Friedrich Wilhelm Krummacher - Blicke ins Reich der Gnade - VI. Das Nachtgesicht.

Friedrich Wilhelm Krummacher - Blicke ins Reich der Gnade - VI. Das Nachtgesicht.

Sacharia 1, 8.

Ich sah bei der Nacht, und siehe, ein Mann saß auf einem roten Pferde, und er hielt unter den Myrten in der Aue, und hinter ihm waren rote, braune und weiße Pferde.

Die Weissagungen Sachariä gehören zu den süßesten und angenehmsten Früchten, die vom Baum des Alten Testaments herunterhangen. Dieser Prophet hat viel Ähnlichkeit mit Jesajas und Hesekiel. Glühend wie der letztere und reich, wie er, an erhabenen Bildern und wundersamen, großartigen und geheimnisvollen Gesichten, verdient er mit Jesajas den Namen eines alttestamentlichen Evangelisten. Der Gesalbte Gottes mit seinem Reich bildet den Mittelpunkt und die Axe, um welche sich das Feuerrad aller seiner flammenden Offenbarungen, Bilder und Visionen herumdreht; und auch auf dem Gemälde, das Sacharia heute vor uns hinstellt, ist Christus der Mann, der, alle anderen Gestalten um sich her verdunkelnd, als Hauptperson im Vordergrunde uns entgegen tritt. Es ist ein schönes, tröstliches Gesicht. Lasst es uns näher anschauen. Wir betrachten:

1. die Zeit, in welcher das Gesicht gesehen wurde, und
2. das Gesicht selber in seiner tröstlichen Bedeutung.

1.

Die Zeit, in welcher Sacharia das Gesicht gesehen, gibt er selber an. „Ich sah,“ spricht er, „bei der Nacht.“ Er meint zuvörderst die natürliche Nacht, wenn die Leute schlafen. Da ist der Herr zu ihm gekommen, da hat er ihm die inwendigen Augen aufgetan und das herzerhebende Gesicht wie ein Gemälde mit hellen, leuchtenden Farben an ihm vorübergeführt. Der Herr wollte der Wahrheit, welche durch das Gesicht geoffenbart werden sollte, nämlich, dass der Hüter Israels nicht schlafe noch schlummere, zugleich einen Tatbeweis beifügen, um sie desto nachdrücklicher zu machen: darum tritt er zum Propheten nicht am Tage, sondern in dunkler Nacht. Von solchen Nachtbesuchen Gottes wissen fast alle Heiligen des alten und neuen Testamentes nachzusagen, und der weise Elihu redet davon zu Hiob, als von etwas sehr gewöhnlichem. „Im Traume,“ spricht er, „in der Nacht, wenn der Schlaf auf die Leute fällt, wenn sie schlafen auf dem Bette, da öffnet er das Ohr der Leute und schreckt sie und züchtigt sie, dass er den Menschen von seinem Vornehmen wende, und beschirmt ihn vor Hoffart.“ O wie mancher hat das schon erfahren, und seine erste Bekanntschaft mit dem Herrn, wie Nikodemus, zur Nachtzeit machen müssen! In der Nacht, wann die Glieder feiern, wann der Mensch mit seinen Sinnen von Dunkel und Schweigen umschlossen, und von dem Wogenschlag des alltäglichen Geschäftslebens zurückgetreten ist, dann hört die Seele schärfer, dann bewegen sich die Gedanken freier und ungehinderter, dann gehen die Betrachtungen tiefer ein, dringen zum Grunde und werden nicht aufgehalten unterwegs. Da schmettert die Trompete des göttlichen Wortes heller, da donnern die Flüche lauter, da klingt das Bußgeläute des Gewissens schauerlicher, und wenn da das Gesicht unserer Sünden, das Gesicht unseres leeren und verfehlten Lebens, das Gesicht unserer gebrochenen Gelübde und Vorsätze, das Gesicht unserer Unlauterkeit und Verstellung, das Gesicht des Todes, der unser harret, das Gesicht des zukünftigen Gerichtes, dem wir entgegen gehen, das Gesicht des blutenden Heilandes, den wir verraten; wenn diese Gesichte dann gespensterartig in die stillen Kammern hereinbrechen und um unser Bette sich stellen und vor unsere Augen sich hängen, ja, das tut Wirkung. Wohin vor solchen schauerlichen Bildern? In die Gesellschaft lustiger Freunde? Die liegen auf ihren Betten und schlafen. In das zerstreuende Geräusch der Werkstatt? Die ist geschlossen. Auf den Markt und in die Gassen unter das Gewühl der Leute? Die Gassen sind leer und auf dem Markte ist's stille. Es ist Nacht und nichts vorhanden, womit man die Ohren betäuben, die Augen verhängen und die Gedanken des Ernstes verjagen könnte. Da wird denn das Schiff des Herzens auf den Unruhwogen hin und her getrieben; man wirft Anker aus, hierhin, dorthin, aber die Anker haften nicht; man sieht sich nach einem Hafen um für das arme Herz, aber siehe! in allen Häfen stürmt es, wie auf der offenen See, und man schwebt zwischen den Abgründen; man will den Sturm besprechen und ruft sich selber zu: „Gib dich zufrieden; es hat ja nicht Gefahr, was sorgst du?“ Aber kein Trostgedanke haftet. Das Ungestüm wird ärger, bis man den gefunden, der seine Arme auseinander tut, der zum Meere spricht: „Verstumme!“ da wird es stille, und da streicht man die Segel und liegt vor Anker. Unzählige Christen wissen von solchen schauerlichen, aber nicht minder heilvollen Nachtstücken aus ihrem Leben zu erzählen und können mit Hiob sprechen: „Da ich Gesichte betrachtete in der Nacht, wann tiefer Schlaf auf die Leute fällt, da kam mich Furcht und Zittern an, und alle meine Glieder erschraken. Ein Geist wandelte vor mir über, mir standen die Haare zu Berge an meinem Leibe. Da stand ein Bild vor meinen Augen; es war still, und ich hörte eine Stimme: „Wie mag ein Mensch gerechter sein denn Gott, oder ein Mann reiner sein, denn der ihn gemacht hat? ihr, die ihr bei Tage an den brausenden Wasserstrudeln des Weltlebens die Stimme Gottes überhört, möchte denn auch euch in solchen Nachtgesichten und solchen Nachtbesuchen bald diese Stimme deutlicher zu hören gegeben werden! Ja, lieber die nächste Nacht, als die darauf folgende heiße es auch zu euch, wie einst zu David: „Wirst du nicht diese Nacht deine Seele erretten, so wirst du morgen sterben!“ Denkt an das Gesagte, meine Brüder, wenn ihr die nächste Nacht auf eurem Bette liegt.

„Ich sah in der Nacht,“ sagt Sacharia und bezeichnet mit dem Worte Nacht zugleich auch die Zeitumstände, unter welchen er das Gesicht gesehen. Sacharia lebte etwa 500 Jahre vor Christi Geburt, war mit seinen Eltern in Babylon gefangen, kehrte dann, in Folge der Erlaubnis des Königs Cyrus, mit dem ersten Haufen aus der Gefangenschaft nach dem Vaterlande zurück und half den Grundstein der neuen Stadt und des neuen Tempels legen. Das war damals eine angenehme Zeit, eine Zeit des Jubels und der seligsten Hoffnungen. Auf die unzweideutigste Weise hatte sich der alte Bundesgott wieder für sein Israel bekannt, und alles war voll freudiger Erwartungen der goldenen Zeiten, die nun kommen würden. Da war es nicht Nacht, sondern heller Tag über Israel. Aber diese Herrlichkeit währte nicht lange. Die Samaritaner machten einen Strich dadurch. Kaum nämlich war der Wiederaufbau der Stadt und des Tempels mit Freude und Eifer begonnen, da erboten sich diese Fremdlinge, die mehr Heiden als Juden waren, mit den Israeliten gemeinschaftliche Sache zu machen, und dann auch an dem Eigentumsrechte des Tempels gleichen Teil zu haben. Das konnte nicht zugegeben werden. Da setzte es böses Blut. Die Samaritaner schreiben nach Babylon an den persischen Hof, schwärzen die Bewohner Jerusalems als ein ungetreues, aufrührerisches Geschlecht aufs bitterste an, finden Glauben, und siehe, es erfolgt ein königlicher Befehl, nach welchem der Bau der Stadt und des Tempels unterbleiben sollte und der den Samaritanern erlaubte, mit Feuer und Schwert diesen Bau zu verhindern. Da trat nun eine betrübte Zeit ein, eine Zeit der Unruhe, des Getümmels und der Hoffnungslosigkeit. Die schönsten Aussichten waren plötzlich wieder verdunkelt, und Gott schien seines Israels wieder ganz und gar vergessen zu haben. Der lieblichste Morgen war unversehens wieder von einer stockfinsteren Nacht verschlungen, und auch diese Nacht meint Sacharia, wenn er spricht: „Ich sah in der Nacht.“ Und es scheint, als ob diese äußere Nacht auch in sein Inneres hineingedrungen wäre; es scheint, als ob sich unter diesen betrübten Umständen auch in seiner Seele der Tag geneigt hätte und der Abend hereingebrochen wäre. Ja, wie sollt's auch nicht! Die Umstände waren ganz dazu gemacht, um die Gemüter der Gläubigen mit Gewölken der Zweifel und der Verzagtheit zu umziehen: da war ja nichts mehr zu sehen von Gottes Nähe, Schirm und Schutz. Und dennoch, wie dunkel es auch aussah nach außen und nach innen, Sacharia kann von sich sagen: „Ich sah bei der Nacht und siehe!“

„Ich sah bei der Nacht.“ O, wer das sagen kann, der hat die Nacht überwunden. Denn alle Nacht im Geistlichen ist nur in dem Maße Nacht und schauerlich, in welchem uns das Sehen benommen, das Auge verdunkelt ist. Nacht ist es in unserm Leben, wenn uns die dunklen Lose fallen, und die Hand ist nicht zu sehen, die sie geworfen. Es ist in unserm Leben Nacht, wenn die Wüste der Verlegenheit uns aufnimmt, und kein Ausweg ist wahrzunehmen, weder zur Rechten noch zur Linken. Es ist Nacht, wenn ein Feuer fährt in den Bau unseres zeitlichen Glückes, und es ist nicht zu schauen, woher die Flammen kamen, welche Ehre, Wohlstand und häusliche Ruhe uns wegfressen, ob vom Himmel, ob aus der Hölle, oder ob sie sich von ungefähr entzündet haben. Es ist Nacht, wenn alle Welt uns verlästert und verkennt, und wir Gott zum Zeugen anrufen, aber da ist keine Stimme noch Antwort, noch Aufmerken. Es ist Nacht, wenn wir in den Tiefen der Not versunken liegen und Schlag auf Schlag uns trifft, aber unser Schreien verhallt in der Lust, unser Beten ist wie verloren; keine Hilfe erscheint, kein Beistand wird gespürt, keine Aussicht will sich öffnen, kein Ausschluss wird gegeben, und unsere Gänge im dunklen Tal bleiben uns ein. unauflösliches Rätsel, ein unbegreifliches Geheimnis, dessen Bedeutung und Zweck und Ausgang auch nicht von fern zu erraten und abzusehen ist; dann ist Nacht hereingefallen in unser Leben: denn das große Licht, das den Tag macht und regiert, ist untergegangen vor unseren Augen, und man ist der Mann, von welchem Hiob sagt: „sein Weg ist verborgen, und Gott hat denselben vor ihm bedeckt und verzäunt.“ Da wird einem denn wohl einmal plötzlich der Tag hereingeboren in die Nacht, wie dem Hiob, da ihm gezeigt wurde der Sinn und das heilvolle Ziel seiner ganzen Führung; wie der Hagar, da der Engel sie überraschte am Brunnen in der Wildnis; wie dem Abraham, da es vom Himmel rief: „Lege deine Hand nicht an den Knaben,“ und aller seiner Not mit einmal ein Ende war; wie dem Jakob, da es zu ihm hieß: „du hast mit Gott und Menschen gerungen,“ und der Herr den Segen über ihn sprach in der Nacht nach dem sauren Kampfe. Und Ähnliches erfuhren in diesen Tagen auch manche unter euch, dass die Hilfe in ihr Leben fiel, wie ein Blitz, dass die Errettung ins Haus trat, wie ein unerwarteter Gast; dass ihre Not zerrann, wie ein Nebelgewebe an den Bergen, und dass ihnen Licht ward plötzlich über die Absicht ihrer Führung. Aber meine Brüder, das heißt nicht sehen bei der Nacht; da ist ja die Sonne wieder da, da bricht ja der junge Morgen wieder glühend herein in die Höhle Adulla, da lässt sich Gott wieder schauen und greifen, dass man sagen muss: „Du hast mir die Nacht in Tag verkehrt.“ Aber wenn die Sonne hinter den Wolken verborgen bleibt und die Füße des Allmächtigen in tiefen Wassern, und der Mensch nun blindlings den Fels umklammert, von welchem geschrieben steht: „Alle seine Werke sind unsträflich,“ und sich beruhigt im nackten Glauben an das Wort: „Was ich jetzt tue, das weißt du nicht; du wirst es aber hernach erfahren,“ und glaubend gegen die Vernunft und hoffend, wo nichts zu hoffen ist, auf den Gott sich lehnet, der da gesagt hat: „Lass mich sorgen, und wenn du durchs Wasser und Feuer gehst, so sollen dich die Ströme nicht ersäufen, und die Flamme nicht anzünden, denn ich bin bei dir;“ und wenn er in diese Verheißungen sich lagert, wie in eine Wagenburg, und den Herrn vor den inneren Augen hat, der zu Manoah spricht: „Was fragst du nach meinem Namen, der doch „Wundersam“ ist?“ und aus diesem Namen „Wundersam“ Milch und Honig trinkt mitten in der Einöde; und wenn er, ohne zu schmecken, zu sehen und zu fühlen, sich getröstet im Anblicke des Gottes, der einen Daniel errettet aus der Löwen Rachen; des Gottes, der die drei Männer zu erhalten wusste in der Glut des Feuerofens; des Gottes, der einem Fisch gebieten konnte, dass er dem Jonas zur sicheren Arche diene in den Meeresgründen; des Gottes, der dem Lazarus Hunde schickte, dass sie seine Schwären leckten und seine Schmerzen linderten, und dem Elias Raben, ihn zu speisen, und sein Leben zu nähren in der Wildnis: das heißt Gesichte sehen im Dunkel; Gott finden hinter der Wolke. Da kann man sagen: „Ich sah bei der Nacht und siehe!“

Und es gibt noch andere Nächte als die genannten, Nächte der Seele von noch betrübterer Art, Nächte wie die, welche David im Auge hatte, da er sprach: „Verbirg dein Angesicht nicht vor mir, dass ich nicht gleich werde denen, die in die Grube fahren.“ Aber auch in diesen Nächten gibt es ein Sehen mitten im Dunkel: das ist was Kostbares und Teuerwertes. Wenn der Teufel mich anfällt mit seinen höllischen Reizungen und Feuerpfeilen, und kommt keine Hilfe, dann ist's ja Nacht um mich, und die Sonne an meinem Horizonte gesunken. Aber siehe! da fällt mein Auge plötzlich mitten im Getümmel auf den Mann, der dem Tode ein Gift, der Hölle eine Pestilenz ward, und die große Wahrheit wird mir nahe gebracht, dass ich in ihm den Bösewicht schon überwunden habe, und er mir wesentlich nicht mehr schaden könne. Da wird mir's gegeben, im Anblick meines siegreichen Hauptes mitten im Streite zu triumphieren und ruhig zu werden mitten in der Unruh. Was ist das? Ein Gesicht im Finstern. Ich sah bei der Nacht und siehe! Wenn ich nach einem schweren Abfall mit Schrecken erwache, und nun die Verzweiflung mich bereits ansieht: „Meine Sünde ist größer; denn dass sie mir könnte vergeben werden,“ dann sitz' ich ja im Finstern, und das Licht scheint mir nicht. Aber plötzlich fallen meine Gedanken auf den Ewigvater, der einen Salomo aus dem tiefsten Schlamme zurückholte, weil er ihm einmal an seiner Wiege versichert hatte: „Ich liebe dich,“ und auf den treuen Hirten, der die 99 Schafe in der Wüste ließ und dem einen, das sich verlaufen hatte, nachging, bis er es fand, und mit Freuden auf seinen Achseln heimtrug. angenehme Blicke! Noch hat sich der Herr nicht fühlbar zu mir getan; noch kann ich nicht jauchzen: „Mir ist Barmherzigkeit widerfahren,“ noch harret meine Seele mit Zittern; aber dennoch Mut und Hoffnung sind wieder da. Ich sah bei der Nacht und siehe! siehe! Wenn der Herr das Gefühl seiner Inwohnung mir wegnimmt und das Seine mir entzieht, dass nichts als Sünde meine bleibt; wenn die Tätigkeiten des geistlichen Lebens plötzlich in mir ruhen, und die Merkmale meines Gnadenstandes ihr Gepräge verloren haben; wenn der Glaube, der zuvor jauchzen konnte, in ein armes, gepresstes Seufzerlein sich wickelt: „Ach Gott, sei mir nur nicht grausam;“ wenn die Liebe in den Winter geht und zu Reif und Eise wird und die arme Seele mit David klagen muss: „Ich bin gleich den Toten“ und sich zu Juda nicht mehr zu zählen wagt; und wenn nun das Sündigen kommt ohne Tränen und das Straucheln ohne rechte Zerknirschung, und das Bibellesen ohne Genuss, und das Beten ohne Drang: ach, das soll wohl Nacht und Dunkel sein! Aber auch in dieser Nacht gibt es ein Sehen des Glaubens, das sich durch die Empfindungsarmut nicht irren lässt und kein Schmecken nötig hat. O der Gott „Amen“ tritt mir im Glanze seiner Treue und Wahrheit in diesem Todesstande vor die Augen, und ich höre ihn sagen im Geiste: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen.“ Ach, es wird mir offenbar eine Aussicht eröffnet auf den Gott, der die Gottlosen gerecht macht und der nichts als leere Gefäße begehrt, um sie mit seiner Herrlichkeit zu füllen. Ach, es schließt sich vor mir auf das Geheimnis des Gerechtwerdens nicht durch mein, sondern durch Jesu Glauben, Jesu Hoffen, Jesu Lieben und Jesu Beten, und wiewohl ich nichts fühle, schmecke und schaue, und mein Herz arm bleibt, verlassen und dürre, wird mirs doch gegeben, im nackten Glauben mich auf den Herrn zu werfen, der da gesagt hat: „Lass dir an meiner Gnade genügen!“ Da ist die Nacht überwunden; zwar nicht so, dass die Sonne das Gewölke zerrissen hätte, und ihre Strahlen wieder fühlbar in meine Seele würde; aber so, dass ich mit dem Glauben durch den Vorhang bin hindurchgedrungen und habe die Sonne gefunden hinter den Wolken. Da hab' ich ein Gesicht gehabt im Dunkeln. Ich sah bei der Nacht, und siehe! siehe!

