Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - III. Der Hohepriester.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - III. Der Hohepriester.

Es ist eine sehr irrige Vorstellung, die durch Christum das Alte Testament als etwas Nichtiges abgethan und verneint sein lasset. - Allerdings verneinte er das Alte Testament; jedoch nicht so, wie er zum Beispiel den Pharisäismus verneinte, sondern wie die Frucht die Blüthe verneint, indem sie deren Mark und Segen in sich aufnimmt, und dann die Hülle abstößt. „Ihr sollt nicht wähnen“, spricht der Herr Matth. 5, 17 selbst, „daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ - Ja, Lebensfülle mitzutheilen, sowohl dem heischenden, wie dem weissagenden Buchstaben des alten Bundes, dazu kam er. Das Gesetz, gehorchend und vollbringend, die Prophetie, wahrmachend und verwirklichend, in sich aufzunehmen, war seines Erscheinens Zweck und Ziel. Das hingezeichnete Ideal kam in Ihm zu seiner Verleiblichung. Das todte, leere Bild hob, Substanz und Fleisch geworden, in Ihm, als in seinem lebendigen Originale und wesenhaften Urbilde, sich auf.

Nichts ist vom alten Testamente als eine taube Blüthe abgefallen und verstoben. Bis zu dem geringfügigsten und unscheinbarsten Zuge hinab ward selbst die levitische Tempelordnung in Ihm gerettet und in Wesen umgesetzt. Jeder gottesdienstliche Gebrauch feierte in Ihm und Seinem Thun den Moment seines Uebergangs aus dem Bereiche der Schatten in's Gegenbildliche und Reale. Wie der Grundriß eines Baues zu dem verwirklichten Baue selbst, ähnlich verhält sich das ganze mosaische Ceremonialgesetz zu Jesu Person und Werk. Der architektonische Plan zu der Bauanlage ward nicht vernichtet, sondern blos, bis zu den kleinsten Federstrichen hinzu realisirt, in das Gebäude aufgehoben, und behält, ob er gleich seine Dienste nun gethan hat und dem Archive übergeben ist, doch immer noch den Werth eines Maßstabes für den Vorbedacht, die weise Berechnung, die Pünktlichkeit und Treue, womit der Baumeister baute und sein Wert vollführte. In ähnlicher Weise dient uns auch heute noch das alte Ceremonialgesetz, indem es gleich einer heiligen Fackel die Tiefen des göttlichen Erlösungs-Rathes uns beleuchtet. Wie wohlthuend aber und wie erhebend ist es, den Ewigen vor Jahrtausenden schon mit der Zeichnung seines großen Retterplanes beschäftigt anzutreffen! Oder ist es etwas Anderes, als Seine planzeichnende Hand, die in jenen Schattenrissen sich uns kundgibt? - In diesem bilderreichen, und sowohl persönliche als sächliche Zeichen umschließenden Vorentwurfe steht nun bekanntlich als eine Hauptfigur der aaronitische Priester vor uns. Wie Christus auch diesem bedeutungsvollen Schatten in Seiner Person zu Wesen und Verkörperung verhalf, das werden wir heute in unsern Gesichtskreis treten sehen.

Hebräer 7, 26.
Denn einen solchen Hohenpriester mußten wir haben, der da wäre heilig, unschuldig, unbefleckt, von den Sündern abgesondert, und höher, denn der Himmel ist.

Ein herrlich Gebiet thut sich vor uns auf. Unser Text führt uns zu den Grundvesten der göttlichen Erlösungsanstalt. Wir vernehmen, wie der Heiland, der uns Gott versöhnen sollte, habe beschaffen sein müssen. Es bedurfte einer göttlichen Offenbarung, um uns dies zum Begriff zu bringen. Ohne Aufschluß von Oben hätte kein Engel- noch Menschenverstand jemals das Räthsel gelöst, wie ein dem Fluche verfallenes Geschlecht unbeschadet der göttlichen Gerechtigkeit wieder zu Gnaden angenommen und mit Gott neu vereinigt werden möchte. Jetzt sind uns von diesem Geheimniß die Siegel gelöst. Vernehmen wir denn zuvörderst heute, was für einen Erlöser wir haben mußten und wirklich haben; und sodann: welche Rechte aus der Vollkommenheit dieses hohenpriesterlichen Mittlers für die Gläubigen hervorgehn.

