Krummacher, Friedrich Wilhelm - XIV. Eine Todtenfeier.

Krummacher, Friedrich Wilhelm - XIV. Eine Todtenfeier.

Das Leben des alten Israels umschattete bei allem Glanze, womit ein ganzer Sternenhimmel göttlich geoffenbarter Wahrheiten und Verheißungen es bestrahlte, eine düstere Wolke. Die Wolke der Todesfurcht war es, die erst „der Aufgang aus der Höhe“, mit welchem Ausdruck Zacharias (Luc. 1,79) die Erscheinung Christi bezeichnet, völlig zerstreute. Bis dahin war dem Tode noch nicht die Macht genommen. Diese Macht dachte man in Israel sich freilich nicht als eine vernichtende. Israels Glaube an einen persönlichen lebendigen Gott schloß auch schon denjenigen an eine persönliche Fortdauer des zum Bilde Gottes geschaffenen Menschen nach dem Tode in sich. Ueberdies fand derselbe einen starken Anhalt an dem mit Verheißungen und Drohungen verknüpften göttlichen Gesetze, so wie an den Veranstaltungen, die man den Allmächtigen zur Gründung eines Reiches treffen sah, das sich nothwendig über Zeit und Welt hinaus und bis in die Ewigkeit hinein erstrecken mußte. Aber die Gläubigen besaßen, was sie von einem bessern Jenseits wußten, mehr nur erst als eine Schlußfolgerung ihres nachdenkenden Geistes, denn als eine ausdrückliche sonnenklare göttliche Offenbarung, und die Stelle der Hoffnungsseligkeit vertrat für sie nur der Trost einer dämmernden Ahnung, der lange nicht ausreichte, sie gründlich der Furcht und dem Grauen vor dem letzten Feinde zu entheben. Sie kannten in der Regel nur den Scheol, oder Hades, ein Todtenreich, in welchem allerdings das Selbstbewußtsein nicht erlösche, was ihnen schon die Erscheinung Samuels zu Endor bezeugte, der dort in der ganzen Energie seiner Persönlichkeit aus der jenseitigen Welt in die diesseitige herübertrat. Doch war die Vorstellung, die sie mit diesem Reiche verbanden, nicht dazu angethan, ihnen ein paulinisches: „Ich habe Lust abzuscheiden,“ zu entlocken. Wohl zeigte ihnen der gen Himmel entrückte Henoch deutlich den Weg nach Oben; aber abgesehen davon, daß dieses wundersame Meteor aus einer zu fernen Vergangenheit zu ihnen herüber dämmerte, als daß sie sich traulich mit ihrer Hoffnung an dasselbe hätten anlehnen können, war jener Bevorzugte ein Mann, der „ein göttlich Leben“ führte, wie keiner sonst, während sie sich als arme Sünder wußten, die das Blut des Lammes, „das von allen Sünden rein macht,“ noch nicht kannten. Einzelnen Auserwählten unter ihnen, namentlich den Propheten der späteren Zeit, ward es freilich durch den Geist des Herrn vergönnt, den Wolkenschleier weiter gelüftet zu sehen, und hellere Blicke in das jenseitige Dasein zu werfen. So dem Propheten Jesaias, der verkünden konnte: „Der Herr vernichtet auf immer den Tod, und wird die Thränen abwischen von allen Angesichtern,“ (Kap. 25, 8) und an einem andern Orte (Kap. 26, 19) „deine Todten, Herr, werden leben, und meine Leichen auferstehn: denn dein Thau ist ein Thau des Heils, und die Erde wird die Abgeschiedenen gebären.“ So dem Ezechiel im 37. Kapitel, wo seiner Schilderung offenbar die Voraussetzung einer Auferstehung der Verstorbenen zu einem neuen seligen Leben zu Grunde liegt; so dem Daniel, Kap. 12, 1, wo er spricht: „Viele, so im Staub der Erde schlafen liegen, werden aufwachen: Etliche zum ewigen Leben, Etliche zur ewigen Schmach und Schande, und die Lehrerwerden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so Viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich;“ und ebenso auch dem David, wie wir davon uns zu überzeugen später Gelegenheit finden werden. Und leuchtete nicht auch als Wegweiser in eine Welt der Herrlichkeit über Israel der Himmelswagen des Elias? Doch bleibt es wahr, daß während der Haushaltung des alten Bundes selbst dasjenige, was von hellerer Offenbarung über ein seliges Jenseits schon vorhanden war, nur sehr schwer dem Glauben der vom Gesetz geängstigten Gemüther sich vermählte. Je weniger indeß den damaligen Gläubigen nach dem Ausdruck des Briefes an die Hebräer das himmlische „Heiligthum noch erschlossen war,“ um so bewunderungswürdiger muß uns der Glaubensmuth erscheinen, den wir trotz dem so Manche unter ihnen auch schon bei ihren kümmerlich glimmenden Hoffnungsdöchtlein in der Nähe des Todes bethätigen sehen.

