Krummacher, Friedrich Wilhelm - Ein erneutes Vorwärts!
Phil. 3. 12 - 16.
Nicht daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen sei. Ich jage ihm aber nach, ob ich's auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich es ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vornen ist; und jage nach dem vorgesteckten Ziele, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu, Wie viele nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnt sein; und solltet ihr in etwas anders gesinnet sein, so wird euch Gott auch dieses offenbaren. Nur daß wir in dem, wozu wir gelangt sind, nach einerlei Regel wandeln, und gleich gesinnet seien!
Auch im Christenleben gibt's, wie ihr seht, ein Vorwärts. Ja, Freunde, wenn irgend wo Stillestand Rückgang ist, dann grade hier. Aber sind sich alle Gottespilger dessen klar bewußt? Ich bezweifle es, und erachte es wenigstens nicht für überflüssig, daß es ihnen von Feit zu Feit wieder neu eingeschärft werde. Selbst in der sonst so vortrefflichen Gemeine zu Philippi hatten sich manche Gläubige zu frühe zur Ruhe gesetzt. Der Apostel weckt sie, und ruft ihnen durch Vorhaltung seines eigenen Beispiels ein nachdrucksvolles „Vorwärts!“ Auch uns ruft er's, und ich glaube nicht, daß es in unsrer Versammlung in's Blaue fahren werde. Worin besteht denn das christliche Vorwärts? Wir werden's hören. Leihen wir dem Apostel unser Ohr, und vernehmen, zuerst, wozu er im Glaubensleben bereits gelangt ist; und sodann, wonach er sich ausstreckt.
Gebe der Herr, daß das apostolische Wort, das freilich nicht leicht Jedermann verständlich zu machen ist, aber im Zusammenhange unsrer Wallfahrtsbetrachtungen nicht fehlen darf, auch unter uns „fahe,“ und seinen heilsamen Zweck an uns erreiche!
I.
Der Apostel beginnt mit einem Geständniß, das in der Gemeine zu Philippi, und namentlich bei denen, die sich schon fertig wähnten, seinen tief beschämenden Eindruck nicht verfehlt haben wird. Der große Mann, der Besieger der heidnischen Welt, der hellleuchtendste Stern am Himmel seiner Zeit, bekennt, er habe es noch nicht ergriffen, er sei noch nicht vollendet, d. i. er stehe noch nicht am Ziele, und wiederholt diese Aussage in demselben Athem, indem er den Philippern zuruft: „Brüder, ihr mögt vielleicht höher von mir halten; ich selbst aber schätze mich noch nicht, daß ich es schon ergriffen habe!“ - Man möchte denken, Jeder, der diese Worte vernehme, könne sich durch sie nur zur Bewunderung der Wahrhaftigkeit, Lauterkeit und ungefärbten Demuth des großen Apostels fortgerissen fühlen. Aber allerlei Gelichter ist schon darüber hergefallen, und hat die Worte entweiht, verdreht, und sie irgend einem profanen Interesse dienstbar zu machen gesucht. So haben die römisch Katholischen auf sie ihre die Priesterherrschaft stützende Lehre gründen wollen, daß kein Gläubiger hinieden seiner zukünftigen Seligkeit gewiß werden könne, sondern nur in dem Momente, da er die Absolution des Beichtstuhls empfange, an dieser Hoffnung sich erlaben dürfe; wenige Minuten darauf aber schon wieder zweifeln müsse. Als ob derselbe Apostel, der hier bekennt: „Ich schätze mich selber nicht, daß ich es schon ergriffen habe,“ nicht unmittelbar vorher in diesem selben Briefe sagte: „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn,“ und dann, nicht einen Augenblick ungewiß, wo einst sein Schifflein landen werde, in den Ruf freudigster Zuversicht ausbräche: „Ich habe Lust, abzuscheiden, und bei Christo zu sein!