Krummacher, Friedrich Wilhelm - VII. Geheiligte Freundschaft.
Nicht oft genug können wir uns daran erinnern, daß die Welt, in welcher das Leben Davids verläuft, noch nicht diejenige war, deren Luft wir gegenwärtig athmen. Zwar leuchtete auch jener bereits das Licht der geoffenbarten Wahrheit, und es wandelte auch durch sie der lebendige Gott in Großthaten und Wundern bald der aushelfenden Liebe, bald eines heiligen richterlichen Zornes sich verherrlichend. Aber es ward „das Wort“ noch nicht „Fleisch“, es ersah sich der Heilige Geist die gottentfremdete Erde noch nicht zur bleibenden Werkstatt, und der Thron der Gnade erschien den Sündern nur erst noch als Gegenstand der Hoffnung im Dämmerlichte einer fernen Zukunft. Der Hebräerbrief entschleiert uns in seinem 12ten Kapitel die weite Kluft, die zwischen der Haushaltung des alten und der des neuen Bundes befestigt war. „Ihr“, ruft er den Christen zu, „seid nicht gekommen zu dem Berge, den man anrühren konnte, und der mit Feuer brannte, noch zu dem Dunkel und zu Finsterniß und Ungewitter, noch zu dem Hall der Posaune, noch zur Stimme der Worte, welcher sich weigerten, die sie hörten, daß ihnen das Wort ja nicht gesagt würde: denn sie mochten es nicht ertragen. Und also erschrecklich war das Gesicht, daß Moses sprach: Ich bin erschrocken und zittre. Ihr seid gekommen zu dem Berge Zion, und zu der Stadt des lebendigen Gottes, zu dem himmlischen Jerusalem, und zu der Menge vieler tausend Engel; und zu der Gemeine der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über Alle, und zu den Geistern der vollkommenen Gerechten, und zu dem Mittler des neuen Testaments Jesu, und zu dem Blut der Besprengung, das bessere Dinge redet, denn Abels.“ So gebührt es uns denn nicht, an das Leben und Verhalten der Genossen des vorchristlichen Gottesreichs denselben Maßstab anzulegen, wie an das der so überschwänglichen Vorzüge gewürdigten Erlöseten Christi. Je weniger wir aber dazu befugt sind, um so tiefer beschämt uns, was auch unter den Kindern des alten Bundes schon sittlich Großes und Preiswürdiges sich uns darstellt. Ein Solches ist unter Andern, das hehre Freundschaftsbild, dem wir heute begegnen werden, und das dazu angethan ist, uns, in deren Mitte so häufig die Klage verlautet, daß keine Treue mehr im Lande wohne, daß auf Niemanden mehr Verlaß sei, und Freunde in der Noth zu den seltneren Perlen gehörten, auf's allertiefste zu demüthigen. David und Jonathan bieten dieses Bild uns dar. Möge es in demselben Maße, in welchem es uns eine lebhafte Bewunderung abnöthigt, auch uns richten; aber nicht, ohne uns zugleich läuternd zu erheben, und zur Nachfolge anzufeuern.
1 Sam. 20, 16. 17. Also machte Jonathan einen Bund mit dem Hause Davids, und sprach: Der Herr fordere es von der Hand der Feinde Davids, (d. i. der Herr nehme Rache an Davids Feinden.) Und Jonathan fuhr fort, und schwur David Treue, dieweil er ihn so lieb hatte, denn er hatte ihn so lieb als seine Seele.
Die Liebe Jonathans zu David wird durch eine dreifache Entdeckung, die er macht, auf eine schwere Probe gestellt. Es eröffnet sich ihm ein Blick in die wahre Gesinnung, die der königliche Vater gegen seinen Freund, den Heldenjüngling, hegt, in die hohe göttliche Bestimmung, die dem geliebten Freunde Seitens Gottes zugedacht ist, und in die Gefahr, welche ihm, dem Jonathan, durch seine Verbindung mit David droht. Er wird die Probe glänzend bestehen. Weiden wir uns an diesem herzerhebenden Schauspiel.
1.