Schwebe der Geist des Herrn über unsrer Betrachtung und führe uns in alle Wahrheit!

1.

Der Mensch in seinem natürlichen Stolze mag von einem Mittler und Erlöser überhaupt nicht wissen. Er dünkt sich Mann's genug, sich selbst zu vertreten, und verschmäht es, sich nach Gott zu richten, indem Gott vielmehr nach ihm sich richten müsse. Er schreibt dem Allerhöchsten die Bedingungen vor, unter denen derselbe ihn gerecht erklären und segnen, und einst sogar ihn erhöhen und zu seiner Herrlichkeit erheben solle. Gott soll sich an der Gerechtigkeit genügen lassen, die er ihm darstellt. Welch' jämmerlich Stückwerk dieselbe immer sei, Gott soll sie für voll annehmen, für genügend gelten lassen. Er soll seine sittlichen Forderungen nach dem gegenwärtigen Zustand des Menschen mäßigen. Er soll's, oder der Mensch droht heimlich in seinem Herzen, Ihn der Härte und Grausamkeit anzuklagen. So steht der Adamssohn zu Gott: ein frecher und zugleich unsinniger Rebelle, der da verlangt, es solle Gott um seinet-, des elenden Sünders willen, Sein Wesen und alle Seine Vollkommenheiten verläugnen. So protestirt er gegen die Botschaft von einer göttlichen Gnaden- und Heilsanstalt, weil seinem dummen Hochmuthe der Gedanke unerträglich ist, daß seine Erlösung und Beseligung so große Zubereitungen der göttlichen Barmherzigkeit sollte erfordert haben. Ach, ihr wißt es ja, welche Aufnahme dem Herrn Jesus ward, als er mit der Eröffnung unter die Leute trat, daß er erschienen sei, sein Leben zum Lösegeld für sie dahin zu geben. „Was Lösegeld!“ hieß es. „Wozu ein Lösegeld? Als ob wir banquerotte Leute und in uns selber Hülflos wären! - Gilt's Zahlung, so stehen wir selber unsern Mann, und bedürfen keines Bürgen!“ - Und fürwahr! hätte Gott die Gründung seiner Gnadenanstalt vertagen wollen, bis die Menschen aus sich selbst Ihn darum würden angegangen sein, die Anstalt des Heils wäre nie gegründet worden; vielmehr wäre Geschlecht um Geschlecht in gräßlicher Sicherheit und Verblendung dem Abgrunde des ewigen Verderbens zugetaumelt, und heute noch taumelte die Menschheit halsstarrig und ohne Hülfeschrei dem Abgrund entgegen. - Aber Heil, Heil uns! Gott rechnete diese unsre entsetzliche Blindheit mit zu dem Elend, deß Er sich jammern ließ; und je lauter wir in unsrer Raserei daher schrieen: „Wir wollen keinen Mittler!“ um desto höher schlug in Seinem Herzen die Flamme des Mitleids auf, die ihn drängte, einen Mittler und Erretter uns zu senden. Ja, Er hat das Heil uns aufgezwungen und wider unsern Willen in Christo uns erlöset. Aber hörte man denn nicht die Alten seufzen: „Ach, daß du den Himmel zerrissest und führest herab!?“ - Die Alten schrieen so; aber nachdem ihnen vorab ein göttlicher Wunderakt dazu die Zunge löste. Die menschliche Natur als solche hat niemals so geschrieen. Sie ist sich selbst genug bis diese Stunde. Sie geht vornehm an Krippe und Kreuz vorbei; denn „wozu diese Geräthe?“ denkt sie; „ich brauche ihrer nicht!“ - In der That also bedarfst du keines Mittlers? Du bist wirklich eines Vertreters nicht bedürftig? - Allerdings, zwei Fälle gesetzt, und du brauchst einen Mittler nicht. Existirt kein Gott im Himmel, nein, dann bedarfst du keinen Heiland; denn dann gibt's auch kein Gericht, keine Fortdauer nach dem Tode, keine Ewigkeit. Dann bist du eine Wasserblase auf der Strömung der Natur, die bald wieder in Nichts zergehen wird. Es hat dann für des Lebens Zukunft gar keine Bedeutung, ob Jemand ein Heiliger sei, oder ein Sünder. Es trifft Beide nach kurzem Daseins-Traum das gleiche Vernichtungsloos. Der Tod löscht den Funken, „Geist“ genannt, in ihnen aus. Sie verschwinden aus der Reihe der Persönlichkeiten für immer, und „ihre Stätte ist nicht mehr gekannt“. Was soll dir also, ist Gott ein Hirngespinnst, ein Hoherpriester?! - Aber „die Thoren“, ruft der heilige Sänger, „sprechen in ihrem Herzen: es ist kein Gott;“ und fügt hinzu: „Sie taugen nicht, und sind ein Greuel mit ihrem Wesen.“ - Doch, auch wenn ein Gott ist, wie denn so wahrhaftig Einer lebt, als die Himmel seine Ehre erzählen und die Veste seiner Hände Wert verkündet, so bist du auch dann noch eines Erlösers nicht benöthigt, wenn jener Gott ein Lügner ist, wie du, der zwar ein „Verflucht sei Jedermann, der nicht bleibt in Allem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er es thue,“ an die Säulen der Erde schrieb; aber nach diesem Wort nicht straft, sondern ihm zuwider handelt; oder, wenn Er ein Unheiliger ist, wie du, der Sünde und Missethat nicht anschlägt; oder, wie du, ein Unweiser, der in seinem Regimente plan- und ordnungslos zu Werke geht. Ich sage: ist Er ein Solcher, freilich, was soll dir dann ein Heiland? - Aber wäre auch ein solcher Gott noch Gott? Gehört es nicht wesentlich zum Begriffe Gottes, daß er heilig sei, gerecht und wahr, und die Sünde verfluche, und über der Erfüllung seines unwiderruflichen Gebotes halte, und einem Jeglichen vergelte nach seinen Werken? Ich meine, nichts steht mehr außer Frage, als eben dies. - Was aber, o Mensch, gebühret dir nach deinen Werken? Dir, der du der Grundlage aller vor Gottes Augen geltenden Güte, nämlich der Liebe Gottes über Alles, und des Nächsten als dich selbst, so gänzlich baar bist? Dir, der du von Natur als ein vollendeter Egoist erfunden wirst? Dir, dem Knechte des Fleisches, ja dem Feinde und Widersacher Gottes, der du dich als solchen so oft bethätigest, als Gott mit Seinem Wort, Seinem Gesetz, oder Seinen Führungen deine Wünsche und Gelüste durchkreuzet? - Wisse, was dir gebühret, ist der Tod und die Verwerfung von Gottes Angesicht. Er muß dich verdammen, wo er richtend nur deine Person ansieht, oder selbst zu Grunde gehn und aufhören, Gott zu sein. Und du verlangst, daß er sich selber aufhebe, mit sich selber sich entzweie, ja, sich selbst vernichte, indem du begehrst, daß er dich Sünder ohne Vermittlung, ohne Genugthuung, ohne Opfer segne, erhöhe und in das himmlische Wesen versetze! O Tollheit, o Raserei, o unsinniges, ja frevelhaftes Beginnen! Was immer du nöthig haben magst, blutnöthiger hast du nichts, als einen Mittler und Erlöser! Frohlocke drum, und bete an am Staube, daß ein Solcher erschien, und auch dir die Retterhand entgegenstreckt! -