Diene das Gesagte als Einleitung zu den ergreifenden Scenen, zu denen wir heute kommen werden.

2 Sam. 1, 17. Und David klagte eine Klage über Saul und über Jonathan, seinen Sohn,

Eine Todtenfeier ist's, deren wir heute Zeugen sein werden, und zwar der rührendsten eine, die jemals Menschenherzen im Thränenthal bewegten. Vernehmen wir, wem die Feier gilt, und sehen wir, wie sie vor sich geht.

1.

Einem „Großen in Israel“ gilt die Feier zunächst, und neben ihm? Mit tiefer Wehmuth werden wir's vernehmen. Saul tritt vom Schauplatz ab. Wenn ein König stirbt, pflegt dem Volke desselben zu geschehen, als schwanke der Boden unter seinen Füßen. Beim Tode Sauls wandeln uns trotz Allem, was vorhergegangen, noch heute Empfindungen dieser Gattung an. Die Todtenklage des Volkes klingt hell in unserm Innern wieder, und auch wir legen im Geist einen Cypressenkranz auf das Grab des hohen Erblichenen.

Die Philister, die wir in der Ebene Jesreel aufs neue in das jüdische Land hereinfallen sahen, drangen siegreich mit ihrer ganzen Macht, das israelitische Heer im Sturme vor sich hertreibend, bis an das Gebirge Gilboa, die nördliche Vormauer des Gebirges Ephraim, vor. Hier, wo Saul, nachdem er schon bei der Quelle Ain in einem heißen Kampfe aufs Haupt geschlagen war, als in einer natürlichen Veste eine vermeintlich gesicherte Stellung genommen hatte, kommt es zu einer neuen Schlacht, die aber einen noch unglücklicher n Ausgang für ihn nahm, als jene frühere. Was Wunder dies? Wir hören nichts von einem Buß- und Bettage, der in seinem Lager ausgerufen worden wäre, nichts von einer Demüthigung und Beugung vor dem Herrn Zebaoth, bevor der Kampf begann, nichts von einer veranstalteten Opferfeier, noch von der Art etwas. Der unglückselige König hat mit Gott gebrochen, und darum auch Gott der Herr mit ihm. Mit furchtbarem Ungestüm stürzen die Heiden über Schanze und Wall in die Legionen herein, die Saul, seinem kriegerischen Charakter getreu, in eigener Person befehligte. Zu Tausenden fallen seine Getreuen ihm zur Rechten und zur Linken. Von dem Momente aber an, da die Feinde ihn selbst im Schlachtgewühl gewahren, ist ihr ganzes Absehen nur auf seine Gefangennehmung gerichtet. In der That gelingt es auch bald einer feindlichen Bogenschützenschaar, ihn, den schon auf dem Rückzug Begriffenen, zu einer steilen Anhöhe hinauf zu drängen, und ihn dort zu belagern. Seine Sache ist verloren. Die Tapfersten seiner nächsten Umgebung fielen bereits, und wehe! unter ihnen auch drei seiner Söhne: Abinadab, Malchisua und der treffliche Jonathan. Der König sieht keine Rettung mehr. Die Verzweiflung erfaßt ihn auf seinem einsamen Felsen, der bald genug ebenfalls von den Feinden erstürmt sein wird. „Zeuch dein Schwert aus,“ schreit er seinem Waffenträger zu, „und durchbohre mich, daß diese Unbeschnittenen nicht kommen und mich erstechen, und ihren Spott mit mir haben!“ Also die Wahrung seiner armen Ehre bei der Welt ist das Einzige, was ihm in den letzten Augenblicken seines Lebens noch am Herzen liegt. Der Waffenträger bebt vor dem Gedanken, seine Hand an die geheiligte Person seines königlichen Herrn legen zu sollen, entsetzt zurück. Da ergreift der König entschlossen sein eigenes Schwert, stemmt dessen Knauf auf die Erde und stürzt sich in dasselbe hinein. Als sein Waffenträger ihn blutend zusammensinken sieht, folgt er seinem Beispiel. Er mag seinen Herrn nicht überleben. Wehe, wehe! Bei diesen Leichen wacht kein Gottesengel. Der aber, der ein „Mörder von Anfang“ heißt, feiert einen Triumph. Eine seltene Beute, die hier ihm zugefallen! Auch in der Person des Schildknappen? Freilich liegt es uns näher, diesen Getreuen zu beweinen, als ihn zu verdammen. Wir scheiden von ihm mit dem Nachruf: „Gott sei deiner Seele gnädig!“ und hoffen, wenn auch nur schüchtern, Gott werde unsern Wunsch erhören.

