Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der Erzengel Michael.
Dass die Stufenleiter der vernünftigen Geschöpfe über das Geschlecht der Sterblichen noch hinausrage, ahnte schon das Heidentum; die göttliche Offenbarung erhob es über jeden Zweifel. Die Engelwelt ist nicht bloß „ein liebevoller, herziger Gedanke“, wie Einer sie genannt hat; sondern eine Wirklichkeit voller Herz und voller Liebe. Bevor der Schöpfer des Weltalls den Menschen ins Dasein rief, umgab Er sich mit jenen himmlischen Wesen wie mit den verkörperten Strahlen Seiner Gottesglorie, wie mit den Person gewordenen Tönen einer erhabenen Doxologie. Ja, als die individualisierte göttliche Vorsehung möchte ich sie bezeichnen. Als Vermittler göttlicher Offenbarungen, Führungen, Errettungen und Bewahrungen, wie göttlicher Züchtigungen und Strafgerichte treten sie in die heilige Geschichte ein. Und wie sie die Herablassung Dessen, „der ewiglich wohnt“, zu den Kindern des Staubes unserer Anschauung näher bringen, so dienen sie, den Raum zwischen Himmel und Erde aufs freundlichste bevölkernd, unseren Gedanken zur lieblichsten Himmelsleiter. Überdies eröffnet sich uns in ihrer Sphäre welch eine herrliche Idealwelt! Die Vorstellung dieser unschuldigen, lichtreinen, in gleichem Maße in heiligem Eifer für die Verherrlichung Gottes, wie in zarter Liebe zu den Menschenkindern entbrannten Geschöpfe, wie wirft sie belebend auf unser Glauben, Hoffen und Lieben ein! Nur unsertwegen, der in Christo allerdings zu einer noch höheren Staffel der Vollkommenheit, als sie selbst, Berufenen, scheinen sie da zu sein, diese „dienstbaren Geister, ausgesandt zum Dienst um derer willen, die ererben sollen die Seligkeit.“ Sie sind die fürsorglichen Hüter unserer Kleinen, die hilfreichen Begleiter der Pilger auf dem Wege zur Gottesstadt, die unsichtbare tröstliche Umgebung der Sterbenden. Aber dieses Alles sind sie nur als Werkzeuge Dessen, dem sie mit uns ihre Knie beugen, und welchem darum auch allein die Ehre der Anbetung wie der Anrufung gebührt.
Die Mannigfaltigkeit göttlicher Gaben, Kräfte und Berufungen begründet auch in der Welt jener hehren Wesen eine Rangordnung, eine Stufenleiter. Die Offenbarung redet von „Engeln“ und „Erzengeln“; von „Thronen“ und „Herrschaften“, und, aufsteigend, von „Fürstentümern“ und „Gewalten.“ Als ein Engel höchsten Ranges, ja vielleicht als der vornehmste und mächtigste von allen tritt Michael auf, den schon sein Name, verdeutscht: „Wer ist wie Gott?!“ nicht allein als einen demutsvoll ergebenen Diener des Allerhöchsten, sondern auch als einen feurigen und streitbaren Eiferer um die Ehre Seines Namens bezeichnet. Im alten Testamente steht und kämpft er für Israel, das Volk der Auswahl; im neuen zeigt ihn uns das apokalyptische Zukunftsgemälde des Reiches Gottes als den Schutzgeist des geistlichen Israels, der vom „Drachen“ und dessen Engeln angefochtenen und bedrängten Gemeine der Anbeter Christi. Von einem geheimnisvollen Zwischenfall gibt uns, wenn etwa aus einer jüdischen Überlieferung, dann jedenfalls aus einer vom heiligen Geist besiegelten, der Apostel Judas in seiner Epistel eine freilich nicht eben leicht verständliche Kunde.
Nachdem nämlich der Apostel über diejenigen, welche aus ihrem traumestrunkenen und von Gebilden des Wahns umgaukelten Herzen heraus, die Herrschaften zu verachten, und die Majestäten, d. i. die Obrigkeiten, diese Abbilder Gottes und Vertreterinnen Seiner Ordnungen auf Erden, zu „lästern“ sich vermessen, ein Wehe ausgerufen, sagt er: „Michael aber, der Erzengel, als er mit dem Teufel zankend sich beredete über den Leib Mosis, wagte nicht, ein Urteil der Lästerung zu fällen; sondern sprach: Der Herr schelte dich!“ Von einer Szene der Geisterwelt sehen wir hier den Vorhang gelüftet. Freilich wird hier, was dort einst Übermenschliches sich zutrug, durch Übertragung ins irdisch Menschliche unserem Verständnis vermittelt. Die Geister reden und rechten miteinander nicht wie wir. Doch verliert die Tatsache selbst durch diese Umsetzung aus dem Übernatürlichen in unsre Menschenweise an Wahrheit nichts. Es hat sich wirklich einst zwischen dem Erzengel Michael und dem Haupte der gefallenen Geister, dem Satan, und zwar über den Leib Mosis ein Rechtsstreit entsponnen. Um was es in diesem Kampfe sich gehandelt, bleibt freilich in den Schleier des Geheimnisses gehüllt, und enträtselt sich nur in etwas der gläubigen Vermutung. Wir wissen, dass, als Moses auf dem Gipfel des Berges Nebo Angesichts des nach vierzigjähriger Wanderschaft endlich erreichten verheißenen Landes gestorben war, Gott ihn, unzweifelhaft durch den Dienst des Engels, begrub, und Niemand sein Grab erfahren hat. Nicht wohl denkbar ist's, dass dieses Begräbnis, diese Überweisung des Leichnams an das Totenreich, einen Protest des „Mörders von Anfang“ hervorgerufen, und den geheimnisvollen Streit veranlasst haben sollte. Nicht minder aber ist uns bewusst, dass in den Tagen des Menschensohnes bei dessen Transfiguration auf dem heiligen Berge neben Elias auch der große Sohn Amrams in verklärter Leiblichkeit erschien; und dieses Faktum berechtigt uns zu dem Schlusse, dass nachmals durch eine göttliche Wundertat mit dem Leibe Mosis etwas Ähnliches vorgegangen sein müsse, wie vor ihm mit dem Leibe Henochs, und nach ihm mit dem des Thisbiters. An eine Auferstehung, wie sie, nachdem der „Erstling der Erstandenen von den Toten“, Christus, das Siegel des Grabes brach, den Kindern Gottes in Aussicht steht, ist hier freilich nicht zu denken; wohl aber an eine vorläufige Verklärung der Leiblichkeit, an Versetzung in einen Zustand, der die Mitte hält zwischen der irdischen Erscheinung des Individuums, und der vollendeten an jenem großen Tage, da „Alles herwiedergebracht sein wird, was Gott geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten von der Welt an.“ Welcher Art nun auch die Verherrlichung sein mochte, die Gott dem Leibe seines getreuen Knechtes Mose zugedacht hatte; immer konnte der Satan Grund zu haben meinen, wider dieselbe gegründeten Einspruch zu erheben. Moses hatte gesündigt, sogar nach dem Urteilsspruche Gottes selbst, der ihn darum auch richtend das gelobte Land nur aus der Ferne schauen, aber nicht betreten ließ; und so schien ja der Heerführer Israels und Israels Stolz der Gewalt des höllischen Verklägers verfallen zu sein, und der Richter der Lebendigen und der Toten im Widerspruch mit sich selbst und seiner ewigen Reichsordnung sich zu befinden, indem Er den Übertreter krönte und erhöhte. Aber dass Gott auch an seinem getreusten Diener den scheinbar nur geringen Fehltritt, dessen er sich bei dem Wasser gebenden Felsen in der Wüste schuldig gemacht, nicht unbestraft ließ, war nur eine Demonstration um Israels willen, welches durch diesen richterlichen Akt einen neuen und nachhaltigen Eindruck von der Heiligkeit und dem unerbittlichen Ernste des göttlichen Gesetzes erhalten sollte. Gott zürnte seinem Knechte so wenig, dass dieser vielmehr der Deutung nach, welche ältere und neuere Ausleger den Worten 5 Mos. 34,5 geben zu dürfen glauben, „am Munde“, d. i. in einem Kusse des Allerhöchsten starb, und sein Verscheiden darum „Neschita“, d. i. „der Tod des Kusses“ genannt worden ist. Dies wird nun der Engel dem Vater der Lügen vorgehalten, vor Allem aber wird er ihn daran erinnert haben, dass Moses, wie weiland der Vater Abraham, an den großen Zukünftigen, der mit seinem Opferblute der Welt Sünde sühnen werde, von Herzen geglaubt, und Gott ihm, wie jenem, seinen Glauben zur Gerechtigkeit gerechnet habe. Fußend auf diesem felsenfesten Grunde nun trat Michael, wie einst, laut Bericht des Propheten Sacharja (Kap. 3), der „Engel Jehova“ für den von demselben Widersacher angefochtenen und verklagten Hohenpriester Josua, siegreich rechtend für Moses ein; und weit entfernt, in angemaßter eigener Machtvollkommenheit wider den Satan, der auch in seiner Zerrüttung noch ein Spiegel göttlicher Munificenz1), eine Großmacht und Majestät, und ein, ob auch widerwilliges, Werkzeug des Höchsten ist, ein Urteil der Lästerung zu fällen, sprach er, Gott dem Herrn das Gericht überlassend: „Der Herr schelte dich, du Satan!“ - „Virtus angelica: Modestia!“ ruft hier der alte ehrwürdige Albrecht Bengel aus.
Der Erzengel Michael lebt nicht bloß fort im Reiche der Kunst, wo er zum konstanten Typus und Sinnbilde siegreichen Kampfes gegen infernalische Mächte geworden ist; er steht heute noch, wie von Anfang, der Befehle des Allmächtigen gewärtig, am Stuhle Gottes, und trat aus dem erhabenen Drama der göttlichen Reichsgeschichte so wenig zurück, dass er vielmehr noch einmal großartig entscheidend in den Gang derselben eingreifen wird. Wir haben bereits darauf hingedeutet, dass er laut dem Worte der Weissagung in der Stunde der großen Versuchung, die über den Erdkreis kommen soll, aufs neue als den Vorkämpfer für das Volk des Herrn, die in die Wüste gedrängte Christusherde sich betätigen, und das Gericht wider die „alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas“, zum Siege ausführen werde. Mit Recht wird darum der Name Michael von unseren Kalendern fortgetragen von Jahr zu Jahr. Als ein warnendes Unheilszeichen blitzt er von dort alle Feinde Gottes und seines Gesalbten an. Uns aber, die wir uns durchzuglauben und durchzulieben hoffen, leuchtet er als holder Stern, Rettung verheißend, und Schirm, und die Krone eines ewigen Triumphs.