Gott mußte die abtrünnige Menschheit strafen. „Das war Gottes Recht“, sagt die Schrift. „So ziemete es Gott“, sagt sie. Ja, so entsprach es Seinem hochheiligen Wesen. Es liegt als eine Nothwendigkeit in Gottes Natur und der Ordnung seines Hauses, daß der Sünde der Fluch sich an die Ferse hänge. Dawider ist nicht zu disputiren. Das ist eine ewige unbestrittene Wahrheit. Was aber wäre nun aus der Menschheit geworden, hätte ihr nach ihren Werken vergolten werden sollen? Eine Beute der Hölle wäre sie, und das für ewige Zeiten. Aber dahin sollte es nicht kommen; und darum trat die unergründliche Gottesliebe mit ihrem Retterplan in's Mittel. Es galt, daß Einer zu uns Sündern in das Verhältniß eines zweiten Adams eintrat, das heißt in ähnlicher geheimnißvoller Weise sich mit uns vergliederte, wie der erste Adam mit seinem Geschlechte Einer war: Er unser Vertreter, wir in Ihm aufgegangen; er das Haupt, wir als sein Leib zu einer Person mit ihm verbunden; er somit unsrer Schulden theilhaftig, wir teilnehmend an seiner Bezahlung, gleich als wären wir Er, und als wären wir nicht etwa Viele, sondern mit Ihm nur Einer, eingeschlossen in Ihn vor Gott, aus Vielen in Ihm Ein Mann geworden. Natürlich mußte der Vertreter zunächst ein Mensch sein: denn nicht die Engel, die Menschheit mußte zur Sühnung des unter die Füße getretenen Gesetzes die gerechte Strafe leiden. Der Menschheit war gesagt: „Ich will den aus meinem Buche tilgen, der an mir sündigt.“ Der Menschheit war das Gesetz der zehn Gebote gegeben, daß sie es bewahrete und darnach lebte. Die Bedingung, an welche unsre Wiederaufnahme in das Vaterhaus geknüpft war, war eine doppelte: zuerst die, daß wir Gott dargestellt wurden als Solche, die den angedrohten Sündenfluch erduldet; und dann die, daß Er als Knechte uns erfand, die den unwiderruflich den Menschen auferlegten Gehorsam nach allen Seiten hin geleistet hatten. Daß nun der Mittler nicht blos Mensch, sondern auch ein gerechter Mensch sein mußte, ergibt sich so von selbst: denn war er selbst ein Schuldner, so bedurfte er für seine Person eines Mittlers, der für ihn bezahlte. Daß er zugleich mehr sein mußte, als ein Mensch, leuchtet nicht minder ein. Er mußte Gott sein, und zwar zunächst, damit Er, was nur bei Gott zutrifft, nicht unter, sondern über dem Gesetz stände, und dadurch befähigt wäre, für Andre „unter das Gesetz“ sich thun zu lassen; sodann, damit Er, durch seine unbegrenzte Herablassung von der strahlenden Höhe der Gottheit in die Beschränkung der armen Menschennatur den Werth seines stellvertretenden Gehorsams erst recht in's Unendliche steigerte, und vollendete; ferner, damit Er, wie sich die Kirchenlehre ausdrückt, die „Last des Zornes Gottes“ und alle Schauer des übernommenen Fluches ohne Verzweiflung zu ertragen vermöchte, und endlich, damit Er uns mit sich aufs höchste, d. h. bis zur Herrschaft und Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erheben könnte. Ach, wir lallen und stammeln wohl davon, wie und warum der Mittler so und so habe beschaffen sein müssen; aber wir fassen von der großen Sache in unsrer menschlichen Kurzsichtigkeit nur äußerst wenig. Das aber steht, weil sein untrügliches Wort es bezeuget, unerschütterlich fest, daß wir „einen solchen Hohenpriester haben mußten, der da wäre nicht allein heilig, unschuldig und unbefleckt, sondern auch von den Sündern abgesondert“, d. h. nicht, wie sie, in Sünden empfangen und geboren, und „höher denn der Himmel ist,“ d. i. auch über die Engelwelt erhaben, oder Gott gleich, und selber Gott, hochgelobt in Ewigkeit. Erst die Ewigkeit wird uns das Geheimniß ganz entsiegeln, aus welchen Gründen nur ein Solcher unserm Elende gewachsen war. Bis dahin laßt uns glaubend und in Dank zerfließend vor Gott am Staube liegen, daß Er einen Hohenpriester uns gesandt, der allen jenen Erfordernissen in der That entspricht, und das große Vertreterwerk herrlich vollendet hat. Ja uns kam ein Solcher. Durchschreitet das Heiligthum des Evangeliums, und Er wird euch begegnen. Pilgert gen Bethlehem, und schauet hier zuerst den Menschen, uns an Gebehrden gleich. Höret dann den zum Manne hinangereiften von sich zeugen: „Ich und der Vater sind Eins; wer mich siebt, siebet den Vater;“ und beuget dem Gott in Ihm die Knie. Gehet hinaus an den Jordan, und vernehmet es dort aus seinem eigenen Munde, daß er gekommen sei, „alle Gerechtigkeit für uns zu erfüllen.“ Folget dann ihm wieder auf den Schauplatz seines öffentlichen Wirkens, und laßt euch sagen von ihm, wie es seine Absicht sei, „sein Leben zu geben zum Lösegeld für Viele.“ Hört über ihn das Zeugniß seines himmlischen Vaters niedertönen: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe!“ und entnehmet daraus, daß er ein Unsträflicher war, und wirklich das Gesetz für uns erfüllte. Und begehrt ihr hiefür auch noch ein Menschenzeugniß, hört seinen Richter rufen: „Ich finde keine Schuld an diesem Menschen.“ Und nun vernehmt von seinem Kreuze her sein „Lama asaphtani!“ Hier trägt er für euch den Fluch; hier schmeckt er für euch die Schauer der Verdammniß. Vernehmt sein triumphirendes „Es ist vollbracht!“ Nun ist der große Sieg erkämpft, und das erlösende Opfer dargestellt. „Und dem wäre wirklich so?“

