weinberg Gottes gefährdende kleine Verwüster sind auch die eben von uns beleuchteten fünf Worte. Doch nicht sowohl diese selbst, als vielmehr die Begriffe, welche sie in sich bergen und weiter tragen. Die Redeweisen selbst: der “Himmel“ für Gott, „Fehler“ für “Besserung“ für Bekehrung, “Sittlichkeit“ für Gottseligkeit und Heiligung und das unterschiedslos gebrauchte: der oder die “selige“, sind „Füchse“, die schon in dem verwüsteten Weinberg Wohnung machten, und von dessen Verwilderung thatsächliches Zeugniß geben. Die Vorstellungen aber, die sie propagiren und in die Gemüther säen, sind das verheerende Wild, auf das wir Jagd zu machen haben. Wir sind der Aufforderung des Hohenliedes nachgekommen, und haben die unscheinbaren Verheerer eingefangen und an’s Licht gezogen. Könnten wir sie nur auch abthun und vernichten! Aber das stehet nicht in unserer Macht. Einer aber ist auch hiezu tüchtig. Es ist derselbe, zu welchem man einst nach Mark. 7. mit der Bitte, daß er ihm die Hand auflege und ihn heile, einen Tauben brachte, der zugleich nicht zwar stumm war, aber schwer und unrichtig redete. Wie verfuhr nun mit dem der Herr? Er nahm, so lesen wir, den Unglücklichen „von dem Volk besonders“, legte ihm die mit dem Balsam seiner Lippen befeuchteten Finger in’s Ohr und auf die Zunge, und sprach, aufschauend gen Himmel: “Hephata!“ d.i. thue dich auf! Und „alsobald“ meldet die Geschichte, „waren des Tauben Ohren aufgethan“ und in demselben Augenblicke „lösete sich auch das Band seiner Zunge und“ – hört wohl! – „der Geheilte redete recht“. Das Volk aber stand verwundert und rief wie mit einer Stimme! Er hat Alles wohl gemacht! die Tauben macht er hören und die Sprachlosen reden!“ – Und wisset, Brüder, so thut er auch heute noch, und thut’s auch geistlicher Weise, wo es noth ist. Ja, die leiblichen Heilungswunder sollten zugleich Bilder und Weissagungen von den innern und geistlichen sein, durch welche er sich fort und fort verherrlichen werde. So mache auch Du es denn, wie jener Hülfsbedürftige dort. Gestatte auch du zunächst dem unvergleichlichen Arzte, daß er dich “von dem Volk besonders nehme“. In dem verflachenden Getümmel der Welt und dem betäubenden Gewirre und Geschwirre des eitlen Genuß- und Zerstreuungslebens, wird dir so wenig Genesung blühen, daß deine Schäden darin nur immer tiefer wurzeln werden. Gehe in die Stille, sammle aus den vier Winden deine zerfahrenen Gedanken, rufe die verschmachtenden Vöglein deiner edlern Herzensbedürfnisse zu Hauf, und mit ihnen in Gottes Wort dich versenkend, bete, bete, daß der gute Hirt und Arzt auch dir die Hand auflege. Und gieb Acht, wie es nicht gar zu lange währen wird, und er ruft auch über dich sein “Hephata“; und wie damals und immer, so öffnet sich auch dir, dem mit Maria zu seinen Füßen sitzenden, zuerst das Ohr. Du vernimmst seine Stimme in der seinigen aber zugleich die Stimme Gottes. In dem Maaße aber, in welchem du recht zu hören beginnst, löset sich auch deiner Zunge Band, daß du aus dem Schatze der neu gewonnenen göttlichen Anschauungen heraus auch richtig redest, und Alles mit dem rechten Namen nennest: den Erhabenen, der über dir waltet, “Gott und Herr“, und was an dir nicht tauget, “Sünde“ und wessen du bedürftig, “Bekehrung und Heiligung“, und Sterben den “Gang zum letzten entscheidenden Gerichte“. Ja, Freunde, es thut Noth, daß wir auch recht reden lernen: denn „Aus deinen Worten“ spricht der Herr Matth. 12,36. „wirst du gerechtfertiget, und aus deinen Worten wirst du verdammet werden“. – „Dein Mund wird dich verdammen“, spricht er zu Hiob, „und nicht Ich; deine Lippen sollen wider dich antworten“. – „Der Menschen Reden“, sagt Jemand, „sind das Protokoll seines Prozesses vor Gott“. Sie sind’s, sofern sie die Träger und Offenbarungsformen seiner Herzensgedanken und Gesinnungen sind. Es spricht darum Salomo: „Thue von dir den verkehrten Mund“; und Paulus: „Lasset kein faul Geschwätz aus euerm Munde gehen“; und Ps. 17: „Ich habe mir vorgesetzt, daß mein Mund nicht übertreten soll“. Die Worte an und für sich thun’s freilich noch nicht, aber die Worte als Reflexe des innersten Bewußtseins fallen schwer in die Waage. „Wer mit dem Munde bekennet“, sagt die Schrift, „der wird selig.“ Denen am Throne Gottes im Reiche der Herrlichkeit wird in der Offenbarung St. Johannis nachgerühmt, es sei “nichts Falsches in ihrem Munde erfunden worden.“ – O niemals geschehe es, daß, wie ich heute zu euch, so Gott der Herr zu irgend Einem aus unsrer Mitte sprechen müsse: “Aus deinem Munde richte ich dich, du Schalk!“ – Daß vielmehr auch uns, ja ohne Ausnahme uns Allen, gelten möge, was Er Jes. 59,12 spricht: „Mein Geist, der bei dir ist, und meine Worte, die Ich in deinen Mund geleget habe, sollen von Deinem Munde nimmer weichen!“ – Ja, das widerfahre uns durch Seine Gnade! Amen.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/k/krummacher_f.w/krummacher_f.w_die_stichworte_des_abfalls.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain