Krummacher, Friedrich Wilhelm - - Der leidende Christus - XVII. Gethsemane - Kampf und Sieg.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - - Der leidende Christus - XVII. Gethsemane - Kampf und Sieg.

Es begegnet uns im alten Testamente ein sinnbildlich tieferer Auftritt nicht, als derjenige ist, in welchem wir (l Moses 32) den Altvater Jakob mit dem Engel Jehova ringen sehen. Wir treffen den vor seinem Bruder Esau flüchtigen auf dem nördlichen Ufer des Flüßchens Jabot, wo er, von seines Herzens Noth gedrängt, nachdem er sein Gefolge über den Bach voraus gesendet, einsam und allein, um im Gebet vor Gott sich zu ergießen, zurück geblieben ist. Da geschieht es, daß, scheinbar in feindseliger Absicht, eine hehre Mannesgestalt, in der der Patriarch alsbald den Gott der Erscheinung, den ewigen Sohn erkennt, sich ihm nähert, und in demselben Momente auch schon ihn angreift, und ihn niederzuringen trachtet. Jakob, von dem Bewußtsein durchdrungen, daß er es hier mit Dem zu thun habe, der sein einiger Trost und seine letzte Zuflucht sei, geht unter Gebet und, wie Hosea berichtet, vielen Thränen den ungleichen Kampf mit dem Erhabenen ein, und ist fest entschlossen, ob es ihm auch das Leben kosten sollte, nicht zu weichen, bis des Geheimnißvollen Zorn über ihn, den Sünder, sich in Gnade verwandelt habe. Während des Kampfes aber rührt der Herr, zum Beweise seiner Uebermacht, dem kühnen Streiter das Gelenk seiner Hüfte an; und sofort ist ihm dasselbe verrenkt, und er fühlt, wie er zu sinken beginne. Je tiefer aber den Erzvater jetzt das Gefühl seiner Nichtigkeit und Ohnmacht durchdringt, um so stürmischer nimmt er die freie Gnade des Herrn in Anspruch; und je weniger die eigenen Füße ihn mehr tragen wollen, um so krampfhafter umschlingt er mit beiden Armen als seine einige und letzte Stütze den Hals seines wunderbaren Gegners. Gegen solch Andringen eines zerknirschten und um Erbarmen bettelnden Sünders kann der Herr aber nicht mehr an. Dem Glauben einer lauterlichen Kindeseinfalt hat Er ein für alle Mal sich hingegeben. Er deutet dies selbst durch die an Jakob gerichtete Bitte an: „Laß mich gehn; denn die Morgenröthe bricht an.“ ist's nicht, als wollte er sagen: „Jetzt hast du mich übermocht. Ich bin fortan abhängig von dir, und bin dein Gefangener.“ Zugleich entlockt er dem Erzvater mit jenem Worte, allen Betern nach ihm zum Vorbilde und zum Tröste, die rückhaltloseste Kundgebung seiner jedes Bedenkens sich entschlagenden Kindeszuversicht zu der göttlichen Barmherzigkeit. „Ich lasse dich nicht,“ spricht Jakob, „Du segnest mich denn!“ Wo schreiendes Hülfsbedürfniß auf der einen, und unbedingtes Vertrauen zur Gnade auf der anderen Seite das Herz bis zu dieser Sprache demüthiger Kühnheit drängt, da sieht der Herr seine Lust, und ist geneigt, dem Flehenden Alles zu gewähren, was er begehret. - „Wie heißest du?“ fragt der Herr. - „Jakob“, antwortet der Patriarch in tiefer Beugung; denn dieser sein Name, verdeutscht „Ueberlistet“, erinnert ihn an seine Sündenschuld. Der Herr aber fährt fort: „Nicht Jakob mehr, sondern Israel (d. i. Gotteskämpfer) sollst du heißen; denn du hast mit Gott, und (weil nämlich Gott fortan mit dir und auf deiner Seite ist, wirst du auch deine sterblichen Gegner überwinden) mit Menschen gekämpft, und bist obgelegen.“

Der Kampf Jakobs war wenigstens theilweise und in seinen allgemeinsten Umrissen ein Vorbild jenes andern und ungleich bedeutungsreicheren Kampfes, dessen wir heute Zeugen sein werden. Ich meine den Kampf Immanuels mit seinem himmlischen Vater in Gethsemane. Doch indem ich mich anschicke, die Vergleichungspunkte zwischen dem Schatten und dem Gegenbilde aufzusuchen, schwindet jener mir immer tiefer in den Hintergrund zurück, und das Entsprechende in demselben erstreckt sich kaum auf etwas mehr, als auf die Hingebung und Inbrunst, womit hier wie dort der Gebetskampf gekämpft wird. Der Oelbergskampf steht einzig da in seiner Art. - Keine andere Begebenheit der Weltgeschichte ist ihm an Wesen, Zweck und Großartigkeit der Bedeutung, wie des Erfolges, zu vergleichen. Davon werden wir uns heute näher überzeugen. Sei der Herr nicht ferne von uns mit seinem Geiste! -

Matthäus 26, 36-46, Marcus 14, 32-42, Lucas 22, 39-46, Johannes 18,1

Da kam Jesus mit ihnen zu einem Hofe, bei hieß Gethsemane, da war ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger. Judas aber, der ihn verrieth, wußte den Ort auch; denn Jesus versammelte sich oft daselbst mit seinen Jüngern. Und als er dahin kam, sprach er zu seinen Jüngern: setzet euch hier, bis daß ich dorthin gehe und bete: und betet, auf daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Und nahm zu sich Petrum, und Jakobum, und Johannem, die zween Söhne Zebedäi, und fing an zu trauern, und zu zittern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis in den Tod; bleibet hier und wachet mit mir. Und ging hin ein wenig, und riß sich von ihnen bei einem Steinwurf, knieete nieder und fiel auf sein Angesicht auf die Erde und betete, daß, so es möglich wäre, die Stunde vorüberginge: und sprach: Abba, mein Vater, es ist dir Alles möglich: willst du, so überhebe mich dieses Kelchs, und nimm ihn von mir: doch nicht, was ich will, sondern was du willst! - Und er kam zu seinen Jüngern, und fand sie schlafend, und sprach zu Petro: Simon, schläfst du? vermöchtest du denn nicht eine Stunde mit mir zu wachen? Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet: der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Zum andern Mal ging er wieder hin, betete und sprach dieselbigen Worte: Mein Vater, ist's nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille. Und er kam wieder und fand sie abermals schlafend vor Traurigkeit, und ihre Augen waren voll Schlafs, und wußten nicht, was sie ihm antworteten. Und er ließ sie und ging abermals hin, und betete zum dritten Mal, und redete dieselbigen Worte. Und es kam, daß er mit dem Tode rang, und betete heftiger. Es war aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde. Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und er stand aus von dem Gebet und kam zum dritten Mal zu seinen Jüngern, und sprach zu ihnen: Alb wollet ihr min schlafen und ruhen? es ist genug: siehe, die Stunde ist hie, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. Stehet auf, lasset uns von hinnen gehn: siehe, der mich verräth, ist nahe. -

Das Heiligthum der Passion hat sich vor uns aufgethan. Das große Opferwerk nimmt seinen Anfang. Sehet dort den Priester und das Lamm; den Brandopferaltar und drauf das Feuer Gottes. Brüder, welch' ein Auftritt! Wer ergründet hier die Tiefen? Wer löst von diesen Geheimnissen die Siegel? Wahrlich, hier ist mehr, als Abrahams Opfer auf Morijah, als Jakobs nächtlicher Gotteskampf und als Mosis Gesicht beim Berge Horeb. „Hier starrt der Geister Schaar; die Seraphinen bedecken hier mit Flügeln ihr Gesicht!“ Heiliges Dunkel, das Gethsemane umgraut! Wie fänden wir uns je darin zurecht, leuchtete uns die Fackel Gottes nicht voran? - Schauervolle Räthselwelt, die uns hier umgibt! Wie gelangten wir zu ihrer Deutung, reichte uns nicht Jehova durch seine Dolmetscher, die Propheten und Apostel, dazu die Schlüssel? -

Nähern wir uns denn mit geziemender Ehrerbietung der erschütternden Scene. Christi Kampf und Sieg am Oelberg heißt das große Thema unsrer diesmaligen Betrachtung. Wir beschränken unsre Erwägungen für heute auf das Geschichtliche des geheimnißvollen Vorgangs, und richten den betrachtenden Blick auf die Vorbereitungen zum Kampfe; auf die Schauer, die ihn umgeben: auf des Kampfes Verlauf; auf des Kämpfenden Gebet, und endlich auf des Kampfes Ausgang.

Der Geist der Wahrheit geleite uns auf unserm Betrachtungsgange, und heilige unsere Sinne und Gedanken zum Eintritte in eine Stätte, die den Ungeweihten die Inschrift zeigt: „Fern ihr Profanen!“

1.

Es ist Nacht. Mit dem klarsten Bewußtsein von alle dem, was jetzt seiner harre, hat der Herr im Geleit seiner elf Vertrauten Jerusalem verlassen. Unter herzbewegenden Unterredungen steigt er mit ihnen in das dunkle Cypressenthal hinab, wo einst in den Tagen der Könige die Feuer loderten, in denen man zum Preise Jehova's die Gräuel der Abgötterei zu verbrennen pflegte. Hier überschreitet er den Kidron, jenen Bach, über welchen einst in schweren Tagen, tief darniedergebeugt von der eignen wie des Volkes Schuld, sein gekrönter Ahnherr nach dem Fleisch, der König David, barfuß und in einen Sack gehüllt, vor dem Rebellenschwerte seines Sohnes Absalom sich flüchtend, das Weite suchte. Ob Er hier des Mannes wol gedachte, der, nachdem bis auf ein geringes Häuflein Getreuer alle Welt ihn verlassen hatte, nicht einmal mehr sich werth erachtete, daß ihm die Bundeslade folgte, welche die Priester Zadok Ahimaaz und Jonathan ihm nachzutragen sich erboten; des Mannes, der den Abisai, da derselbe wider den lästernden Simei in heiligem Zorn zum Schwerte griff, scheltend mit den Worten zurückhielt: „Laß ihn fluchen, denn der Herr hat's ihn geheißen;“ des Mannes, der zur Sühnung des durch seine Missethat geschändeten unverbrüchlichen Gesetzes sich mit Leib und Seele der Strafgerechtigkeit Jehova's als williges Opfer hingab, und den Kelch des göttlichen Zornes mit Freuden bis auf die Hefen leeren wollte, falls er nur hoffen dürste, daß ihm nachher das Auge Gottes wieder gnädig strahlen werde? Ob dieses Mannes Bild, wenn auch vorüberschwebend nur, dem Herrn wol vor die Seele trat; und ob auch die nicht gar ferne vor Ihm sich öffnende Thalschlucht Josaphat, diese alte schauerliche Richt- und Gräberstätte, einen Augenblick seine Betrachtung gefesselt haben mag? O, gewiß, gewiß! Von tief bedeutsamen Erinnerungen also bewegt, und in ergreifender Beschauung sinnvoller Vorbilder und Schatten versunken langt Christus beim Eingange des am Fuße des Oelbergs gelegenen Gartens Gethsemane (d. i. Oelkelter) an, wo heute noch mit stummem Munde acht uralte riesige Olivenbäume den frommen Pilgern erzählen, was unter ihrem Schatten einst sich zugetragen, und ihnen als Zeugen jener heiligen Begebenheit den wahren Ort bezeichnen, wo der Herr der Herrlichkeit um den Jammer der Menschheit geweint, und um ihre Erlösung gebeten und gerungen habe. Wir wissen, daß der Herr sich öfter nach des Tages Last und Hitze in die Einsamkeit jenes stillen Gehöftes zurückzog, um daselbst in heiligem Zwiegespräch mit seinem himmlischen Vater zu seinem großen Werke sich neu zu stärken. Lukas bemerkt darum auch ausdrücklich, Er sei „nach seiner Gewohnheit“ zum Oelberge hinaus gegangen. Mit Empfindungen jedoch, wie diesmal, hatte Er nie noch diese traute Stätte betreten.

Der Lobgesang, unter welchem er mit den Seinen das befreundete Haus zu Jerusalem verließ, ist längst verhallt. Die Unterredung auf dem Wege scheint nach den abbrechenden Worten „Es ist genug!“ Einen noch aphoristischer'n und einsilbiger'n Charakter als zuvor angenommen zu haben. Es traten längere Pausen ein. Der Ernst des Herrn steigerte sich, je mehr er dem Ziele der nächtlichen Wanderung sich näherte; und es war unverkennbar, daß in zunehmendem Maaße ein schweres Wesen über seine Seele sich lagerte. Jeder sah's, daß dem Meister gar anders zu Muthe war, als noch kurz zuvor; und so konnte es auch die Jünger nicht befremden, als Er, bei der Schwelle des Gartens angelangt, denselben mit klarster Besonnenheit zwar, doch nicht ohne Anzeichen starker innerer Gemüthsbewegungen die Weisung ertheilte: „Sitzet ihr hier, bis daß ich hingehe und bete.“ In der mildesten Form, in der es geschehen konnte, kündet er hier denjenigen seiner Lieben, die für diesmal dem Geheimniß noch ferne bleiben sollten, die Begegnisse an, die jetzt seiner harreten. In wahrhaft mütterlicher Fürsorge wollte Er verhüten, daß sie zu sehr erschräken. - Er gehe hin zu beten, sagte er. Ein Beten war es ja zu dem er sich anschickte; aber freilich was für ein Beten! - Wie deutlich gibt Er aber hier schon durch die vorbereitenden Anordnungen, die er trifft, zu erkennen, daß Er den ihm bevorstehenden Kampf nicht als etwas nur aus seinem eigenen Innern Entspringendes, sondern als ein in positiver Weise von Außen her über ihn Hereinbrechendes ansehe, und angesehen wissen wolle. Als ein Verhängniß steht es vor Ihm, was seiner wartet. Einer Wetterwolke gleich sieht Er's brütend über seinem Haupte hangen.

„Sitzet ihr hier, auf daß ich hingehe.“ Dies war die Sprache seines ganzen Lebens, und ist's noch heute. Man könnte das Wort als Wahlspruch unter Sein Bildniß schreiben: „Sitzet ihr hier, auf daß ich hingehe!“ So sprach er im Anbeginn schon, als einst die Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes mit einander zu Rathe gingen, was aus uns armen Sündern werden solle, und, als - laßt mich von unergründlichen göttlichen Dinge einmal menschlich stammeln, - die Liebe uns gern begnadigen wollte, aber die Heiligkeit nicht durfte, weil sie verdammen und verwerfen mußte. Da war Er es, der sich in's Mittel warf. „Sitzet ihr hier,“ sprach er, auf daß ich hingehe und lasse mein Leben für die Lämmer!“ - Als er nachmals den Himmel zerriß und unser Todesthal betrat, um für uns „alle Gerechtigkeit zu erfüllen,“ sprach er abermals, und zwar jetzt zu uns: „Sitzet ihr, auf daß ich hingehe, und gehorchend und leidend euch vertrete?“ Und siehe, dies blieb seine Losung bis diese Stunde. Allewege will er für uns gehn, wir sollen sitzen; Er arbeiten, wir ruhen; Er schaffen, wir genießen; Er für uns kämpfen, wir Siegeslieder fingen. Wo Er seine Kinder sich mühen sieht, in Streit oder Angst, in Sorgen oder Zweifeln, da ist Er bald zur Hand, und spricht: „Sitzet ihr nur, und werft alle eure Sorgen auf mich, legt euch auf meinen Schultern still zur Ruhe, und laßt mich hingehn, daß ich für euch sorge!“ Und wenn Er uns dies selbst in die umdunkelte Seele raunt, und das süße Geheimniß uns verstehen gebet, wie Er Alles für uns thun wolle: streiten und sorgen, ringen und siegen, wirken und beten: o welch' ein Feiern, welch' ein Rasten, zu dem dann das müde Herze eingebt! Zwar ringen und kämpfen dann auch wir noch fort; aber mit Siegesgewißheit geschieht es, und mit tiefem Herzensfrieden. Wir wissen, wer zu unsrer Seite steht, und daß uns nichts mehr scheiden könne von der Liebe Gottes.

Die Jünger, der Weisung ihres Meisters gehorsam, lassen sich beim Eingänge des Gehöftes nieder, während Er selbst, nachdem Er seine drei Vertrautesten, dem Petrus, Johannes und Jakobus gewinkt, daß sie Ihm folgen möchten, tiefer in das Gebüsch des Gartens vorgeht. Um der Zukunft seiner Kirche willen liegt Ihm daran, Augenzeugen der verhängnißvollen Begebenheit zu haben. Zugleich bewegt Ihn zur Mithinzuziehung jenes Jüngerkleeblatts das rein menschliche Bedürfniß nach tröstlicher Liebesgemeinschaft unter dem Ihm bevorstehenden Kampfe. Wie thut es wohl, in Stunden der Anfechtung von gleichgesinnten Freunden sich umgeben wissen, die mit uns wachen, mit uns beten, und Schätze der Ermuthigung aus dem Worte Gottes, wie aus dem Gebiete ihrer eignen geistlichen Erfahrungen uns darzureichen haben! Wie kann uns dies den Kampf erleichtern und versüßen; während die Einsamkeit das Grauen zu steigern, und neben der wirklich vorhandenen Noth auch noch den Schreckbildern der Phantasie die Pforten zu öffnen pflegt! - Dem Herrn Christo aber blieb kein rein menschliches Bedürfniß fremd. - In Allem ward Er uns gleich, ausgenommen in der Sünde.

2.

Durch den Garten Eden klang die Stimme: „Adam, wo bist du?“ und Adam verbarg sich zitternd hinter den Bäumen des Gartens. Dieselbe Stimme des nachfragenden und suchenden Gottes durchhaut, getragen von ähnlicher Absicht, den Garten Gethsemane; aber der „andere Adam“ entzieht sich der Stimme des Rufenden nicht; sondern schreitet dem Erhabenen, der vor Sein Angesicht ihn fordert, mit einem entschlossenen „Hie bin ich“ entgegen. Folgen wir Ihm in das nächtliche Dunkel. Welche Schauer aber, die wir jetzt sich um Ihn entfalten sehen! Es sind uns lauter wohlbekannte Personen, mit denen wir hier zusammentreffen; aber wie haben sie ihre Gestalt gewandelt! Alles verhüllt sich, Alles wird unkenntlich in Gethsemane; und von Moment zu Moment steigert sich im Anschauen dieser Dinge unsres eigenen Herzens Noth und Bangen.

Der ewige Vater ist's, der hier waltet; aber was bleibt uns übrig, als Angesichts Seiner mit Hiob auszurufen: „Gott ist groß und unbekannt, und Dunkel ist unter seinen Füßen!“ Sein einiger über Alles geliebter Sohn erscheint vor ihm in einer Lage, daß der Stein sich über ihn erbarmen möchte; aber bei Ihm, der doch zu Zion sprach: „Und ob auch ein Weib ihres Kindleins vergäße, so vergesse ich doch deiner nicht,“ scheint kein Erbarmen mehr zu sein. Wird man doch versucht, mit David in den Schrei des Entsetzens auszubrechen: „Hat denn Gott aufgehört, gnädig zu seyn, und seine Barmherzigkeit vor Zorn verschlossen?“ Denn schaut nur, welche Scene! Ein um das andre Mal wirft sich der Sohn der Liebe mit heißem Flehn an des Vaters Herz; aber sein Ohr lauscht vergebens nach einem gewährenden „Amen“ aus der Höhe. Da ist nicht Stimme, noch Antwort, noch Aufmerken, als ob der Ewige seine Zusage: „Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erretten und du sollst mich preisen!“ im Grimm zurückgenommen, und für jeden Andern wohl, nur für Den kein Herz mehr hätte, der doch vor Grundlegung der Welt schon in Seinem Schooße war. Der Schauerkelch geht an dem bebenden Dulder nicht vorüber; vielmehr wird der Trank von einem Augenblicke zum andern bitterer. - Lauter tönt die Klage des Ringenden; andringender wird sein Gebet und Flehen. Aber die Höhe schweigt, und der Himmel scheint tausendfach verriegelt. Wohl naht zuletzt der heiligen Engel einer; aber warum doch statt des unmittelbar tröstenden Hereintritts des Vaters ein Engel nur? Erscheint es nicht fast wie eine Ironie, daß zu des Schöpfers Stärkung ein Geschöpf entsendet wird? - Und was war das für eine Stärkung, welche nur eine gesteigerte Bedrängniß zur Folge hatte? Denn „nun erst“, lesen wir, „kam es, daß Jesus mit dem Tode rang, und betete heftiger, und es ward sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.“ Großer Gott! Welche Schatten und Schauer in Gethsemane! Ja, der Vater waltet hier, aber im Dunkel wohnend: ein tief Verhüllter, ein Unbekannter, scheinbar im schneidendsten Widerspruche mit sich selbst, und von den Trümmern seiner eigenen Verheißungen und Betheuerungen umgeben.

Und nun die Blicke auf den Sohn gerichtet! O sagt, wer kennt Ihn wieder? In ein undurchdringliches Gewebe von ängstigenden Räthseln und Widersprüchen sehen wir auch Ihn verhüllt. Er ist der Mann, den Jeremias bestürzt im Geist erblickte, und mit den Worten schildert: „In seinem Innersten ist ihm das Herz zerschlagen und alle seine Gebeine erbeben.“ - Er ist der Dahingeschmetterte, welcher im Psalme von sich zeugte: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch.“ Er kündigte sich an als den, der die Welt erlösen werde; und wer erscheint der Erlösung bedürftiger, als er selbst? Er trägt den hohen Titel eines „Friedens surften“; und wo war jemals Einer an Frieden ärmer, als Er es ist? Seht nur, wie „unstät und flüchtig“ bald Gott seinen Vater, bald arme Menschenkinder um ein Labsal für seine zagende Seele angeht; aber nicht findet, was er sticht, sondern unerquickt aufs neue zu erzittern und zu beben genöthigt wird. Sein Auge ist voller Thronen, sein Mund voll Klage und Geschrei, und ach! sein Herz schmachtet in einer Kelter, die ihm den blutigen Angstschweiß aus den Adern preßt! O, ist das der Held, der einst die Stärke der Schwachen, der Trost der Trauernden, der Wankenden Hort, und der Schild der Streitenden war? ist das der Heilige in Israel, der weiland auf Alles gefaßt, ja mit Freudigkeit daherrief: „Siehe, ich komme; deinen Willen, mein Gott, thue ich gern, und dem Gesetz habe ich in meinem Herzen?“ Ich frage wiederholt: Wer kennt Ihn wieder in diesem Elendesten der Elenden, und wer erschaut in diesem zerknickten Rohr und bebenden Wurm noch den „Schönsten der Menschenkinder“?

Und nun seht endlich auch seine Jünger an, die das Maaß der Unbegreiflichkeiten voll machen. Während ihr Meister in unerhörten Beängstigungen mit dem Tode ringt, sehen wir sie, und noch dazu die drei Auserlesensten der kleinen Freundes-Schaar, schlaftrunken, ja übermannt vom Schlafe, am Boden liegen. Er weckt sie mit der fast flehentlichen Bitte, daß sie nur eine kleine Weile mit ihm wachen möchten; aber sie, als ginge er sie nichts mehr an, entschlummern aufs neue, und überlassen den Meister seinen Aengsten. Und in ihrer Zahl befindet sich auch der, der da sprach: „Und wenn sie sich Alle an dir argem, so doch ich nicht, und ob ich auch mit dir sterben müßte“; und ebenso der, welcher als der Lieblingsjünger einst an Jesu Brust lag; und der, welcher einst ein so entschloßnes „Ja“ auf des Meisters Frage hatte: „Könnt ihr den Kelch auch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen lassen mit der Taufe, da ich mit getaufet werde?“ - Ach ersehet hier, was es mit der Treue der armen Menschenkinder auf sich hat! Treu ist Einer nur; und nur auf Einen ist Verlaß in allen Fällen; und Einer schläft und schlummert nimmer bei der Seinen Noth: Der, um welchen her Alles schlief in jener bangen Nacht; nur seine Feinde nicht. - Wie aber konnten Angesichts jenes erschütternden Schauspiels die Jünger schlafen? - Ja, wie konnten sie? Muß man nicht annehmen, es sei dies mit natürlichen Dingen nicht zugegangen? Drängt sich Einem hier nicht gewaltsam der Gedanke an eine Einwirkung unheimlicher finsterer Mächte auf? Ihr seht, nach allen Seiten hin ist man in Gethsemane von Schauern umringt, und es kann Einem werden, als träumte man bei wachendem Zustande grauenhafte Fieberträume, oder als wären es nur Trug- und Schreckgesichte, die man in einem Delirium an sich vorüberschweben sehe. -

3.

Doch vergegenwärtigen wir uns den Verlauf des Oelbergskampfes näher. Kaum, daß Jesus mit den Dreien einige Schritte in das Dickicht des Gartens vorgedrungen, „Hub er (also vor ihren Augen schon) zu zittern und zu zagen an.“ Mit diesem „er Hub an“ gibt die Geschichte uns einen Wink, daß jetzt etwas bis dahin Unerhörtes über Ihn gekommen sei; zugleich aber bezeichnet sie damit die ihn ergreifende Roth als eine nach besonnener Vorkehrung in freiem Entschluß von ihm übernommene; Ihn selbst aber als einen Mann, der, wie ein Ausleger treffend bemerkt, „ unter dem Leiden etwas thue, und unter dem Thun etwas leide.“ „Zu trauern und zu zagen begann er.“ Eine unaussprechliche Schwermuth ergriff seine Seele; eine geheimnißvolle Angst umlagerte sein Gemüth. Marcus bringt nach der ihm eigenthümlichen, die heiligen Scenen mehr in's Einzelne ausmalenden und veranschaulichenden Darstellungsweise auch die Art des Trauerns Jesu unfrei Ahnung näher, indem er sagt, Jesus habe angefangen, „sich zu entsetzen.“ - Er bedient sich im Grundtext eines Wortes, welches ein plötzliches Mark und Bein durchschütterndes Erschrecken vor irgend einem Grauen erregenden Gegenstände anzeigt. Unverkennbar beabsichtigt der Evangelist, damit anzudeuten, daß die Ursache des Erzitterns Jesu nicht in Anschauungen und Erwägungen seiner Seele nur, sondern zugleich in Erscheinungen zu suchen sei, die von Außen her auf ihn eingedrungen. Es näherte sich ihm ein Ewas, das seine Nerven zu zerreißen, ja, dessen Anblick das Blut ihm in den Adern zu erstarren drohte.

Schon gleich nach dem ersten Angstanfalle wendet er sich zu den Dreien mit der seinen innersten Gemüthszustand tief beleuchtenden Aeußerung: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod.“ - Gewiß schließt sich der Sinn dieser Klage in dem Gedanken nicht ab: „Ich bin sterbenstraurig; die Angst bedroht mein Leben; obwol die Worte allerdings auch dieses, ja dieses zunächst besagen. Nach dieser Bedeutung schon eröffnen sie uns in die Tiefen der Seelenleiden des Mittlers einen um so erschütterndem Blick, je weniger bei den Reden dessen, der die Wahrheit selber ist, auch nur von ferne an Uebertreibungen gedacht werden darf. Das Betrübtsein bis in den Tod bezeichnet aber nicht blos das Maaß, sondern zugleich die Art und das Wesen seiner Bedrängniß. Wir lesen später, es sei dahin gekommen, daß er „mit dem Tode rang;“ und allerdings war es der der sündlosen Natur des Herrn als etwas Fremdes und Widersprechendes entgegentretende Tod an sich schon, vor welchem ein geheimes Grauen ihn erfaßte. Nicht war jedoch, was ihn erschütterte, der durch die Gnade versüßte Tod, der nur die Bande des Leibes löst, um die Seele in ihre Heimath einzuführen; sondern der Tod, der „der Sünde Sold“ heißet; der Tod, der als Fluch auftritt; der Tod, „dessen Gewalt“ nach apostolischem Ausspruch, „der Teufel hat“, und der als König der Schrecken dem tiefverschuldeten Adamssohne das Licht der Augen auslöscht, um es zu seinem Entsetzen erst vor den Schranken des jenseitigen Gerichts, und dann in den ewigen Wüsten ihm wieder anzuzünden. In dieses Todes Grauen fühlt sich der Bürge hineinversetzt, und dies nicht im Wege der Anschauung nur, sondern zugleich in demjenigen einer geheimnißvollen Aneignung. Man sage, was man wolle, ohne ein Festhalten an dem Begriffe der Stellvertretung findet man sich in dem Dunkel des Oelbergkampfes nimmer zurecht. Eine bloße Vorstellung des Sündertodes, von welchem Christus die Menschheit zu erlösen kam, hätte den Heiligen in Israel so zermalmend nicht erfassen können. Er kam in ungleich nähere Berührung mit jenem „letzten Feind“. Er leerte den Becher seiner Schrecken.

Beachtet nun, bis zu welcher Spitze seine Noth sich steigert. Mit jenem offnen Geständniß: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod,“ eilt er wie Einer, dem in seiner Hinfälligkeit auch die geringste Stütze und Labung hoch willkommen ist, zu den drei Freunden zurück, und spricht zu ihnen, nicht mehr wie ein Herr zu seinen Dienern, sondern wie ein Bedrängter und Trostbedürftiger zu seinen etwa zur Hülfeleistung befähigten Brüdern: „Bleibet hier und wachet mit mir!“ „Verlasset mich nicht,“ will er sagen; „eure Nähe ist mir tröstlich.“ Er bezeichnet mithin nicht sie, sondern sich als den Beklagenswerthen. „Bleibet hier!“ - In welcher grausen Umgebung muß er sich befunden haben, daß schon der Anblick dieser armen gebrechlichen Jünger ihm so erwünscht und wohlthuend erscheinen kann! „Bleibet hier!“ - Wie hätte er also bitten können, hätte er den Himmel über sich offen gesehn, und an der Brust des Vaters sich gebettet gefühlt, „Wachet mit mir!“ fügt er hinzu. Dieser Ausruf bezeichnet fast noch schärfer und umfassender den Nothstand seiner Seele, als das „Bleibet!“ Zunächst ist das „Wachet!“ freilich Mahnung an die Seinen, in dieser Stunde der Anfechtung auf ihrer Hut zu sein; zugleich aber nimmt der Herr damit ihre Theilnahme für sich in Anspruch, und bittet um ihr Mitleid. Ob gar auch um ihre Fürbitte? Ich wage es nicht zu behaupten. Gewiß aber stand des Herrn Fuß niemals noch weder vorher noch nachher in einem tiefem Grunde der Erniedrigung, als eben hier im Garten Gethsemane.

Kaum daß Er jene Worte zu den Seinen gesprochen hat, reißt er sich wieder unstät und in gewaltsamer Bewegung von ihnen los, und verliert sich aufs neue einen Steinwurf weit in das Innere des Gartens. Hier sehen wir ihn nun zum Staube niedersinken, auf seine Kniee zuerst, dann gar auf sein Angesicht; und nun ringt sich aus seinem sturmbewegten Innern zum ersten Male der flehentliche Seufzer los: „Abba, mein Vater, es ist dir Alles möglich. Willst du, so überhebe mich dieses Kelchs, und nimm ihn von mir. Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ - Habt ihr's vernommen? Ja, er wäre des Kelchs, den er eben trinken soll, und dessen Inhalt zu entsetzlich ist, gern überhoben; denn nicht ein fühlloser Stein, sondern ein wirklicher, jeder Schmerzensempfindung fähiger Mensch ist's, der in ihm leidet. Aber er begehrt die Verschonung lediglich unter der bei Ihm sich immer von selbst verstehenden Voraussetzung, daß dieselbe mit des Vaters Räch und Willen vereinbar sei. „Wenn es möglich ist,“ spricht er; meint jedoch nicht: möglich überhaupt, wie er denn das Wort vorausschickt: „Dir ist Alles möglich,“ und damit sagen will: „Wie, daß du nicht auch dieser Noth mich solltest entrücken können?“ sondern denkt nur an eine bedingte Möglichkeit innerhalb der Grenzen des Endzwecks, zu welchem Er erschienen sei. - „Wie aber,“ so höre ich einwerfen, „Christus kann noch fragen, ob die Erlösung der Menschheit auch ohne Kreuz, Blutvergießen und Tod zu Stande kommen können?“ - O nicht doch, lieben Brüder. Die Frage des Herrn beschränkt sich nur auf das gegenwärtige Grauen, auf den Gethsemanes-Kelch. - „Aber auch darnach mußte er erst fragen?“ - Laßt euch das nicht befremden, meine Lieben; vielmehr mahne dieser Umstand euch auf's neue daran, daß die Selbstentäußerung des Sohnes Gottes wesentlich mit darin bestand, daß er bis zu eine gewissen Grenze auch des Gebrauchs seiner göttlichen Vollkommenheiten überhaupt, und seiner unbeschränkten göttlichen Allwissenheit insbesondere sich begab, und dadurch in die Lage sich versetzte, mit uns einen Weg des Glaubens wandeln, und, nach apostolischem Ausspruch, „an dem, das er litt, Gehorsam erlernen“ zu können.

Mit der ganzen Macht heiliger Inbrunst und kindlicher Ergebung schlug das Gebet des göttlichen Dulders an die Pforten des Thronsaals Gottes an; aber kein Wiederhall kehrte von dort zurück. Der Himmel verharrt in tiefem Schweigen. Da fährt der Beter mit steigender Beängstigung vom Boden auf, eilt aufs neue zu seinen Jüngern, findet sie aber - wer vermag's zu fassen? - in tiefen Schlaf versunken. Hastig weckt er sie, und spricht mit wehmüthigem Ernste, zunächst zu Petto: „Simon, schlafest du? Vermöchtest du denn nicht eine Stunde mit mir zu wachen?“ - Zermalmende Frage für den Jünger, der so hoch sich vermessen und den Mund von Betheuerungen der Treue bis in den Tod, so voll genommen hatte! - Und nach diesem lichtet er an die Drei zusammen den erschütternden Warnungsruf: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet; der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.“ Was ihn diesmal zu den Jüngern zurückführte, war neben dem Trostbedürfniß seiner beängstigten Seele der Eifer seiner mütterlich fürsorglichen Liebe für sie, die sammt ihm ein bedenklicher Zauberkreis umgab. „Die Stunde der Finsterniß,“ auf die er früher warnend hingedeutet, war jetzt herbeigekommen. „Der Fürst dieser Welt“ hatte in voller Rüstung den Plan beschritten. Die Hölle sah jetzt für ihre Handstreiche alle Schranken sich geöffnet. Die räthselhafte Betäubung und Hinfälligkeit der Jünger kündet sich schon als eine Wirkung des unheimlichen Luftkreises an, in dem sie athmen. Da galt es denn wol, alle Kräfte des Geistes und Gemüths zusammen zu raffen, um nicht der Versuchung zu Aergerniß, Unglaube und Abfall zu erliegen. Denn das Wort „Hineingerathen“ bezeichnet hier so viel als „in die Versuchungsstricke sich verwickeln“. Das „Wachet!“ schließt Allarmruf in sich zur Nüchternheit und Vorsicht, und Warnung vor der Verkennung der drohenden Gefahr. Das „Betet!“ ist Feldherrnsignal zur Rüstung, Bescheidung in das Zeughaus Jehova's, und Ladung zur Quelle aller Kraft und Hülfe: der Gnade Gottes. Das „der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach,“ darf nicht als Entschuldigung für die Schlaftrunkenen gedeutet werden; sondern ist nur als nähere Begründung des Mahnrufs aufzufassen. Der Herr will sagen. „Vertrauet euern frommen Entschließungen nicht. Eure sündige und so leicht zu berückende Natur bedarf, zumal „ein unheimlicher Einfluß von Außen herzutritt, viel stärkerer Zügel!“ - Von einem „willigen Geiste“ kann übrigens, beiläufig bemerkt, nicht im Blick auf alle Menschen, sondern nur, sofern es sich von Gläubigen handelt, die Rede sein, weßhalb denn auch jener Wächterruf des Herrn nur ihnen gilt. Ob der Herr, wie Manche meinen, die Worte „der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach,“ auch auf sich selbst bezogen habe, in welchem Falle aus dem Worte „Fleisch“ allerdings der Begriff des sündlichen hinwegzudenken wäre, steht sehr in Frage. Ich wenigstens möchte Bedenken nagen, es zu glauben.

Wiederum eilt der Herr in das Dickicht des Gehöftes zurück, und zum andern Male verlautet, in etwas veränderter Gestalt nur, das brünstige Gebet: „Mein Vater, ist es nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gebe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille.“ - „Eindringlicher“ noch, meldet der Evangelisten einer, habe er dieses zweite Mal gebetet: doch will er damit nicht etwa sagen, er habe ungestümer um die Verschonung gefleht, denn zuvor; sondern im Gegentheil habe er, nachdem er hinter dem Schweigen seines himmlischen Vaters schon die Verneinung seiner nur fragenden Bitte gewittert habe, sich mit vermehrtem Kraftaufwande nur noch tiefer in den Glaubensgehorsam hinein zu leiden und hinein zu kämpfen sich bemüht. Sein inneres Grauen war übrigens dabei in fortwährender Steigerung begriffen. Nachdem er vom Gebete aufgestanden, suchte er abermals seine Jünger; fand sie aber neuerdings schlafend. Sie schliefen „vor Traurigkeit“, meldet die Geschickte; - und wie Gram und Kummer auch die Lebensgeister lähmen und binden können, haben wir selbst wol schon erfahren; - „und ihre Augen waren voll Schlafs.“ Und da er abermals sie weckte, „wußten sie in ihrer Betäubung nicht, was sie ihm antworteten.“ - Zum dritten Male zog sich nun der Herr in seine Einsamkeit zurück, sank wieder zum Staube, und betete dieselben Worte. Da - o, was begibt sich? - Ein Engel Gottes schwebt zu dem Ringenden herab, und nähert sich ihm, um „ihn zu stärken“. Diese unerwartete Erscheinung eines himmlischen Wesens mußte dem Herrn, der sich bisher mit seinen innern Anschauungen nur in die düstere Sphäre sündiger Menschen und verworfener Dämonen eingekerkert sah, an und für sich schon zu nicht geringem Trost gereichen. Was aber der leuchtende Bote dem göttlichen Dulder überbrachte, war nicht etwa die Kunde, daß der Vater gewillt sei, die Bitte um Verschonung ihm zu gewähren, sondern, wenn er überhaupt mit einer Botschaft kam, nur die- erneute ausdrückliche Eröffnung, daß der große Erlösungsplan die Wegnahme des Oelbergskelches nicht gestatte. Das Wahrscheinlichste indessen ist, daß es mit der Engelsendung blos auf eine körperlich-seelische Stärkung und Neubelebung des bis auf den innersten Lebensgrund Erschütterten abgesehn war, damit er bei dem letzten und schwersten Akt des Kampfes wenigstens dem Leibe nach nicht erläge. Denn gleich nach des Engels Rückkehr „kam es, daß Jesus mit dem Tode rang, und betete heftiger. Es war aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.“ Welch' eine Erscheinung! Nur von einem Menschen noch, von Karl IX. von Frankreich, der die Pariser Bluthochzeit auf dem Gewissen hatte, will man behaupten, daß auch er auf seinem Sterbebette unter den Anklagen des Richters in seiner Brust, im buchstäblichen Sinne des Wortes blutigen Angstschweiß vergossen habe. Denkt, jener Mörder Tausender von Gliedern Christi, und Christus, der Heilige Gottes selbst, in gleichem Falle! Wer entsetzt sich hier nicht; aber wem geht hier nicht zugleich in dem dunkelsten und grausenerregendsten Momente des Oelbergkampfes eine dämmernde Ahnung von dem Wesen und der Bedeutung der Passion Immanuels auf? Doch hievon ein Weiteres in unfrei nächstfolgenden Betrachtung.

4.

Wenden wir uns für heute nur noch ein Mal jenem geheimnißvollen Gebete zu, an welchem weniger die Welt, als der Glaube der Gläubigen so oft sich stoßen will. Bald nemlich weiß man's mit der Liebe des Herrn nicht zu vereinen, bald nicht mit seiner Unterthänigkeit unter des Vaters Rathschluß, bald mit seiner Allwissenheit nicht, noch mit seinen“ früheren in so großer Ruhe und Gefaßtheit ausgesprochenen Vorherverkündigungen der ihm bevorstehenden Leiden, daß er nun plötzlich eine Befreiung von eben diesen Leiden begehren könne; und wenn man auf Einwände dieser Art erwiedert, daß die Seele Jesu während des Oelbergkampfes als in einem Zustande göttlich gewollter schwerer Verdunklung befangen zu denken sei, so wird entgegnet, daß doch die Klarheit und Innigkeit, womit er nach wie vor zu Gott als seinem Vater rede, keineswegs auf eine solche Verdunkelung schließen lasse. So scheinen sich denn allerdings unauflösliche Räthsel und Widersprüche hier vor uns aufzuthürmen; doch wird sich das Dunkel lichten, wenn wir Folgendes in Erwägung ziehen:

Was zuvörderst den aus der vorausgesetzten Allwissenheit des Herrn entnommenen Zweifel anbelangt, so wiederholen wir, was wir vorhin berührten. Die Selbstentäußerung des ewigen Sohnes bestand wesentlich darin, daß er sich des unbeschränkten Gebrauchs aller seiner göttlichen Eigenschaften, mithin auch der genannten, für die Zeit seines Erdenwandels begab, und aus der über Raum und Zeit erhabenen Ewigkeit in die Form des Zeit- und Raumlebens eintrat, um auch an seinem Theile, gleich wie wir, den Weg des Glaubensgehorsams zu wandeln, und in demselben zu unserm Haupte, Hohenpriester und Mittler sich zu vollenden. Als „der Knecht Jehova's“, mit welchem Namen die alttestamentliche Offenbarung ihn bezeichnet, mußte er dienen, nicht gebieten; Unterthänigkeit „lernen“, nicht herrschen; kämpfen, nicht über allen Kämpfen in stolzer Ruhe thronen. Wie hätte dies aber für den Gottgleichen ohne eine Selbstbegrenzung möglich werden können? Alle seine Kämpfe und Prüfungen wären dann nur Scheinkämpfe und Scheinprüfungen gewesen, und nicht wirkliche. Er hörte keinen Augenblick auf, wahrhaftiger Gott, und im Vollbesitze aller göttlichen Vollkommenheiten zu sein; aber Er enthielt sich des Gebrauchs derselben in soweit, als sein himmlischer Vater Ihm denselben nicht gestattete. -

Zum Andern ist zu beachten, daß der Herr in Gethsemane nicht um Abwehr der über ihn verhängten Todesleiden überhaupt, sondern nur um Wegnahme des gegenwärtigen besondern Grauens bittet. Wie hätte Er, der den von seinem Passionsgange ihn abmahnenden Jünger mit jenem darniederschmetternden: „Hebe dich hinter mich, du Satan, denn du meinest nicht, was göttlich ist“, zurückwies, jetzt selbst das dem Rathschlusse Gottes Widerstreitende begehren können? Er fragt nur, ob es möglich sei, daß dieser Kelch an ihm vorübergehe, und meint den Kelch allein, dessen Bitterkeiten und Schrecken er eben kostete.

Daß Christus während seines Kampfes Gott noch als seinen Vater weiß, hat nichts Befremdliches, und widerspricht der Annahme nicht, daß Er am Oelberge den Kelch des göttlichen Gerichtes für unsre Sünden leerte. Denn nur noch durch den Glauben Gott als seinen Vater wissen, und Ihn als Vater gegenwärtig fühlen, und im Genusse seiner Liebeshuld Ihn erfahren, ist zweierlei. Allerdings rang sich Jesu Geist in tiefem Glaubenskampfe zum tröstlichen Kindesbewußtsein immer wieder durch; aber was sein seelischer Mensch empfand, war nur Fluch, Entfremdung und Verwerfung.