David hat sich von Najoth zunächst nach Gibea zurückbegeben. Pflichtgefühl und Verlangen nach seinem Busenfreunde mochten ihn vorzugsweise hiezu bewegen. Auch lag es ihm an, seine Gemahlin, die Michal, durch den Augenschein zu überzeugen, daß er, was auch wider ihn anstürme, nicht von Gott verlassen sei. Wir treffen ihn wieder bei seinem Herde, und zwar in dem Momente, da er dem Jonathan sein volles tief bewegtes Herz ausschüttet. Nachdem er demselben mitgetheilt, was sich zu Rama und Najoth begeben habe, hören wir ihn mit der Betonung schmerzlichster Wehmuth sagen: „Was that ich doch, und womit habe ich an deinem Vater mich versündigt, daß er mir nach dem Leben trachtet?“ Jonathan bemüht sich ihm diese Befürchtung als eine übertriebene darzustellen. „Ferne sei es“, spricht er, „daß du sterben sollest. Mein Vater läßt mich Alles wissen, was er im Sinne hat. Wie sollte er mir eine Absicht verhehlen, wie du sie argwöhnst?“ David versichert dem Freunde mit einem Schwur, daß Saul nichts Geringeres, als seine Ermordung im Schilde führe. „Dein Vater weiß,“ spricht er, „daß ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe; um dich nicht zu betrüben, hat er sein Vorhaben vor dir verborgen. So wahr der Herr und so wahr deine Seele lebet: es ist nur ein Schritt zwischen mir und dem Tode!“
Wir stutzen. War dem David plötzlich der Muth entfallen? Das sei ferne! Wie aber hätte es ihm gleichgültig sein können, ob er seines Lebens unter Meuchlerhänden verlustig gehe, oder im Dienste Gottes um irgend einen hehren gottgefälligen Preis es in die Schanze schlage? Daß er zu Letzterm allaugenblicklich bereit war, wird uns nach alledem, was wir bereits an ihm erlebten, nicht einen Augenblick in Frage stehn. Aber welchen Fluch würde der König Saul auf sein eignes Haupt, und welch' Unheil über das Volk, das er vertrat, herabbeschwören, wenn ihm sein ruchloser Anschlag gelingen sollte! Gäbe er dadurch nicht Israel dem Hohne aller Völker preis? Schon diese Erwägung mußte den David vor dem Vorhaben seines königlichen Herrn erzittern machen. Zudem vergesse man auch nicht, daß den Gläubigen des alten Bundes überhaupt der Tod noch nicht der Engel mit der Friedenspalme war, als den wir, die wir durch das Evangelium „Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht“ sehen, ihn kennen, oder doch ihn kennen sollten. Wenn demohnerachtet auch uns noch, wie es zu häufig geschieht, der Gedanke ein Grauen einflößt, daß „nur ein Schritt sei zwischen uns und dem Tode,“ wie wollen wir uns unterfangen, den Manu der alttestamentlichen Haushaltung zu bemängeln, wenn wir ihn in seiner schwerbedrohten Lage den Wunsch äußern hören, wenigstens der Todesart, die man ihm zugedacht, entgehen zu können. Jonathan will denn der feierlichen Betheurung seines Freundes, daß der Vater nach seinem Blute dürste, nicht weiter widersprechen, ob er auch immer noch an der Begründung der düstern Voraussetzung Davids eines leisen Zweifels sich nicht erwehren kann. „Ich will an dir thun,“ spricht er, „was dein Herz begehrt.“ Nur zu bald jedoch fand auch er Gelegenheit, in betrübendster Weise sich zu überzeugen, daß des Freundes Sorge mehr als Einbildung sei. Das Neumondfest trat ein, zu dessen Feier auch gehörte, daß man in Israel zwei Tage nacheinander bei einem solennen Gastmahl das Fleisch der dargebrachten Dankopfer verspeiste. Auch in der königlichen Hofburg wurde es so gehalten, indem Saul bei aller Abtrünnigkeit und Verstocktheit seines Herzens doch um des Volkes willen nicht verfehlte, die levitischen Gebräuche seines Cultus möglichst pünktlich wahrzunehmen. Zu allen Zeiten gab es Fürsten, die gleichfalls nur darum der Theilnahme an den öffentlichen Gottesdiensten, deren sie in engern Kreisen Gleichgesinnter vielleicht ihren Spott hatten, sich nicht entzogen, weil sie wohl erkannten, daß mit dem religiösen Glauben des Volks auch das Ansehn des Eides hinfallen, und mit diesem zuletzt auch ihre Thronen und alle gesellschaftlichen Ordnungen in's Wanken gerathen würden. Bei der Festtafel zu Gibea wurde natürlich auch der königliche Eidam erwartet, nachdem dessen Rückkehr von seiner Flucht gemeldet worden war. Wie konnte aber nach Allem, was vorgegangen war, der König auf Davids Theilnahme an dem Mahle rechnen?