“ - Außer aller Frage stand es ihm, daß sein Abscheiden von dieser Welt mit seiner Erhebung in die Gemeinschaft seines verklärten Hauptes in einen Moment zusammenfallen werde. - Die Rationalisten halten uns den apostolischen Ausspruch: „Nicht daß ich es schon ergriffen habe,“ zum Beweise vor, daß auch die hohen Apostel nicht dafür gehalten hätten, daß sie sich schon im Besitze der vollen, reinen, absoluten und untrüglichen Wahrheit befänden. Als ob es nicht Jedem auf den ersten Blick sich kund gäbe, daß dieser ganze Brief aus dem lebendigen Bewußtsein des Apostels hervorgeflossen sei, daß er im Namen des Herrn rede, und nicht im eigenen Geiste; und als ob nicht hunderte von Aussprüchen aus seinem Munde gegangen wären, wie der: „Wir reden Gottes Weisheit, die Gott verordnet hat vor der Welt zu unsrer Herrlichkeit. Uns hat Gott sie geoffenbart durch seinen Geist; und was er uns geoffenbaret hat, reden wir nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Heilige Geist lehret!“ - Endlich haben sogar auch Libertiner ihren Fleisches- und Sündendienst mit unserm Paulus-Ausspruche beschönigen zu wollen sich nicht entblödet, indem sie sich darauf beriefen, daß ja selbst die hochgepriesenen Apostel offen gestanden hätten, sie seien noch lange keine Heiligen. Nein, Heilige, d. h. Sündenfreie sind sie allerdings noch nicht; aber was fällt jenen profanen Menschen ein, daß sie auch nur von Ferne mit den Aposteln sich zusammenzustellen wagen? Sie mögen hören, wozu der Apostel Paulus bereits gelangt war, als er in tiefer Demuth die Worte, die sie so schnöde mißbrauchen, den Philippern schrieb. Hören mögen sie's, und sich tief vor ihm verkriechen! -
Paulus sagt uns, „er sei von Christo ergriffen“ worden. - In etwa werdet ihr alle den Sinn dieser seiner Aeußerung fassen, ihr, die ihr ja wißt, was es heiße, ergriffen, oder gefangen genommen sein von einem herrschenden Zeitgeist, von einer Parteirichtung, von einem großen Philosophen, oder von was für einer geistigen Macht sonst es sei. Ja, es ist Vielen unter euch sogar Aehnliches schon, wenn auch nur entfernt Aehnliches, widerfahren, wie unserm Paulus; und diese werden ihn noch besser verstehen. Wenn ihr, die Weltgeschichte durchwandernd, den Hereintritt des neuen göttlichen Lebens in die Todeserstarrung der Völker wahrnahmt, und dann den siegreichen Fortgang des Reiches Gottes durch die Welt in sinnendem Geist verfolgtet: wie groß erschien euch da der Mann, von dem diese neue Geisterbewegung und Lebensgestaltung ausgegangen! Wie majestätisch stand der Davidssohn aus Bethlehem vor eurer Seele! Wie lebhaft durchdrang euch das Gefühl, dieser Schöpfer eines neuen Aeons müsse wirklich mehr gewesen sein, als ein bloßer Mensch, und höherer Verehrung würdig, als sie Sterblichen gebühre! Seht, Freunde, in solchen Momenten war eure Seele von Christo wenigstens berührt. Versetzt euch in die Stimmung, die damals über euch kam, zurück, und ihr seid dem Verständniß dessen, was der Apostel von sich aussagt, schon um einige Stufen näher gerückt. Noch näher rückt ihr demselben, erinnert ihr euch daran, wie oftmals euch geschehen ist, wenn Er, der dem Apostel Eins und Alles war, im Spiegel des Evangeliums an euch vorüberwandelte. Wenn ihr Ihn erblicktet so erhaben, und so milde zugleich; im Strahlenglanze seiner Wunder, und im größern seiner herablassenden Liebe; in seiner Charfreitagsgeduld, und in seiner Osterherrlichkeit. O, wie überwältigte es euch da! Wie wurdet ihr zum Kniebeugen und Niederfallen bald, und bald wieder zum Hosianna- und Hallelujaschreien hingenommen! - Ja, da waret ihr abermals mehr noch, als nur berührt von Christo; ihr waret mächtig von Ihm bewegt und angefaßt. Aber das Ergriffenfein von Christo, dessen Paulus gedenkt, ist noch etwas Anderes. Jedenfalls sieht er hier zunächst auf sein bekanntes Wundererlebniß bei Damaskus zurück, da der Herr ihm mitten in seinem Verderbenslaufe das donnernde „Halt!“ gebot, ihm in einem Nu als den Sohn des lebendigen Gottes, und zugleich als „Jesus,“ d. i. als seinen einigen Retter und Seligmacher sich offenbarte, und er mit dem Rufe huldigender Uebergabe in den Staub darnieder sank: „Herr, was willst du, daß ich thun soll!“ Da hatte ihn der Herr „ergriffen.“ Aber dieses „Ergriffensein von Christo“ steigerte sich, je völliger im Fortgange seines Lebens sich der Herr in seiner Königsmajestät, und sonderlich in seiner Mittlerherrlichkeit und Heilandsschöne vor ihm enthüllte. In diesem Bilde erwies Er sich an ihm, dem armen, gebeugten Sünder, schlechthin unwiderstehlich. Paulus war von ihm überwältigt, kam von Ihm nicht wieder los, ward Seine Trophäe, Seine Siegesbeute, und blieb für alle Ewigkeit an Ihn gekettet. Und von Ihm ergriffen und Sein eigen, ergriff der Apostel nun auch seinerseits Ihn als seinen Seligmacher, und hatte in Ihm ein freies Gewissen, Kindesrecht bei Gott, Lust zu Gottes Gesetz, und Hoffnung des ewigen Lebens. Mancher gelangte nach ihm ebenfalls dahin. Aber nachdem er von der Welt errettet ist, sich Christo ergeben, die Absolution durch Ihn empfangen, und seinen Wandel christlich eingerichtet hat, ruht er, und dünkt sich am Ziele. „Und das wäre er noch nicht?“ - Um seine Seligkeit würde mir nicht bange, nähme ihn Gott hinweg; aber seine Christenaufgabe für das diesseitige Leben hat er nur theilweise erst erkannt. In seinem Fähnlein fehlt das „Vorwärts!“ und so schwebt er in Gefahr, geistlich wieder einzuschlafen, zu einem abständigen Christen zu verkümmern, ein Mensch zu werden, der nur noch den Rock und Zuschnitt eines Christen trägt, aber des Christenlebens baar ist, und bei welchem sich's am Ende doch wieder in Frage stellt, wohin er fahren werde.
2.
Hört nun den Apostel! „Nicht daß ich's schon ergriffen habe, oder schon vollendet sei, (d. i. am Ziele stehe.) Ich jage ihm aber nach, ob ich's ergreifen möchte, nachdem (oder: wozu) ich auch von Christo ergriffen bin.“ Hier weht ein frischerer Wind uns an! Hier kein Schimmelgeruch, keine Stagnation, sondern geistige Regung und Bewegung hier, und ein fröhliches, energisches „Vorwärts!“ - Aber was ist das „es“, das der Apostel noch nicht ergriffen zu haben bekennt? Manche denken an das Kleinod der jenseitigen Seligkeit. Aber daß er in den Himmel noch nicht eingegangen sei, brauchte uns der Apostel nicht erst zu versichern. Es meinen Andere, die christlichen Tugenden seien es, die dem Apostel vor Augen schwebten. Aber für's erste paßte dazu das Zeitwort „ergreifen“ nicht; oder wäre der Ausdruck wohl ein angemessener, wenn man sagen wollte: „Ich habe die Demuth, die Sanftmuth, die Liebe, die Versöhnlichkeit u. s. w. noch nicht ergriffen?“ Gewiß nicht. Sodann würde der Apostel den Gläubigen zu Philippi, die seine Anschauung und Richtung noch nicht in Allem theilten, wenn sich's um die Tugenden handelte, nimmermehr eine Milde und Nachsicht haben angedeihen lassen, wie das Schlußwort unseres Textes: „Solltet ihr aber in etwas anders gesinnt sein“ u. s. w., sie athmet. Denn das ist ja aller Christen erste und unerläßlichste Pflicht, daß sie in der Nachfolge Jesu jede Tugend sich anzueignen streben, die sie an ihrem großen Vorbilde bewundern, und wer in diesem Trachten sich nachlässig erwiese, dürfte am allerwenigsten auf eine Indulgenz Seitens des Apostels Paulus sich Rechnung machen. Endlich hat die Vorstellung, daß der Christ einzelne Tugenden auf's Korn zu fassen und nach einander zu erobern habe, wol Niemandem je ferner gelegen, als grade dem Manne, den wir heute zu uns reden hören. Er weiß, daß nichts dabei herauskomme, und z. B. der Geizhals, der sich die Tugend der Freigebigkeit, der Auffahrende, der die der Sanftmuth, der Hoffährtige, der diejenige der Demuth sich einüben wollte, immer beutelos von seiner moralischen Jagd zurückkehren würde, es wäre denn, daß er die, freilich sehr schätzenswerthe, Beute der Entdeckung seines gänzlichen sittlichen Unvermögens mit sich zurück brächte. -
Was aber ist es denn, das der Apostel noch nicht ergriffen hat? Paulus hat sich so ganz an den Gedanken gewöhnt, daß alles Heilige und Gute allein aus Christo, dem himmlischen Urborn, fließe, daß, wo er, wie an unsrer Stelle, unbestimmt sagt: „Ich habe es noch nicht ergriffen“, wir sicher gehen, wenn wir von vorneherein annehmen, er meine nichts und Niemanden, als seinen Christus. „Aber warum redete er dann nicht deutlicher, und sagte: Nicht, daß ich Ihn schon ergriffen habe?“ - Ich meine, dies begreife sich leicht. Ihn hatte er, wie er eben erst in den unserm Texte vorangehenden Kapitel-Versen ausdrücklich versicherte, freilich schon ergriffen, d. h. als seinen einigen Trost im Leben und im Sterben im Glauben Ihn erfaßt. Aber er hatte seinem Dafürhalten nach lange nicht Alles, was ihm in Christo als in einer unerschöpflichen himmlischen Schatzkammer von Gott geschenkt war, vollkommen und seinem ganzen Umfange nach sich angeeignet; und diese durchgreifende und erschöpfende Aneignung ist das Ziel, welchem er aus allen Kräften zustrebt.
Ich will die Sache euerm Verständniß noch näher bringen. Es begegnen uns viele gläubige Christen, - auch wir, so Viele unser zu glauben meinen, werden uns denselben wohl beizählen müssen, - denen das Christentum nicht abzusprechen ist, deren Leben und Verhalten aber mit ihrem Glauben keinesweges schon in vollem Einklange steht; die vielmehr hinter dem, was sie mit ihrem Katechismus bekennen, praktisch noch weit zurückgeblieben sind. Nicht, als ob sie nicht sittlich und unsträflich wandelten. Thäten sie das nicht, so wären sie nach dem bekannten Ausspruche des Herrn: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ keine wahren Jünger. Nur zu oft aber, wie sie selber klagen, nimmt die Welt mit ihren armen Reizen, sie noch gefangen, obwohl ihnen, wie sie rühmen, in Christo eine Herrlichkeit erworben und beigelegt worden ist, die ihnen die Welt mit all' ihrem Scheinprunk ganz in den Hintergrund drängen, und in den tiefsten Schatten stellen sollte. Oft fühlen sie sich ihrem eigenen Geständnisse nach noch sittlich so schwach und unvermögend, und fehlen sogar noch mannigfaltig. Mein Gott! ist es denn nur eine Redensart, daß Christus 'ihnen auf Schritt und Tritt mit seinem Geist und seiner Hülfe zur Seite stehe, und seine Kraft in ihrer Schwachheit mächtig sei? - Häufig mangelt ihnen der volle innere Frieden, die reine Harmonie der Seele. Wie geht dies zu? Wer sollte doch Frieden haben, wenn nicht sie, die, wie sie versichern, durch Jesu Blut von allen ihren Sünden gewaschen, zu Gottes Eigenthum erkauft, und dem Allmächtigen für immer auf's beste empfohlen sind? Es widerfährt ihnen auch nicht selten, daß sie sich um dies und das noch mit schweren Sorgen schleppen; und ihrer Lehre nach hält doch Gott, der sie nur in Christo, ihrem Haupt und. Bürgen, ansieht, über ihnen Tag und Nacht in väterlich fürsorgender Liebe das Auge offen! Nicht selten treffen wir sie niedergeschlagen noch, ja gründlich traurig, trotzdem, daß um Christi willen Gottes Herz, Gottes Geleit, Gottes ganze Gnadenfülle, und Gottes Himmel mit allen seinen Seligkeiten ihre ist! - Beleidigt finden sie sich oft, ja tief gekränkt. Wie soll man das fassen, wenn man von der Ehre hört, zu welcher sie in Christo von Gott erhöhet seien, und deren Vergegenwärtigung sie ja über Alles, was Ehre bei der Welt heißt, hoch hinwegheben sollte? Unversöhnlich gar fühlen sie sich je und dann. Ihr werdet fragen: „Wie ist es möglich, daß Einer unversöhnlich sei, in dem das Bewußtsein lebt, daß sich der große, heilige Gott ihm, dem elenden und verlornen Sünder, in Christo versöhnet habe?“ Ja, Freunde, in wem dieses Bewußtsein lebt, der wird freilich mit Freuden an einem Tage „siebenmal siebenzigmal“ vergeben. - Ferner geschieht es noch, daß sie dem Tode gegenüber ein Zittern ankommt. Man denke, sie, denen Christus „die Auferstehung und das Leben“ ist! Ja, der Gedanke an das zukünftige Gericht stößt ihnen nicht selten noch Angst und Schrecken ein. Wie kann nur vor dem Gerichte noch ein Mensch erschrecken, mit dessen innerem Leben die Wahrheit verwuchs, daß er in Christo gerecht sei vor Gott, und darum auf immer allem Gericht entnommen? Seht, lauter Widersprüche! Aber ihr ahnet schon des Räthsels Lösung. Jene Leute sind allerdings von Christo ergriffen worden, und haben hinwiederum auch Ihn ergriffen; den ganzen Christus aber ergriffen sie noch nicht, d. h sie haben noch lange nicht Alles, was sie an Ihm, in Ihm, und durch Ihn besitzen, sich vollständig und lebendig angeeignet. Erkannt mögen sie es haben; aber es ward noch nicht im vollen Sinn des Worts ihr eigen, sondern steht noch als ein zwar bewundertes, aber noch nicht in Besitz genommenes Erbe außer ihnen. Darum gehen sie noch auf verlähmten Füßen, und sind der Sorgen und Zweifel noch so voll, und leiden noch an so vielen Gebrechen, während sie, wenn jene Aneignung geschehen wäre, und die ganze Herrlichkeit, zu der sie in Christo gelangten, in ihrem Glaubensbewußtsein lebenskräftige Wurzeln geschlagen hätte, Welt, Tod und Teufel überwunden haben, zur vollen Herrschaft über die Sünde durchgedrungen, und tüchtig geworden sein würden, ihren höchsten Beruf zu erfüllen, nemlich in ihrer ganzen Erscheinung lebendige Spiegel des Schönsten der Menschenkinder darzustellen in der Welt, zum Lobe Gottes, und zur Verherrlichung des Namens Jesu Christi.
Ich denke, daß es euch jetzt klar sein wird, was der Apostel mit seinem: „Nicht daß ich es schon ergriffen habe“ sagen wolle. Wohl war er damals schon in der Aneignung Christi und seines Heils, sowie im Gemeinschaftsleben mit Ihm über uns alle weit, weit hinaus. Nichtsdestoweniger fühlte auch er sich von dem Ziele einer vollkommenen, umfassenden und erschöpfenden Aneignung der in Christo der Sünderwelt zu Theil gewordenen Gnaden und Heilsschätze noch immer fern. „Eins aber“, spricht er, „darf ich von mir sagen. Ich jage ihm nach, ob ich es ergreifen möchte, nachdem, (oder besser, wozu) ich auch von Christo Jesu ergriffen bin.“ Ja, Christus ergriff ihn, damit er je länger je mehr Ihn, Christum, ganz ergreife, ganz sich Ihn zu eigen mache. Dieses „Wozu“ ihres von Christo Ergriffenseins lassen Viele außer Acht. Wie machen sie's? Sie bleiben am Anfang ihrer Bekehrung haften, beruhigen sich damit, daß sie in Christo den Bürgen ihrer zukünftigen Seligkeit fanden, weiden sich an dem Abstande ihres jetzigen Wandels gegen ihr früheres Leben, da sie der Welt noch angehörten, und haben von einer höheren Aufgabe, die ihnen gestellt sei, keine Ahnung, als von der, in dem Geleise christlich-sittlichen und gottesdienstlichen Verhaltens zu verharren, in das sie nach dem Vorbilde anderer Jünger bei ihrer Bekehrung eingetreten sind. Paulus hingegen spricht: „Ich vergesse, was dahinten ist.“ Nicht, als erinnerte nicht auch er sich gerührten Dankes voll alles dessen, was die Gnade schon früher Großes an ihm that. Ihr wißt, wie oft er mit bewegter Seele namentlich auf das zurückkommt, was er als ein ewig Entscheidendes für ihn auf dem Damascuswege, und später im Tempel zu Jerusalem erlebte. Aber ihm genügt es nicht, daß er dem Teufel aus dem Rachen gerissen, die Sünde ihm vergeben, und sein Fuß auf den Weg des Lebens gestellt ward. Einem Wettläufer in der Rennbahn sich vergleichend, der nicht rückschauend, sondern nur das Ziel im Auge, mit vorgestreckten Armen dem Preise zujagt, spricht er: „Ich strecke mich aus zu dem, das da vorne ist.“ Was ist ihm „da vorne?“ - Wir wissen's jetzt. Er muß Christum immer gründlicher kennen lernen, sich immer tiefer in Ihn versenken, immer inniger sich mit Ihm vereinigen, und immer vollständiger durch den Glauben alles das sich zu eigen machen, was in Christo ihm an Gütern, Vorrechten, Aussichten und Kräften von Gott geschenkt ward; denn er weiß, daß dies der Weg ist, auf dem er nicht allein immer reicher an Trost und Frieden, sondern auch immer tüchtiger zur Ueberwindung der Welt, immer heiliger, immer himmlischer gesinnt, und Christo ähnlicher werde. Trachtend nach solcher völligen Ergreifung und Zueignung der Gnade Gottes in Christo strebt er dem Endziele seiner Laufbahn, „dem Kleinode zu, welches vorhält die himmlische Berufung in Christo Jesu.“ Dieses „Kleinod“ ist allerdings der Siegerpreis, der des Ueberwinders jenseits wartet: die Krone der Gerechtigkeit, das „Erbtheil der Heiligen im Lichte.“
Auffallend klingt, was der Apostel weiter sagt. „Wie Viele nun unser vollkommen sind, die lasset uns also gesinnet sein!“ Den „Vollkommenen“ ruft er ein ermuthigendes „Vorwärts!“ Aber welche sind die „Vollkommenen“, denen er sich selber beizählt? Hat er doch eben erst versichert, er sei nicht vollkommen? Offenbar bedient er sich des Wortes hier in einem andern Sinne, als oben; ja, es ist im Grundtext nicht einmal dasselbe Wort. Das Wort im Anfang unsres Textes bezeichnet, was unser deutsches „vollendet“, oder „beim Ziele angelangt“, während das hier gebrauchte Wort nur in beziehungsweiser Bedeutung den Begriff des „Vollkommenen“ ausdrückt. Der Apostel versteht hier unter den „Vollkommenen“ ganz unverkennbar die mündigeren Christen, die seiner Anschauung und Richtung sind, und gibt denselben zu verstehen, daß die einzige Vollkommenheit, die hienieden zu erreichen sei, in dem rastlosen Streben bestehe, des Herrn Christi sich eben so zu bemächtigen, wie Er sich unser bemächtigt habe. Schön und treffend sagt der Kirchenvater Augustin, Paulus rede hier von der Vollkommenheit des Renners, und nicht von der des schon beim Ziele Angelangten; von der Wallfahrtsvollkommenheit, und nicht von der Vollkommenheit der Heimath, des himmlischen Vaterlandes.
Befremdender noch, als jener Zuruf der Ermunterung, könnten uns die Schlußworte erscheinen. Der Apostel sagt: „Und solltet ihr in etwas anders gesinnt sein, so wird euch Gott auch dieses offenbaren; nur daß wir in dem, wozu wir gelangt find, nach einerlei Regel wandeln, und gleich gesinnet seien!“ Nicht wahr, das klingt seltsam? Aber beachtet wohl, daß der Apostel nicht sagt: „Solltet ihr etwas Anderes glauben oder lehren. Eine Abweichung von der geoffenbarten Wahrheit hätte der sicher so milde nicht beurtheilt, welcher im Namen Gottes den Bann über Jeden aussprach, der „ein anderes Evangelium“ predigen würde, als von ihm gepredigt worden sei. Wir haben die Verschiedenheit der Standpunkte, die der Apostel im Auge hat, nicht auf dem Gebiete des Glaubens, sondern auf dem des praktischen Lebens zu suchen. Der Apostel denkt an solche Christen, die, nachdem sie von Christo ergriffen worden sind, und auch Ihn insoweit ergriffen haben, als sie sich zu Ihm der Vergebung ihrer Sünden und der Hoffnung des ewigen Lebens versehen, nun gleichsam mit Christus fertig zu sein, vermeinen, und in dem Sinne sich zur Ruhe setzten, daß sie sich fortan zu weiter nichts berufen glauben, als in Führung eines sogenannten christlich sittlichen Lebens dem Erlöser ihre Dankbarkeit zu bezeugen. Wer will diese Richtung und Gesinnung tadeln? Paulus schilt sie auch nicht. Aber jene Leute haben ihre Aufgabe doch nur erst sehr mangelhaft begriffen, und gerathen leicht dahin, daß bei ihnen Glaube und Leben ohne organischen Zusammenschluß vereinzelt neben einander hergehn, und letzteres, statt zur Gottseligkeit sich zu verklären, zu einem rein menschlichen Moralismus herabsinkt. - Wie viele Gläubige gibt es, an deren Wandel nichts auszusetzen ist; auf welche aber weder das Prophetenwort: „die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie die Adler“, noch das Wort des Herrn: „Wer an mich glaubt, von deß Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers stießen“ eine Anwendung erleidet. Woher das? Sie haben einmal aus dem lebendigen Brunnquell Christus den Trunk der Rechtfertigung gethan, aber nicht auch als den Brunn ihrer ganzen Heiligung Ihn erfaßt. Zu frühe traten sie aus dem Verhältnis) des Empfangens und Schöpfens aus Ihm und Seiner Fülle heraus. Dies ist das „in etwas anders gesinnt Sein“, welches der Apostel auch einigen Gliedern der Gemeine zu Philipp! vorrückt. Doch da sie es überhaupt treu und redlich meinen, lebt er der zuversichtlichen Hoffnung, Gott werde ihnen auch diesen kranken Fleck ihres Christenlebens noch aufdecken, und ihnen das Rechte „offenbaren.“ „Er fügt aber, als Bedingung, unter der diese Hoffnung sich verwirklichen werde, hinzu, „nur daß wir in dem, wozu wir gelangt sind, nach einerlei Regel auch wandeln, und gleich gesinnet seien!“ - Der Apostel kann hiemit nichts Anderes sagen wollen, als dies: „Nachdem ihr zu Christo bekehret, und durch Ihn der Vergebung eurer Sünden theilhaftig worden seid, begehrt ihr Ihm euern Dank zu bezeugen, und wollt Ihm dienen! - Wohl!