- O, wenn daran noch ein Zweifel euch beschleicht, so eilt hinaus in Josephs Garten, wo der Allmächtige selbst thatsächlich es bezeugt, und durch das Wunder der Auferweckung dem Worte seines Sohnes Sein strahlend Siegel aufdrückt. Und dann hört den Chor seiner seligen geistgesalbten Jünger: „Mit einem Opfer hat Er in Ewigkeit vollendet Alle, die da geheiliget werden!“ - „Ihr seid vollkommen in Ihm.“

- „Christus ist uns von Gott gemacht zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung.“ - „Wer will beschuldigen? Wer will verdammen? - Hier ist Christus!“ -

2.

O, mit welchen Worten soll ich nun selig preisen diejenigen unter uns, die Grund haben, jenen vollkommenen Hohenpriester den ihrigen zu nennen! - Denn wisset, Aller Hoherpriester ist er nicht; sondern nur derjenigen, die auf dem heiligen Wege des Gnadenbedürfnisses als dem einigen Manne ihrer Hoffnung und ihres Trostes Ihm begegnet sind. O ihr, die ihr durch Gottes Gnade aus dem Sündenschlaf der natürlichen Sicherheit erwachtet; ihr, die ein lustiger; Traum von eigner Gerechtigkeit und Tugend nicht mehr umgaukelt und irre führt; ihr, die ihr die Sünde im Lichte Gottes als das erkanntet, was sie wirklich ist, und euch der schauerlichen Gottentfremdung, in die ihr durch die Sünde hineingeriethet, mit Schrecken bewußt geworden seid; ihr, die ihr, die Flüchtigkeit des zeitlichen Lebens und die ernste Ewigkeit vor Augen, in der That nichts sehnlicher begehrt, als daß nur Gott euch hold und gnädig sei; ihr, die ihr an der Möglichkeit, in eigner Kraft dem Ewigen euch zu versöhnen, gründlich verzagend, ach, nur einen Stern noch schaut, der vor der Verzweiflung euch bewahrt: den Stern aus Jakob; nur einen Balken noch gewahrt, der über der Sündfluth euch oben halte: den Kreuzesbalken; nur eine Hand noch kennt, von der ihr Erlösung hofft: die durchgrabene des Mannes in der Dornenkrone; ja ihr mit dem aufrichtigen: „Herr Jesu, erbarme dich meiner;“ ihr, die ihr immer wieder Seinen Namen euch nennen, zu Seinem Kreuze aufschauen, betend zu Seinen Füßen niedersinken, und, wofern ihr vor Weh und Angst nicht vergehen wollt, euch daran erinnern müßt, daß Er ja da sei; - ihr, die ihr es so ernstlich meint mit euerm Sehnen nach Ihm, so aufrichtig mit eurem „Sohn Davids, errette mich;“ so herzgründlich mit eurem „Was willst du, daß ich thun soll?“ und so wahr und tief mit dem Wunsche eures Herzens, Ihm ganz zu leben, Ihm überall zu dienen, und Allem, Allem abzusagen, was Seinen heiligen Augen nicht gefalle; ja ihr, die ihr also euch erfindet, o zaget und fraget ihr nicht mehr, ob es euch gestattet sei, euch Seiner zu getrösten? Ja, ja, es ist's! Ihr tragt ja augenscheinlich den Stempel eurer Erlösung an der Stirn. Fürwahr! wenn ihr nicht befugt sein solltet, Ihn als euren Hohenpriester zu erheben, so wäre es Niemand im Himmel und auf Erden!