Ohne Zweifel schmeichelte sich Saul mit dem Gedanken, David werde aus des Königs Verhalten zu Najoth auf eine bei demselben eingetretene Sinnesänderung geschlossen haben, und von der Möglichkeit einer Versöhnung träumen. David aber hatte zu solcher Voraussetzung keinerlei Anlaß gefunden. Vielmehr wußte er jetzt zur Genüge, wie des Königs Herz zu ihm stehe. So gab er denn dem Jonathan seinen Entschluß kund, diesmal bei der Tafel nicht zu erscheinen, und bezeichnete ihm zugleich in der Nähe der Stadt einen Ort, vielleicht eine ländliche Hätte oder eine Felsengrotte, in der er sich verborgen halten werde und wohin ihm Jonathan nach dem zweiten Festmahle Nachricht überbringen möge, ob und wie der König sich über ihn geäußert und wessen er sich zu demselben zu versehen habe. Falls sein königlicher Vater nach ihm frage, solle er sagen, er, David, habe sich auf kurze Zeit zu einem Opferfeste nach seiner Vaterstadt Bethlehem begeben. Eine Nothlüge also? O nein! Bethlehem lag nahe bei Gibea und war in kürzester Frist mit dem Versteck, wo Jonathan seinen Freund treffen sollte, wieder zu vertauschen. David fuhr zu Jonathan fort: „Wenn dein Vater eine Billigung meines Ganges nach Bethlehem kund giebt, so steht vielleicht in der That eine erwünschte Aussöhnung mit ihm in Aussicht. Wird er dagegen ergrimmen, so überzeuge dich, daß Böses bei ihm beschlossen sei. Uebe nun Barmherzigkeit an deinem Knechte; hast du doch mit mir einen Bund in dem Herrn gemacht. ist aber eine Missethat an mir, so laß mich sterben von deiner Hand. Nur zu deinem Vater nöthige mich nicht zurücke!“ Auf diese ebenso rührende als edelherzige Rede erwiderte Jonathan: „Ferne sei es von mir, daß ich dir's nicht ansagen sollte, sobald ich merke, daß mein Vater Böses wider dich im Schilde führt.“ Nach diesem Zwiegespräch wanderten die beiden Freunde selbander hinaus in's Feld und verabredeten, in welcher Weise David von dem Ergebniß der Beobachtungen Jonathans in Kenntlich gesetzt werden solle. Falls es unvermerkt geschehen könne, so wolle Jonathan ihm persönlich den Bescheid überbringen. Im entgegengesetzten Falle aber werde er, als gelte es einer Waffenübung, am Abende des dritten Tages mit seinem Bogen auf einen dem Verstecke Davids nahe gelegenen Wegstein zielen; und wenn er dann dem Knaben, der ihm die abgeschossenen Pfeile zurückholen solle, mit lauter Stimme befehlen werde: „Siehe, die Pfeile liegen hierwärts hinter dir, bringe sie her,“ so diene ihm dies zu einem Zeichen, es sei Friede und habe keine Gefahr. Rufe er dagegen: „Dortwärts, vor dir, liegen die Pfeile,“ so bedeute dem Freunde dies, daß es bedenklich für ihn sei, vor dem Könige zu erscheinen, daß der Herr ihn vielmehr fliehen heiße. Warum aber wollte er Anstand nehmen, wenn für David nichts zu befürchten stände, ihm diese Botschaft persönlich zu überbringen? Um Davids willen lag ihm daran, dem Scheine vorzubeugen, als habe derselbe erst lange dazu beredet werden müssen, sich dem Könige zu zeigen. Ueberdies gedachte Jonathan dem Argwohn jede Nahrung zu entziehen, als sei die Reise Davids nach Bethlehem ein erlogener Vorwand gewesen. Es war somit lediglich eine zarte Rücksicht, die den Jonathan das genannte Zeichen wählen ließ, und die Klugheit, deren er sich dabei bediente, trifft in keinerlei Weise ein Vorwurf.
Jonathan befand sich allerdings in einer schwierigen Lage. Nicht nur sollte er zwischen seinem Vater, der zugleich sein König und Herr war, und seinen vom Vater verfolgten Freunde vermitteln, sondern auch gegen den ersteren für diesen Partei nehmen. Aber nach allen Seiten hin wußte er die schwere Aufgabe mit einem wahrhaft heiligen Takt zu lösen. Dem Freunde den Scheidebrief zu geben, dazu konnte ihn der Haß, den der Vater gegen denselben hegte, nicht bewegen. Der Bund mit David war, wie wir vernommen, wahrhaft in dem Herrn geschlossen. Jonathan liebte in David den Geliebten und Auserwählten Gottes und einen Mitgenossen an Gottes Reich. Er würde geglaubt haben durch eine Lossagung von dem Freunde mit frevelnder Hand ein Band zu zerreißen, das Jehova selber geknüpft, und in der Person Davids, dieses Augapfels des Herrn, den Allerhöchsten selber zu verleugnen. Demohnerachtet hat Jonathan nicht in einem einzigen Falle weder die Ehrfurcht und Liebe, noch die Aufrichtigkeit verletzt, die er seinem Vater und Könige schuldete; und vermittelst der Vorsichtsmaßregeln, die er zum Schutze Davids ergriff, gedachte er nur dem Vater den Weg zu einem Verbrechen abzuschneiden, um dessentwillen der Zorn Gottes sein gesalbtes Haupt hätte treffen müssen. Auch nicht einen Augenblick hat Jonathan des göttlichen Gebotes, das Vater und Mutter ehren heißt, vergessen, und darum auch die Verheißung reichlich an sich erfüllt gesehen, welche diesem Gebote beigegeben ist. Jonathan hat „lange in dem Lande gelebt, welches ihm der Herr sein Gott gegeben hatte. Im ersten Buch der Chronika Kap. 9 finden wir seine Nachkommenschaft bis in das zwölfte Glied fortgeführt, und vernehmen, daß dieses Geschlecht durch seine ritterlichen Tugenden noch nach Jahrhunderten seinen edlen Urahn verherrlicht habe.
Unserer großen Dichter einer legt das Geständniß ab, daß er in dem Unglück jedes, auch seines besten Freundes, etwas finde, das ihm nicht gänzlich mißfalle. Ein Anderer behauptet aus eigener Erfahrung, daß der erste Eindruck, den ein Mißgeschick, von welchem Jemand betroffen ward, auf das Menschenherz mache, eine geheime Freude darüber sei, daß man nicht selbst der Getroffene sei. Wie sehen sich solche Egoisten durch das Exempel jenes israelitischen Jünglings, des Jonathan, gerichtet! Uebrigens ist die lautere, sich selbst verleugnende Jonathansliebe Gottlob! auch heute auf Erden noch nicht ausgestorben.
2.
Auf dem Feldwege nach der Zufluchtsstätte Davids kam es zwischen den beiden Freunden noch zu einem rührenden und herzerhebenden Auftritt. Nachdem Jonathan dem David wiederholt und zwar unter feierlicher Betheuerung bei dem Gott Israels die Versicherung gegeben, daß er, was immer in seines Vaters Hause über ihn berathschlagt und beschlossen werde, sofort zu seiner Kenntniß bringen wolle, spricht er bewegt und mit gehobener Stimme: „Der Herr sei mit dir, wie er mit meinem Vater gewesen ist.“ Ein schwerwiegendes „Wie“; denn darin war der Herr mit Saul gewesen, daß er ihn auf den Thron Israels erhoben und ihn mit Sieg um Sieg über seine Feinde gekrönt hatte. Jonathan fährt fort: „Halte ich nicht, was ich dir zugeschworen, so thue der Herr keine Barmherzigkeit an mir weder dieweil ich noch lebe, noch wenn ich sterbe; und wenn der Herr die Feinde Davids ausrotten wird einen jeglichen aus dem Lande, so reiße du doch deine Barmherzigkeit nicht von meinem Hause ewiglich!“
Wir verstehen den edeln Königssohn. Das Geheimniß der Zukunft Davids hatte sich ihm zu entsiegeln angefangen. Ob er's aus des Freundes bisherigem Lebensgang gefolgert, oder eine göttliche Offenbarung darüber empfangen hatte: genug, es ist ihm kein Räthsel mehr was im Rathe der unsichtbaren Wächter über David beschlossen sei. Welcher andere Thronfolger hätte bei gleicher Berechtigung durch eine Entdeckung, wie Jonathan sie gemacht, sich nicht in die äußerste Bestürzung versetzen und zu einem unauslöschlichen Hasse gegen den rechtlosen Nebenbuhler entflammen lassen? Jonathan legte dagegen, und nicht aus schwächlicher Nachgiebigkeit, sondern mit männlicher Entsagung und freudiger Entschlossenheit Krone und Scepter, sein künftiges Erbe, dem David zu Füßen, weil es ihm außer Frage stand, daß er dieses Opfer nur dem allerhöchsten Lehnsherrn im Himmel bringe, der sich die Alleinherrschaft über Israel vorbehalten habe. Er richtet an den Freund, als sähe er ihn bereits im königlichen Purpur, nun die Bitte, er möge einst, wenn das unvermeidliche Gottesgericht über alle seine Feinde hereinbrechen werde, mit ihm und seinem Hause glimpflich verfahren. Wo in weiter Welt begegnet uns ein gleiches Beispiel aufopferungsfähiger Unterordnung unter den göttlichen Rathschluß und selbstverläugnungsvoller geheiligter Freundschaft, wie es hier unsere ganze Bewunderung in Anspruch nimmt? Man müßte ein Einsiedlerleben geführt, und namentlich fern von den Höfen der „Götter dieser Erde“ seine Tage verbracht haben, um sich noch mit der Einbildung täuschen zu können, als seien selbst inmitten der Christenheit die Jonathansseelen mehr als äußerst seltene Perlen. Welche Schauspiele kläglichster Art bieten sich uns da nur zu häufig dar. Nicht um so Großes, wie eine Krone, braucht sich's zu handeln, nein, nur um die Erbeutung eines Titels, einer Rangerhöhung, eines Ehrenzeichens, oder was für einer menschlichen Gunstbezeugung sonst, und welch' schnaufendes Wettrennen, welch' kleinliches Scheelsehen, welch' eifersüchtelndes sich Vordrängen des Einen vor den Andern selbst zwischen Freunden und Freunden tritt da nur zu oft zu Tage! Und wären diese sogenannten „Befreundeten“ aber in glühender Mißgunst einander den Rang ablaufenden Bewerber nur Kinder dieser Welt, die auf den Christennamen keinen Anspruch machten! Aber dem Evangelium zur Schmach fehlt es in jenem Troß auch an Solchen nicht, die das Aushängeschild der Gläubigkeit vor sich hertragen und vielleicht gar im Priesterrocke sich spreizen. Ja, ist es doch selbst nicht unerhört, daß die Concurrenten in jener Rennbahn sich gegenseitig Fallgruben zu legen und in der Maske der Freundschaft, ja selbst mit der Miene, für die Mitbewerber empfehlend und entschuldigend in den Riß treten zu wollen, einander ebenso arglistig wie verstohlen in den Augen der Glücks- und Gnadenspender zu verkleinern und zu verdächtigen suchen. O wie das Exempel eines Jonathans diese Art verdammt! Mögen jene falschen Brüder, zumal, wenn sie den Namen Christi kennen und nennen, sich vorsehn, daß sie nicht dem Urtheil des Apostels verfallen, der von ihnen spricht: „Mit der That verleugnen sie den, welchen sie erkannten, und sind ein Greuel vor Gott, und untüchtig zu allem guten Werk!“ David nimmt die bedeutsamen Worte seines Freundes schweigend hin. Wie hätten sie ihn nicht auf's tiefste ergreifen und bewegen sollen? Lösten sie doch ihm selbst ein neues Siegel von dem Geheimniß, das er seit der Salbung in Bethlehem still in seinem Busen barg. Seine gegenwärtige Lage freilich schien mit der hohen Bestimmung, auf welche die Salbung, und jetzt die bedeutsamen Worte Jonathans hinüberwinkten, im grellsten Widerspruch zu stehen. Aber er dachte, was der 135te Psalm ausspricht: „Alles was der Herr will, das thut er im Himmel und auf der Erde, im Meer und in allen Tiefen,“ und beschwichtigte mit diesem Gedanken den Empfindungssturm in seinem Innern. Seine Seele lag gebeugt am Staube vor seinem Gott. Auch abgesehn von der ihm eröffneten Fernsicht, wie hätte er Worte finden können für die Rührung, welche ihn Angesichts einer Liebe, Selbstverleugnung und Hingebung übermannte, wie sie, als ein Abglanz himmlischer Sinnesweise, in seinem Jonathan ihm hier entgegentrat? Sein ganzes Innere war aufgelöst in Dank gegen den Allerhöchsten für den Schatz, mit dem er ihn in diesem Freunde gesegnet hatte. Jonathan wußte sich das Verstummen Davids zu deuten, und reichte ihm, nicht minder bewegt, auf baldiges Wiedersehn die Hand zum Abschied. So blieb David denn einsam in seinem vielleicht von einem Waldesdickicht umschlossenen Verstecke zurück. Daß letzteres ihm zu einem stillen Betkämmerlein ward, steht außer Zweifel. Verabschieden auch wir uns für eine Weile von unserm Freunde, um jetzt Zeugen eines Auftritts zu sein, der zu dem eben angeschauten einen schreienden Gegensatz bildet.
3.
Das Neumondfest brach an. Der feierliche Opferakt ist eben vollzogen. Die Tafelrunde Sauls füllt schon die Säle der Hofburg. Der König tritt in dieselben ein. Jonathan geht ihm ehrerbietig entgegen, und läßt sich bei Tische zu seiner Linken nieder. Zu des Königs Rechten sitzt Abner, sein Vetter und kampfgeübter Feldherr. Davids Platz bleibt leer. Der König ist schweigsam, sein Auge sieht düster. Er vermißt den Eidam zu seiner Seite; denkt aber, irgend ein gesetzliches Hinderniß könne ihm in den Weg getreten sein. Als aber David auch am zweiten Tage nicht erscheint, richtet Saul an Jonathan die Frage: „Warum hat sich der Sohn Isai,“ - so nennt er ihn fremd und kalt, - „weder gestern noch heute hier blicken lassen?“ Jonathan entschuldigt den Freund, ohne sich einer Unwahrheit zu bedienen, mit dessen Ausflug nach Bethlehem zum Opferfeste seines Geschlechts. Plötzlich lodert in dem Könige der alte Zorn wieder auf, und wie mit einem Hagelwetter von Schimpf- und Scheltworten fährt er über seinen Erstgeborenen her. „Du ungehorsamer Bösewicht!“ schnaubt er: „Wohl weiß ich, daß du den Sohn Isais auserkoren hast dir und deiner Mutter, (als wärest du nicht ihr Sohn, und darum auch nicht der rechtmäßige Thronerbe,) zur Schmach und Schande. Denn so lange der Sohn Isais lebt auf Erden, wirst du und dein Königreich nicht bestehn. So sende nun hin, und laß ihn herbringen zu dir; denn sterben soll er!“ - Man denke sich die Bestürzung, in welche dieser väterliche Wuthausbruch den Jonathan versetzte. Abgesehen von dem erschütternden Eindruck, den es auf das Herz des Sohnes machen mußte, sich von seinem Vater einen „ungehorsamen Bösewicht“ schelten zu hören, überzeugte er sich mit Entsetzen, daß der Vater, dem ohne Zweifel auch ein Licht über Davids künftige Bestimmung aufgegangen war, demselben in der That mit vollem ganzem Ernste den Tod geschworen habe. Er versucht den Tobenden zu beschwichtigen. „Warum“, beginnt er, „soll David sterben? Was hat er gethan, daß du ihm zürnest?“ Aber auf eine schauerliche Weise wird er in seiner Rede unterbrochen. Der König greift nach seinem Speer, um ihn zu durchbohren. Jonathan weicht dem mörderischen Stoße aus, und eilt, da er wenigstens für jetzt jeder Hoffnung auf Besänftigung und Versöhnung des Vaters entsagen muß, in äußerster Aufregung und tiefster Bekümmerniß von dannen. Am folgenden Tage aß und trank er nichts vor Traurigkeit. Wen wird es Wunder nehmen? Man versetze sich in seine Lage. Das Gotteswort: „Des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißt sie nieder“ hatte er zwar noch nicht vernommen; wohl aber war ihm bewußt, mit welchem Ernst und Nachdruck das göttliche Gesetz den Kindern Ehrfurcht, Untertänigkeit und Gehorsam gegen Vater und Mutter einschärfe. Und nun hatte er des Vaters Zorn und Haß gegen sich entflammt, und mußte besorgen, daß diesem auch der Mutter Fluch sich zugesellen werde, wenn er seinem Freunde Treue halte, ja, demselben sogar den Weg zum väterlichen Throne bahnen helfe. Sollte er die Liebe und den Segen seiner Eltern, und überdies das Glück und den Fortbestand des väterlichen Herrscherhauses der Freundschaft Davids opfern? Welche Beängstigungen wird diese Frage ihm verursacht haben, zumal, da er nach der Schreckensscene bei der königlichen Tafel sich's nicht länger verhehlen konnte, daß er durch ein ferneres Eintreten für den Freund den Vater zum Aeußersten reizen, und das eigne Leben auf's Spiel setzen werde. Dennoch schwankte er nicht lange in seinem Entschlusse. Unbeschadet seiner Kindestreue gegen Vater und Mutter ist er, wie auch im Hinblick auf all das Betrübende, das für dieselben daraus erwachsen werde, das Herz ihm blutet, zu jenem großen Opfer mit Entschiedenheit bereit, und zwar darum, weil er sich klar und gründlich bewußt ist, daß er dasselbe nicht sowohl seiner Liebe zu David, als vielmehr dem Allerhöchsten bringe, dessen unzweideutiger Rathschluß über den Sohn Isais für ihn kein Räthsel mehr ist. Könnte man doch glauben, es sei auch schon zu Jonathan das Wort des Sohnes Gottes geschehn: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt, denn mich, der ist meiner nicht werth.“ Gott, seinen Herrn, liebt er über Alles, und darum brennt denn auch in seiner Seele schon ein Funke jener Liebesflamme, die nachmals der Herr im Auge hatte, als er sprach: „Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde.“
Am Morgen des dritten Tages eilt Jonathan, von einem jugendlichen Waffenträger begleitet, hinaus in's Feld, und gibt dem Freunde in seinem Verstecke das verabredete Zeichen. Dreimal schnellte der Pfeil von seiner Bogensehne dem Wegsteine Asel zu, und ebenso oft vernahm der Knabe, und mit ihm der Freund in seiner Zufluchtsstätte aus dem Munde des Schützen den Ruf: „Siehe, der Pfeil liegt jenseits von hier; fleuch hin und hole ihn!“ So wußte nun David, wie die Sachen standen. Als aber Jonathan rings umher Niemanden erspähte, von dem er sich hätte beobachtet glauben können, schickte er den Knaben, vielleicht unter dem Vorwande, daß er selbst sich noch eine Weile ungestört im Freien zu ergehen wünsche, mit Bogen und Köcher in die Stadt voraus, und wandelte dann dem Orte zu, wo der Freund verborgen war.