Aber macht nun auch mit diesem euerm löblichen Vorsatz vollen Ernst! Dienet dem Herrn mit demselben Eifer, mit welchem ich meinem Ziel zustrebe. Sehet zu, daß ihr z. B. eure Feinde liebt, daß ihr segnet, die euch verfluchen, daß euer Sinn nicht nach hohen Dingen stehe, daß ihr geduldig seid in aller Trübsal“, u. s. w. „Auf diesem Wege“, denkt der Apostel, ohne es auszusprechen, „werdet ihr bald bankbrüchtig werden, ein immer tieferes Bewußtsein von dem Verderben und der Ohnmacht eurer Natur gewinnen, in Folge dieses schmerzlichen Befundes einen neuen mächtigen Drang zur Ergreifung Christi als desjenigen, der uns nicht allein zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, sondern auch zur Heiligung und zur Erlösung von Gott gemacht ist, in euch verspüren, und so unversehens in die Bahn meines Trachtens und Ringens euch hineingeleitet finden.
So habt ihr euch denn, Geliebte, auf's neue überzeugt, wie voll der Apostel Paulus von seinem Christus war, und wie er in Ihm Alles suchte und fand, was zum Leben und zur Gottseligkeit dient. Dieser Umstand sollte einen tiefen Eindruck auf uns machen. Denn wo hätte die Geschichte uns nach ihm einen Mann aufzuweisen, der an gottgeweihtem Sinn, weltüberwindendem Glauben und heiligem Leben ihm auch nur von ferne zu vergleichen wäre? Luther erachtete sich nicht werth, ihm die Schuhriemen aufzulösen; und er mochte in dieser Selbstschätzung wohl Recht haben. - Wie, daß wir denn noch, gilt es die Wahl eines Wegweisers, einen Augenblick zwischen ihm und den modernen Geistern schwanken können, die von der himmlischen Berufung des Menschen nicht einmal eine Ahnung haben, geschweige in Bezug auf sie einen ersprießlichen Rath uns ertheilen können? Drum dem Apostel nach! Seinen Weg betreten, seine Richtung eingeschlagen, und Ohr, Herz und Gemüthe ihm aufgethan, wenn er auch uns in dem Sinne, den wir erkannt haben, ermunternd zuruft: „Vorwärts!“
Ja, Vorwärts! Weit noch ist der Weg,
Bis du das Kleinod ganz errungen,
Und in das innerste Geheg'
Des Gnadenreichs bist vorgedrungen!
Gekostet hast du erst vom Quell,
Den Gott in Christo dir gegraben.
Greif' tiefer, du, sein Israel,
Und laß dich gründlicher erlaben!
Nicht nur als einen Feuerbrand
Dich dem Verderben zu entrücken:
Dein Mittler kam, mit dem Gewand
Der eignen Tugend dich zu schmücken.
Gott kennt dich nur im hehren Glanz
Der Schöne deß, der dich versöhnte,
Und legte auf dein Haupt den Kranz,
Mit dem Er deinen Bürgen krönte!
Was Gott in Ihm an Recht und Licht
An Trost und Kräften dir bereitet,
Und Hehres dir gestellt in Sicht:
Du hast's nicht halb noch ausgebeutet.
Drum vorwärts, bis du's ganz gefaßt,
Daß du Welt, Sünde, Tod und Hölle
In Ihm längst überwunden hast;
Und dann erst sprich: Ich bin zur Stelle! - Amen.