Ach, daß ein von Haus aus so hoch begabter und verheißungsreich angelegter Mensch, wie Saul, ein solches Ende nehmen konnte! Alles, was an ihm war: sein Heller Verstand, sein frischer tapfrer Muth, sein ritterlicher Sinn, und dazu seine hohe imponirende Gestalt, ließ ihn als ganz zum Herrscher geboren erscheinen. Zudem verband er von Natur mit seiner männlichen Entschlossenheit und Thatkraft ein weiches, rührbares, und auch für das Höchste und Heiligste nicht unempfängliches Gemüth. Aber die Welt mit ihrer Lust, mit ihrer Pracht und ihrer Ehre überwog schon frühe in ihm alle die besseren Eindrücke, die er ohne Zweifel bereits in seinem elterlichen Hause, vornehmlich aber im Verkehr mit dem Manne Gottes, Samuel, empfangen hatte. Daß er sich nicht mit ganzer Seele und ohne Vorbehalt dem Herrn seinem Gott übergeben hatte, dies ward sein Unglück.

Auf der abschüssigen Bahn seiner innern Getheiltheit zwischen Gott und der Welt, und seines halben und verklausulirten Gehorsams gegen den Allerhöchsten, glitt er tiefer und tiefer niederwärts, um zuletzt in dem Abgrund einer völligen Gottentfremdung und Verstockung zu enden. Je länger er der Zucht des Geistes Gottes widerstrebte, um so mehr artete sein Ehrgefühl in eine fanatische Ehrsucht, seine natürliche Erregbarkeit in zügellosen Jähzorn, seine Herrscherstrenge in tyrannische Ungerechtigkeit und Grausamkeit aus, und in dem Grade, in welchem er von dem Wege des Herrn abwich, wurden ihm alle frommen Leute als sein anderes Gewissen immer unbequemer und widerwärtiger. Mehr und mehr zog er sich von ihnen zurück und entbrannte allmälig in einem dämonischen Hasse gegen sie. So brach er auch schon frühe mit dem einzigen Manne, der es noch vermocht hätte, ihn in das rechte Geleise zurückzuleiten: mit dem ehrwürdigen und herrlichen Samuel, der ihm aber als ein reiner lebendiger Spiegel nur die eigne Entartung zum Bewußtsein brachte, und ihm darum nothwendig zu einer ärgerlichen Erscheinung werden mußte. Daß des Königes Beispiel auch auf das Leben des Volks einen höchst beklagenswerthen Einfluß übte, war nicht zu verwundern. Der Glaube im Volke schwand, der Gottesdienst zerfiel, die Sitten lockerten sich. „Zu den Zeiten Sauls,“ meldet das Buch der Chronika, „fragte man nicht mehr nach der Lade Gottes.“ So steht denn der König Saul in der Geschichte da als eine abschreckend erläuternde Figur zu dem salomonischen Worte: „Die da verlassen die Straße des Rechts, und gehen finstre Wege, deren Haus neiget sich zum Tode, und ihre Gänge zu den Verlorenen.“

Als die Schreckenskunde von der verlorenen Schlacht bei Gilboa, und von dem Tode des Königes und seiner Söhne sich in Israel verbreitete, ergriff alles Volk, welches das bis zum Jordan reichende Hochland bewohnte, die Flucht, und die Philister besetzten ohne Schwertstreich die verlassenen Städte und Dörfer. Dem gefallenen Könige aber blieb nicht einmal der Schimpf erspart, vor dem sich zu sichern die letzte Sorge seines Lebens war. Als nämlich am Tage nach dem Kampfe plündernde Philisterhaufen wieder auf dem Schlachtfelde erschienen, um sich der Kleider und Habseligkeiten der Erschlagenen zu bemächtigen, fanden sie auf dem Gebirge nicht fern von den Leichen der drei königlichen Söhne auch den in seinem Blute schwimmenden Leichnam des königlichen Vaters. Herzen von Stein hätte dieser Anblick erweichen können. Den Barbaren entlockte er nur ein rohes Triumphgeschrei. Zur Feier ihres Sieges trennten sie dem todten Könige das Haupt vom Rumpfe, und nahmen ihm seine Rüstung und seine Waffen. Letztere sandten sie als Trophäen im Philisterlande umher, damit sie dort in den Götzenhäusern und auf den Gassen dem Volle den errungenen Triumph verkündeten. Den Harnisch des Königes stellten sie in dem Tempel der Göttin Astharoth zur Schau. Den Leichnam selbst hingen sie an der Mauer zu Bethsan auf, während sie seinen Schädel an dem Tempel des Dagon, ihres Hauptgötzen, befestigten. „Und der im Himmel wohnt, sah solchen Freveln zu, ohne den Blitz seines Schwertes zu wetzen, und seinen Arm zur Niederschmetterung der Unmenschen auszustrecken?“ Allerdings ließ er sie gewähren, denn es galt Angesichts aller Welt ein Exempel zu statuiren, daß Wahrheit sei, was früher schon sein Knecht Moses, was nachmals sein Seher Jeremias mit den Worten aussprach: „Herr, du Hoffnung Israels, Alle die dich verlassen, müssen zu Schanden, und die Abtrünnigen in die Erde geschrieben werden: denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers.“ Man vernehme die tief erschütternde Grabschrift, die dem Könige Saul von der heiligen Geschichte 1. Chron. 11, 13 gesetzt wird. Sie lautet: „So starb Saul in seiner Missethat, die er wider den Herrn gethan hatte an dem Worte des Herrn, das er nicht hielt. Auch darum, daß er die Wahrsagerin fragte, und fragte nicht den Herrn, tödtete ihn der Herr, und wandte das Königreich zu David.“ Auch in der Absicht ließ Gott den Unthaten der Philister freien Lauf, daß im Gegensatz zu dem besseren Geiste, der auch noch in den Tagen des allgemeinen kirchlichen Verfalls in dem Volk, das seinen Namen kannte, noch nicht ganz erstorben war, der Greuel des Heidenthums Jedermann offenbar würde. Denn unmittelbar nach der Schauerscene, deren wir eben Zeugen waren, entschleiert sich uns in Israel eine Todtenfeier, an der sich unser Gemüth von seinem Schrecken in etwa wieder erholen mag.

2.

Wir begegnen zunächst einem schönen Zuge aufrichtiger Erkenntlichkeit. Schon lange ist's hin, daß Saul die Bewohner der Stadt Jabes in Gilead, dem Ostjordanlande, von einem schweren Zwang und Druck befreite, unter dem sie in Folge eines räuberischen Ueberfalles wilder Amoniterbanden seufzten. Die Jabesiter hatten diese Wohlthat nicht vergessen. Als sie von dem entsetzlichen Schlage hörten, der im Gebirge Gilboa ihr Volk und ihren Retter Saul betroffen, machten sie sich, so viele ihrer streitbaren Männer waren, nach dem fernen Bethsan auf den Weg, durchwanderten die ganze Nacht, und angelangt bei den damals von Philistern besetzten Orte lösen sie mit ehrfurchtsvollem Schweigen die Leichname Sauls und seiner drei Söhne von der Mauer ab und führen sie, um ihnen ein ehrliches Begräbniß zu bereiten, mit sich nach Jabes. Hier verbrennen sie dieselben - (das erste Beispiel von Leichenverbrennung in Israel) - sammeln dann die eingeäscherten Gebeine, bestatten sie feierlichst zu Jabes unter einer Terebinthe und halten zum Ehrengedächtniß der Getödteten ein siebentägiges Trauerfasten. Wie thut diese Handlung der Pietät unserm Herzen so wohl! Doch wir werden noch Erhebenderes erleben.

Wo befindet sich David? Nach der Amalekiter Schlacht ließen wir ihn in Ziklag zurück. Hier begegnet er uns auch noch, nachdem der furchtbare Schlag zu Gilboa auf sein Volk gefallen ist. Er weiß aber noch nicht um die Dinge, die sich in seinem Vaterlande zugetragen haben. Da tritt ein Mann an ihn heran, mit dem Zeichen der tiefsten Trauer angethan: in zerrissenen Kleidern und das Haupt mit Asche bestreut. Als derselbe Davids ansichtig wird, beugt er sich tief vor ihm zur Erde, eine Ehrenbezeugung, wie man sie Fürsten zu erweisen pflegte. „Wo kommst du her?“ fragt David. Die Antwort lautet: „Ich entrann aus dem Heere Israels.“ David fragt ferner: „Sag an, was begiebt sich dort?“ Der Fremde: „Das Volk ist geflohen vom Streit und ist viel Volkes gefallen; dazu Saul todt, und todt auch Sauls Sohn, Jonathan!“ - David in äußerster Bestürzung: „Woher weißt du, daß Saul und sein Sohn Jonathan getödtet sind?“ - Und nun berichtet der Unglücksbote: „Ich kam von ungefähr auf das Gebirge Gilboa, da traf ich den Saul matt auf seinen Spieß gelehnt, und die feindlichen Wagen und Reiter waren hinter ihm. Und er wandte sich, und als er mich gewahrte, rief er mir. Und ich sprach: Hier bin ich! Und er sprach: Wer bist du? Ich erwiderte: Ein Amalekiter. Und er fuhr fort: Tritt zu mir her und tödte mich; denn ich bin rings umher bedrängt, und mein Leben ist noch ganz in mir, (d. i. ich kann nicht sterben). Da trat ich auf ihn zu und tödtete ihn; denn ich wußte wohl, er könne nicht länger leben bleiben nach seinem Fall (d. i.: nach seinem Abfall von Gott.) Und nun siehe hier das Diadem, das ich von seinem Haupte nahm sammt seinem Armgeschmeide. Beides brachte ich her, um es dir, meinem Herrn, zu Füßen zu legen.“ - So der Ueberläufer. Wie geschieht dem David bei diesem Berichte? Außer sich vor Schmerz, und zugleich in Entrüstung und Zorn entbrennend, faßt er seine Kleider, und zerreißt sie, und seine Umgebung thut ein Gleiches, leidtragend mit ihrem Führer und weinend und fastend bis an den Abend über Saul und über Jonathan, Sauls Sohn, und über das Volk des Herrn, und über das Haus Israel, daß sie durch das Schwert gefallen waren. Am Abende bescheidet David den Mann, der ihm die Trauerbotschaft überbrachte, wieder zu sich, und spricht zu ihm: „Wo bist du her?“ Er antwortet: „Ich bin eines in Israel wohnenden Amalekiters Sohn.“ - „Und du hast dich nicht gescheut,“ fährt David in heftigster Erregung seines Gemüthes fort, „deine Hand zu legen an den Gesalbten des Herrn, daß du ihn verdürbest?“ Dann, zu einem Kriegsmanne sich wendend, befiehlt er: „Auf, erschlage diesen Menschen!“ - Der Schlag erfolgt, und der Fremdling stürzt entseelt zu Boden. Der Grabspruch aber, den David ihm mitgiebt, lautet: „Dein Blut sei über deinen Kopf; denn dein Mund hat wider dich selbst gezeugt, indem du sprachest: Ich habe den Gesalbten des Herrn getödtet.“

Tödtete der Mensch den König wirklich? Möglich wäre es, daß er ihn nach seiner selbstmörderischen That noch lebend angetroffen, und auf seine Bitte ihm den letzten Todesstoß gegeben hätte. Wahrscheinlich aber war seine ganze Erzählung nur ein Lügengewebe, und das Wahre darin beschränkte sich lediglich auf das Eine, daß er, als er nach Amalekiter Weise plündernd das Schlachtfeld durchzog, dem Orte im Gebirge, wohin Saul und seine Waffenträger sich geflüchtet, in dem Momente sich genähert hatte, dazwischen diesen Beiden die bekannte Verzweiflungsscene vorfiel, und daß er dann, als er die Unglücklichen todt in ihrem Blute schwimmen gesehn, hinzugeeilt war, um die königlichen Insignien Sauls sich anzueignen. Daß er letztere dem David überbrachte, geschah ohne Zweifel in der Absicht, sich für die ganze Zukunft seines Lebens in die Gunst Davids einzuschmeicheln, indem dessen Thronfolge schon aller Welt und auch ihm außer Frage stand. Aus gleichem Grunde bediente er sich auch bei seiner Berichterstattung der scheinheiligen Redensart, Saul habe wegen seines Abfalls von Jehova „nicht länger leben dürfen,“ der Gott Israels sei es, der ihn gerichtet habe. Genug, ob er wahr geredet oder nicht, das Urtheil Davids über ihn war, zumal, da jetzt kein König mehr im Lande, und er, als Oberster seiner Mannschaft, das Richteramt in derselben führte, ein durchaus gerechtes, und läßt uns den Charakter des Sohnes Isais nur im besten Licht erscheinen. Auch diese seine That war eine Todtenfeier zur Ehre des Königes von Israel, und das blutige Todtenopfer verherrlichte den Herrn, der durch den heiligen Geist gesprochen hatte: „Tastet mir meine Gesalbten nicht an!“

Dieser Sturmfeier folgte bald darauf eine friedlichere und erhebendere. David machte seinem Herzen in einem Klageerguß um Saul und Jonathan Luft, der uns nach allen Verdunklungen,, in die wir ihn eine zeitlang Hineingerathen sahen, den „Mann nach dem Herzen Gottes“ wieder in ungetrübter Klarheit zurückgiebt. Man hätte denken sollen, eine willkommenere Nachricht habe dem David nicht überbracht werden können, als die war, daß sein unversöhnlicher Todfeind endlich vom Schauplatz abberufen sei. Aber man vernehme die Klänge aufrichtiger tief empfundener Trauer, die er demselben nachsendet. O wie beschämend ist es wieder für uns, schon in den Tagen des Alten Testamentes einer Feindesliebe zu begegnen, wie sie hier in David sich kund gibt, und so lauterlich, wahr und redlich unter uns, die wir doch die Offenbarung der Sünderliebe Gottes in Christo kennen, leider! zu den seltneren Perlen gehört.

Lauschen wir dem Trauerliede Davids, wie es ebenso aufrichtig und ungeheuchelt wie innig und warm aus seinem Herzen hervorströmt. Es gehört zu dem Rührendsten und Schönsten, das je einer Menschenbrust entquollen ist. Der Blick des Klagenden ruht zuerst auf der blutigen Wahlstatt, und tief erschüttert gedenkt er des Triumphes, den die Unbeschnittenen über das Volk des Herrn davon getragen. „Die Zierde von Israel,“ spricht er, „ist auf deinen Höhen, o Gilboa, erschlagen. Wie sind die Helden gefallen! Saget's nicht an zu Gath, verkündet es nicht auf den Gassen zu Ascalon (in den Philisterstädten,) daß sich nicht freuen die Töchter der Philister, daß nicht frohlocken die Heidentöchter!“ Dann richtet er, sich ganz seinem Wehgefühle überlassend, das Auge auf die Leichen der beiden Häupter des Volkes, und verkündet mit weitaufgethanem Mund und Herzen das Lob derselben. Er spricht: „Ihr Berge von Gilboa, es müsse weder thauen auf euch, noch regnen, noch Aecker daselbst sein, davon Hebopfer (Weihegeschenke für den Tempel aus gesegneten Erndten) kommen.“ Die ganze Natur wird aufgefordert in seine Trauer mit einzustimmen, „denn daselbst,“ fährt er fort, „ist den Helden ihr Schild abgeschlagen, der Schild Sauls, als wäre er nicht gesalbet mit Oel. Der Bogen Jonathans wich nie zurück, und das Schwert Sauls kehrte niemals leer von dem Blute der Erschlagenen, vom Fette der Helden wieder. Saul und Jonathan, liebreich und holdselig, (wörtlich: sich wechselsweise liebend und liebenswerth,) in ihrem Leben, sind auch im Tode nicht geschieden. Sie waren leichter, denn die Adler, und stärker denn die Löwen. Ihr Töchter Israel, weinet über Saul, der euch säuberlich in Scharlach kleidete, und euch an euern Gewändern mit goldnen Kleinodien (von der Kriegsbeute) schmückte. Wie sind die Helden so gefallen im Streit! Jonathan ist auf deinen Höhen erschlagen.“ - Hierauf setzt David seiner zärtlichen Liebe zu dem Freunde noch ein besonderes Denkmal, und zwar in dem wehmuthsvollen Nachruf: „Mir ist wehe um dich, mein Bruder Jonathan; gar wonnig warest du mir. Deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe;“ und zum Schlusse haucht er noch einmal seinen ganzen tiefen Schmerz in dem Seufzer aus: „Wie sind die Helden gefallen, wie sind die Streitbaren umgekommen!“

David gab diesem seinem Klageliede die Aufschrift: „Der Bogen,“ und bezeichnete es damit als einen Trauergesang für das Schlachtfeld. Als einen solchen hieß er dasselbe auch die Kinder Juda und namentlich deren waffenfähige Mannschaft lehren, und ließ es dem „Buche der Frommen,“ also derselben Liedersammlung einverleiben, in welche auch das Wunder des Sonnenstillstandes unter Josua verzeichnet ward. Auf uns aber ist die Sammlung nicht gekommen.

Man könnte die Ausdrücke, deren sich David zum Ruhme Sauls bedient, für übertrieben erachten, und geneigt sein, die innere Wahrheit jener Lobpreisung anzuzweifeln. Aber man bedenke, daß an den Gräbern Verstorbener, denen man im Leben nahe stand, fast immer vorwiegend die Lichtseiten ihrer Persönlichkeit es sind, die vor das thränenfeuchte Auge der Erinnerung zu treten pflegen. Was den Abgeschiedenen etwa vorzuwerfen wäre, verliert dann durch das sich unbehindert jetzt geltend machende Bewußtsein, wie gar Vieles, wodurch sie uns einst wehe thaten, man selbst verschuldete, gar sehr in Gewicht. Solches widerfuhr auch dem David, der ohne Zweifel sich sagen mußte, daß auch er seinem königlichen Gebieter und dem Vater seiner Gemahlin gegenüber nicht immer und überall so, wie sich's gebühret hätte, seines jugendlichen Muthes Herr gewesen sei. Und wie natürlich mußte er es finden, daß dem Könige oft der Gedanke, seine Krone statt auf sein Haus, auf den Fremdling, den Schäfer von Bethlehem, vererben zu sollen, die Stirne gerunzelt, und düstere Geister in seinem Innern heraufbeschworen habe. Und in der That ist's nicht zu viel, was David in seiner Trauerklage dem Könige nachrühmt. War Saul nicht wirklich ein streitbarer Held? Klangen nicht öfter auch sanftere und zartere Saiten in seinem Gemüthe an? Und bestand nicht zwischen ihm und seinen Söhnen, auch Jonathan nicht ausgeschlossen, trotz aller stürmischen Auftritte, zu denen es mitunter kam, ein inniges Verhältniß? Erwiesen ihm dieselben nicht Kindestreue bis in den Tod? Alles dies schwebte dem David damals vor. Zu solchen Erinnerungen gesellte sich ein tiefes schmerzliches Mitleid mit dem hart geschlagenen Könige. Und so war es Davids wahrhaftiges Fühlen und Empfinden, dem er in seiner Todtenklage einen vollkommen entsprechenden Ausdruck gab.