Ehe er denselben erreicht, fliegt ihm David schon entgegen; und wie ergreifend ist der Auftritt, dessen wir jetzt Zeuge sind. David, übermannt von der Brandung der Gefühle, die sein Inneres durchwogen, bezeugt dem Freunde seinen Dank, seine Hochachtung und seine Liebe, indem er nach morgenländischem Brauch dreimal vor ihm sich niederneigt, ja mit Stirn und Angesicht die Erde berührt. Jonathan wehrt ihm, richtet ihn auf, drückt ihn an seine Brust, und beide liegen sich einander weinend in den Armen, mit herzlichem Bruderkusse ihren Bund besiegelnd. Und wie Vieles ergießt sich aus ihren bewegten Innern in den stummen Thränen, die am reichlichsten von Davids Auge strömen! Neben dem Abschiedsweh, welch' eine tiefe Trauer über den Jammer im Königshause, welch' ein Schmerz darüber, zu diesem Hause sich in eine Stellung hineingedrängt zu sehen, die mit der Ordnung Gottes so wenig in Einklang stand, und welch' eine Fülle von bangen Ahnungen und Befürchtungen für die nächste Zukunft, nicht sowohl für die eigne, als vielmehr für diejenige Sauls, den sie ja beide ihren Vater nannten, und für die Zukunft des ganzen Volks. Unaussprechlich schwer ist ihnen das Herz. Erleichterung finden sie allein in Gott. Jonathan ist der erste, der sich ermannt. „Gehe jetzt hin mit Frieden,“ spricht er, und reicht dem Freunde, dessen Flucht nun göttlich geboten schien, zum zweiten Mal die Hand zum Abschied. „Was wir beim Namen des Herrn schwuren,“ fügt er hinzu, „da wir sagten: der Herr sei zwischen mir und dir, zwischen meinem Samen und deinem Samen, dabei bleibe es ewiglich!“ David winkt, vor innerer Bewegung stumm, sein „Amen“ und so ziehn die Beiden von einander.
Anklänge an das, was damals in Davids Gemüthswelt vorging, nachdem er, durch Jonathan vernommen hatte, daß wirklich eine sein Leben bedrohende schwere Wetterwolke über seinem Haupte brüte, und nur eine schleunige Flucht ihn retten könne, begegnen uns zahlreich in seinen Psalmen. Unter Andern tönen uns solche auch aus dem 86. unsers Psalters an. ist es nicht die zum Herzen Gottes sich durchringende Wehmuth eines vereinsamten und allein auf den Herrn geworfenen Flüchtlings, die sich uns in folgenden Strophen kundgibt? „Herr, neige deine Ohren und erhöre mich; denn ich bin elend und arm. Bewahre meine Seele: denn ich bin heilig, (d. i. durch dich und für dich aus dem Haufen der Gottlosen ausgesondert.) Hilf, mein Gott, deinem Knechte, der sich auf dich verläßt. Sei mir gnädig, erfreue die Seele deines Knechts; denn nach dir verlanget mich. In der Noth rufe ich dich an, du wollest mich erhören. - Ich danke dir Gott von ganzem Herzen: denn deine Güte ist groß über mich und hast meine Seele errettet aus der Hölle. Gott, es setzen sich die Stolzen wider mich, und der Haufe der Tyrannen stehet mir nach meiner Seele und haben dich nicht vor Augen. Du aber, Herr Gott, bist barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte. Wende dich zu mir, sei mir gnädig; stärke deinen Knecht mit deiner Kraft und hilf dem Sohne deiner Magd. Thue ein Zeichen an mir, daß mir's wohlgehe, auf daß es sehen, die mich hassen, und sich schämen müssen, daß du mir beistehst, Herr, und tröstest mich.“
Wie Mancher schon hat unter ähnlichen Verhältnissen dem heiligen Sänger diese Worte nachgebetet! Man zweifle aber nicht, daß, wo solches in demselben Geiste geschieht, das erbetene Gnadenzeichen nicht auf sich warten lassen wird. Mit dem Sänger eines andern Psalmes sprechen wir: „Israel hat dennoch Gott zum Trost, wer nur aufrichtig und lautern Herzens ist!“ -