Der Zweifel endlich, ob das Dranggebet des Herrn mit seiner Sünderliebe, sowie mit seiner Unterthänigkeit unter den väterlichen Rathschluß in Einklang stehe, ermangelt vollends jedes Grundes. Jesu Liebe wie sein Gehorsam feiern gerade in Gethsemane ihren glänzendsten Triumph. Er wendet sich an den Vater ja mit der Frage nur, ob es unbeschadet des Wertes der Erlösung geschehen könne, daß dieser Kelch an ihm vorübergehe. Denn daß er nur diese bedingte Möglichkeit im Auge habe, und nicht die Allmacht Gottes überhaupt zu seiner Errettung in Anspruch nehme, gibt er, um jedem künftigen Mißverständniß vorzubeugen, selbst schon unzweideutig durch das seiner Frage vorausgeschickte: „Vater, es ist dir Alles möglich“, zu erkennen. „Das“, will er sagen, „weiß ich wol, daß, sobald du willst, mein Kampf geendet ist; aber wirst du es wollen können, ohne daß die Rettung der Sünder dadurch vereitelt werde? Wenn nicht, dann, Vater, weise mich mit meiner Bitte ab. Ich trinke dann den Kelch bis auf die Hefen!“ - Nicht anders aber, als wie mit seiner Liebe, verhält sich's mit seinem Gehorsam gegen seinen Vater. Nicht einen Augenblick hieß seines innersten Wesens Losung anders, als: „Nicht wie ich, sondern wie du willst, Vater!“ Wollte sich in unsündlicher Schwachheit der menschlich seelische Wille in ihm dawider streuben, so erfaßte denselben sogleich der Wille des Geistes und übermochte ihn mit dem Rufe der entschiedensten Hingebung: „Abba, dein Wille geschehe, nicht der meine!“ - Freilich mußte dieser Ruf wie eine Siegesbeute der in ihrem Nothstande widerstrebenden Natur abgerungen werden; und nur in ähnlicher Weise, wie ein vom Sturm erfaßtes Schiff zwar fest und unverwandt nach der Richtung des Magnets, doch nicht so geraden und gleichen Laufes, wie zur Zeit der Meeresstille, dem Hafen entgegensteuert, drang der Geisteswille Jesu in den Willen Gottes ein. So lange ihm die unbedingte Nothwendigkeit der Oelbergsmarter noch in Frage stand, wurde sein Herz wie von brandenden Wogen hin und her geworfen. Sobald ihm aber aus dem andauernden Schweigen des himmlischen Vaters schon die Gewißheit wurde, daß die Welt nicht anders zu erlösen sei, denn durch eine vollständige Leerung auch dieses Kelches, gestattete dem leidesflüchtigen Menschen in sich auch nicht einen Laut mehr, sondern vollzog mit einem: „Mein Vater, ist's nicht möglich, daß dieser Kelch an mir vorübergehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille,“ den großen Opferakt der rückhaltlosesten und kindlich willigsten Hingabe seines ganzen Ich an den väterlichen Rathschluß.

5.

Der Schreckenskelch ward bis auf den Grund geleert. Der Herr erhebt sich vom Staube, und eilt zurück zu seinen Jüngern. Dir ganze Art seines jetzigen Auftretens ist bis auf Haltung, Blick und Ton der Stimme eine wesentlich veränderte, und deutet auf Ermuthigung, Ernennung und Siegesbewußtsein. Man sieht's: triumphirend geht er aus dem Kampf hervor, und ist gerüstet und gegürtet für alles noch Zukünftige. „Schlafet denn immerhin und ruhet,“ beginnt er mit wehmüthig strafendem Ernste; „es ist genug.“ - „Um meinetwillen,“ will er sagen, „Ist's nicht mehr noth, daß ihr wachet. Ich bedarf eures Beistandes nicht mehr. Mein Kampf ist durchgekämpft.“ - Was aber will der Zusatz: „Es ist genug“? Was Anderes als: „Es wird euch fortan das Schlummern schon vergehn.“ Diese Deutung fordern die unmittelbar darauffolgenden Worte: „Siehe, die Stunde ist hie; des Menschen Sohn wird überantwortet in der Sünder Hände.“ - „Jetzt“, will der Heiland sagen, „geht's an den Leib und an des Leibes Freiheit; wer wird da noch an Schlafen denken?“ Er weiß, welche Stunde ihm geschlagen hat. Nicht ohne Grauen, doch seiner Empfindungen Herr, geht er der Ueberantwortung in die Hände der „Sünder“, denen er sich mit diesem Ausdruck unverkennbar als den Heiligen gegenüber stellt, festen Schrittes entgegen. „Stehet auf!“ lautet der nur tapfere Entschlossenheit athmende Schluß seiner Worte. „Lasset uns gehn“, fährt er fort; „siehe, der mich verräth, ist nahe!“ - Welch' einen verhängnißvollen Aufbruch signalisirt dieses: „Lasset uns gehn!“ Der Held in Israel zeucht hin, Tod, Teufel und Hölle für uns in ihren stärksten Schanzen anzugreifen und zu überwinden. Beugen wir Ihm anbetungsvoll das Knie, und geben Ihm mit Halleluja's das Geleite!

So ist denn die geheimnißvollste Geschichte, welche die Welt gesehn, mit ihren ergreifenden Zügen an unserm Blicke vorübergegangen; und wem unter uns hätte sich das Gefühl nicht aufgedrängt, daß zur Lösung ihrer Räthsel die Schlüssel nicht reichen, welche menschliche Seelenkunde uns an die Hand gibt. In keinem Märtyrerthume der Welt findet sich etwas dem Oelbergkampfe auch nur von ferne Entsprechendes. Daß wir's hier vielmehr mit einem Leiden einziger Art zu thun haben, liegt auf der Hand. Aber ich möchte sagen: das widerspruchsvolle Dunkel Gethsemane's setzt, sobald es seinen Gipfelpunkt erreicht, sich selbst in Licht und Klarheit, und erzeugt mit Notwendigkeit den Gedanken an Stellvertretung, Genugthuung, Opfer. Nur an dem leitenden Faden dieser Begriffe finden wir uns in jenem Irrgewinde zurecht. Gehen wir demselben, den nicht menschliche Willkür zog, sondern den Gottes Wort uns in die Hand legt, gläubig nach, so entdecken wir, wo Anfangs nur Schauer und Aengste unser Herz ergriffen, die strömende Quelle unseres ewigen Friedens, und enden damit, daß wir frohbewegt die Worte des alten bekannten Liedes zu den unsern machen:

Im Garten ward die Todesfrucht gepflückt,
Im Garten ward das höchste Gut verloren;
Und Du hast einen Garten dir erkoren,
Wo Du dem Rachschwert Gottes mich entrückt.
Hier wurdest Du in Traurigkeit versenkt,
Mit Furcht und Schrecken um und um befangen,
Daß ich von Allem, was mich nagt und kränkt,
In Deiner Angst Befreiung möcht' erlangen. - Amen.

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