Das Wort seines Liedes: „Saget es nicht an zu Gath noch auf den Gassen von Ascalon“ ist seitdem in den Kreisen der Gläubigen zu einem Sprichwort geworden. Man vernimmt es häufig, wenn Einer ihrer Gemeinschaft seinen Fuß nicht behütete, und irgendwie ein Aergerniß gab. Würde jenem Zuruf nur treuer nachgelebt, als es mehrentheils der Fall ist! Läge den Kindern des Reiches nur überall die Ehre des geistlichen Zions so nahe am Herzen, wie dem David diejenige des irdischen! Aber wie oft geschieht es, daß sie sogar sich beeifern, die Blößen ihrer Brüder aufzudecken vor der Welt, und durch diese Erneuerung des Frevels Ham's an der Gemeine, die Christus mit seinem Blut erkauft hat, zu Verräthern werden. Sie machen so sich mitschuldig an der Verlästerung des Evangeliums, indem sie derselben durch ihre vielleicht gar schadenfrohe Zwischenträgern die Schranken öffnen, und, sich selbst zum größten Nachtheil, die Liebe verleugnen, die „Alles glaubt und Alles hoffet,“ und auch „der Sünden Menge zudeckt.“

Davids Anrede an die Berge zu Gilboa: „Es müsse auf euch weder thauen noch regnen, noch Aecker daselbst sein, von denen Hebopfer kommen,“ ist wenigstens ohne weitreichende Folgen geblieben. Die bezeichnete Gegend bildet heute noch einen der fruchtbarsten und gesegnetsten Landstriche des ganzen heiligen Landes. „Ein unverdienter Fluch,“ sagt Salomo, „trifft nicht.“ Es sind aber Davids Worte auch nicht als Fluch, sondern nur als kühner bildlicher Ausdruck zur Bezeichnung seiner tiefen Trauer aufzufassen. Jedenfalls aber geht aus seiner leidenschaftlichen Redeweise hervor, daß mindestens damals auch in ihm die Hoffnung eines ewigen seligen Lebens noch nicht erstarkt genug war, um die Schrecken und Schauer des Todes und des Grabes siegreich zu überwinden. Kein Durchblick auf ein paradiesisches Jenseits gibt sich in seinem Liede kund. Kein Sichvertrösten auf ein einstiges Wiedersehn der Hingeschiedenen tritt uns darin entgegen. Auch vor seinem Auge hing noch eine dichte, den Himmel verhüllende Decke. Später freilich werden wir den düstern Schleier mehr und mehr vor ihm sich heben sehen. Aber wie unendlich viel glücklicher bleiben dennoch wir gestellt, als es selbst in ihren erleuchtetsten Momenten jene Alten waren. Auch wir halten im Geiste eine stille Nachfeier auf dem Gebirge Gilboa. Auf die blutige Leiche des Königs blicken wir, freilich nicht ohne Schauder, doch mit der Hoffnung hin, es möge ihm im letzten Momente noch vor Gott das Herz in Buße gebrochen und Schächersgnade ihm zu Theil geworden sein. Dem Jonathan aber rufen wir die Worte des Dichters nach:

„Wohl dir, du Kind der Treue,
Du hast und trägst davon
Mit Ruhm und Dankgeschreie
Des Sieges Ehrenthron!“

Auf Beider Gräber pflanzen wir im Geiste das Kreuz von Golgatha, und freuen uns der Wahrheit, daß für Alle, die von der Welt her sich in Aufrichtigkeit vor Gott gebeugt, das Blut geflossen ist, das „bessere Dinge redet, denn Abels,“ und alle Sünde wegnimmt.

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