Steht uns aber solche Befugniß zu, o Brüder, welch lieblich Loos ist uns dann gefallen! Wird sichs doch von selbst verstehen, daß ein so vollkommener Mittler auch eine vollkommene Erlösung und Gerechtigkeit zu Wege bringen mußte. Die Rechte, die aus Seinem Werte für uns hervorgehn, sind unermeßlich und unvergleichlich. Wir dürfen hinfort uns „dafür halten, daß wir der Sünde gestorben sind, und nichts Verdammliches mehr an uns sei: denn wären wir noch unter dem Fluche, wie reimte sich damit das Wort: „Er hat uns erlöset vom Fluche des Gesetzes, da Er ward ein Fluch für uns?“ Wir dürfen von keiner unsrer Sünden mehr besorgen, daß sie uns noch von Gott zu unsrer Verwerfung werde zugerechnet werden: denn trügen wir noch unsre Sünden, wie konnte geschrieben stehn, Er habe sie alle für uns hinaufgetragen auf das Holz? Es gebühret uns, uns als Gerechte vor Gott zu wissen: denn gölten wir noch vor Ihm als Uebertreter, was bedeutete der Ausspruch: „Wie durch Eines Ungehorsam Viele Sünder worden sind, so werden durch Eines Gehorsam Viele Gerechte?“ Wir dürfen hinfort vor Tod und Teufel nicht mehr erzittern: denn unser Vorkämpfer muß ja den einen, wie den andern für uns entwaffnet haben, da uns aus göttlicher Vollmacht der Triumph in den Mund gegeben wird: „Tod, wo ist dein Stachel?! Hölle, wo ist dein Sieg?!“ Selbst auch die Sorge um unser Beharren in der Wahrheit und auf dem Lebenswege dürfen wir fahren lassen: denn müßten wir uns noch selbst mit dieser Sorge tragen, warum spräche denn der Herr: „Das ist der Wille meines Vaters, daß ich von Allem, das er mir gegeben hat, nichts verliere;“ und wiederum: „Niemand wird meine Schafe aus meinen Händen reißen?“ - So sind wir denn wirklich in den Stand gesetzt, schon hienieden im Genüsse eines vollen und stetigen Friedens einherzugehen. Denn wären wir das nicht, was für einen Sinn hätte der Ausspruch des Herrn selbst: „Meinen Frieden gebe ich euch; meinen Frieden lasse ich euch,“ und der Zuruf des Apostels: „Sorget nichts;“ und der Apostels Mahnung: „Alle eure Sorgen werfet auf Ihn, denn Er sorget für euch?!“ - An solchen Sprüchen zerschelle euer letzter Zweifel!

Seht, Freunde, so sind wir gestellt! Warum aber gehen wir nicht in diesem Frieden? Warum kosten wir ihn mehrentheils zeitweilig, stundenweise und unterbrochen nur? O, die Ursachen hiervon liegen nicht in Christi Werk, als lange etwa das nicht hin, eine andauerndere und vollkommnere Beruhigung uns zu gewähren. Vielmehr sind sie lediglich bei uns selbst, und in verkehrten Stellungen unsres Innern zu suchen. Bald mangelt's an der umfassenden Einsicht in die gewaltigen Grundlagen, von denen unsre Erlösung getragen wird. Das Blut des Lammes und dessen unermeßliche Kraft und Wirkung wird nicht nach Gebühr erkannt und anerkannt. Bald ist unser Glaube gelähmt, und die fleischliche Vernunft mit ihren Zweifeln und Bedenken hat wieder den Thron bestiegen. Bald bezaubert uns aufs Neue die Welt mit ihrem Blend- und Gaukelwerk, und wir leben wieder mehr in ihrem Wesen und Getreibe, in ihren Bildern und Geschäften, als in Christo. Bald treibt ein falscher Systemseifer uns allzusehr in's Aeußere, und wir suchen in der Festhaltung und Vertheidigung dieses oder jenes evangelischen Lehrpunktes mehr unsre Ehre vor der Welt, als die Stillung unsres Seelendurstes. Bald endlich, - und das ist der Hauptgrund, warum wir meist so wenig an Christo haben, - fehlt es an dem lebendigen und durchdringenden Sündergefühl. Das Bewußtsein von unserm Elend ist verdunkelt. Die Empfindung unserer Verderbtheit und Fluchwürdigleit ermattete und stumpfte ab. Da liegt uns denn wenig mehr an den Wassern der Quelle Siloah, und dem göttlichen Friedensstrome öffnet sich kein Kanal zu unserm Herzen. Man dringt in das Innere des Opferheiligthums nicht mehr hinein, weil man dort nichts mehr zu suchen hat, und der Balsam aus den Wunden Jesu findet nicht mehr Raum, seine heiligende und beseligende Kraft an uns zu erzeigen.

Darum, Geliebte, was wir thun, bitten wir den Herrn täglich um die göttliche Augensalbe. Mit der Selbsterkenntniß hält die Erkenntniß des Heils in Christo gleichen Schritt. Nur ein immer frischer Sündenschmerz unterhält die Verbindung mit den göttlichen Friedensquellen. Je geistlich ärmer, desto näher aller Fülle; je wundenkränker, desto fähiger der ewigen Heilung. Das Bild des großen Hohenpriesters in seiner Herrlichkeit spiegelt sich am vollständigsten und reinsten im Thau der Petrus- und Magdalenenthräne; und nichts hat tiefern Grund, als das Wort unseres lieben Sängers Woltersdorf, mit dem wir schließen:

Erschrick, o Mensch, und sinke bis zum Staube!
Nur in zerschlagnen Herzen wächst der Glaube,
Der Glaube, der die Sünde heftig scheuet,
Beweint, bereuet:
So wird der Herr dir deine Schuld vergeben;
So wirst du jauchzen und im Frieden leben;
So siehest du schon hier mit stillem Hoffen
Den Himmel offen. - Amen.

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