2.

„Und siehe!“ Nun was sah denn unser Prophet? ein köstliches Gesicht. Da stand es still und unbeweglich vor seinen entzückten Augen, wie ein Gemälde, in wunderbarer Farbenfrische. Nachher kam auch Rede dazu. Aber ihrer bedurfte es nicht, es lag Rede genug im Bilde selbst: freundliche Worte, tröstliche Worte. Das Gesicht ist voll von Tröstung und Verheißung, und weil es auch uns angeht, so lasst's uns etwas näher ansehen. Sacharia sieht einen Mann, wahrscheinlich in blanker Waffenrüstung. Der Mann ist, wie aus dem Folgendem erhellt, der Bundesengel, also Christus. Der trägt mancherlei Gestalt und ist seinen Kindern alles, was sie unter ihren besonderen Umständen wünschen, dass er ihnen sein möge. Ist jemand blöde, so enthüllt er sein Mutterantlitz vor ihm und spricht: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen? Siehe, ich will dich trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Ist jemand verirrt, mit dem Hirtenstabe tritt er ihm unter die Augen: „Ich will das Verirrte wiederbringen.“ Ist einer krank, mit Öl und Wein in Händen gibt er sich zu schauen: „Ich bin der Herr, dein Arzt.“ Ist einer mutlos und erschrocken, gleich steht er bepanzert mit bloßem Schwert vor seinen Augen: „Ich bin der Fürst über das Heer des Herrn, und bin jetzt kommen.“ Fühlt jemand den Zorn Gottes in seiner Seele, so zeigt er sich ihm als Keltertreter im rotfarbenen Gewand: „Ich trete die Kelter des Zorns allein.“ Ist einer gebunden und gefangen, so erscheint er ihm als Durchbrecher aller Bande, aller Riegel: „Ich trage die Schlüssel beide, der Hölle und des Todes.“ Zur Zeit Sachariä nun war ein Mann vonnöten, ein Held; denn es war Kriegszeit, und siehe! sofort war auch der Hüter Israels als solcher zur Hand. „Ich sah bei der Nacht, und siehe, ein Mann!“ Christus ein Mann, tröstlicher Name. Der erinnert uns daran, dass ein Mensch unser Gott ist, ein Bruder unser König. Christus ein Mann, Name voll Süßigkeit! Wir sind sein Weib und haben seinen Namen, und den unsrigen verspielt für immer, und tragen seinen Ring, er kann uns nicht verleugnen. Christus ein Mann, o erwünschte Erscheinung! Ja, als Mann sehen wir ihn am liebsten: als Mann lebt er in unseren Gedanken, als Mann steht er vor uns, wenn wir zu ihm beten. Denn alsdann betet sich's so traulich. Und was wäre uns wohl süßer an dem ganzen Christus, als seine Wunden, seine Nägelmale? Das sind die Rosen, die uns unseren Honig geben, und die Brunnquellen unseres Friedens. Diese Rubinen müssen uns Tag und Nacht in die Augen scheinen. Aber der Gott hat sie nicht, sondern der Mann. Darum ist's uns ein freudiges Gesicht, so oft wir sagen können: „Ich sah bei der Nacht, und siehe, ein Mann!“

Der Mann, den Sacharia sieht, sitzt zu Pferde, Christus als Reiter, das ist bedeutsam und tröstlich. Im Hohenliede vergleicht er seine Gemeine einem Rosse: „Ich gleiche dich, meine Freundin, dem Gespann am Wagen Pharao;“ und unser Prophet sagt Kap. 10 v. 3.: „Ich will meine Herde zurichten, wie ein geschmücktes Ross zum Streite.“ Freilich, wir sind das Ross, rotfarben durch seine Besprengung, auf welchem er einher reitet. Wir sind es, geführt am Leitzügel seines Geistes, gezäumt mit seinem Wort, angetrieben mit dem Kreuzsporn, genährt an seiner Krippe und von seiner Hand geschmückt aufs allerbeste. Bald gehen wir am Pflug und keuchen unter dem Joch des Gesetzes, aber dazu ist das edle Ross nicht geboren; bald weiden wir frei auf den Triften der Gnade im Stande der Versicherung; dann heißt es von uns, wie von Hiobs Rosse: „Es stampft auf den Boden und ist freudig mit Kraft und zeucht aus den Geharnischten entgegen. Es spottet der Furcht und erschrickt nicht, und flieht vor dem Schwert nicht. Und wenn die Trompete stark klingt, spricht es: „Hui!“ und riecht den Streit von ferne, das Schreien der Fürsten und Jauchzen.“ Aber wenn das Ross sich erheben will in eigener Kraft und Schöne, so heißt es wie bei Hosea: „Ich will ihm über seinen schönen Hals fahren, und Jakob soll eggen.“ Wir sind sein Ross und tragen ihn, so sprengt er mit uns in die Glieder der Feinde; er schwingt das Schwert für uns und macht uns offene Gasse, so behaupten wir durch ihn das Schlachtfeld. Und wann er einst wieder kommt, werden wir es sein, Die seinen Siegeswagen ziehen und seinen Triumph verherrlichen. Doch in unserm Gesichte bedeutet das Pferd was anders. Wenn Christus als Reiter erscheint, so soll dadurch die blitzschnelle Hilfe angedeutet werden, mit welcher er bei vorkommender Not in seiner Kirche zuhanden ist. Als er noch auf Erden wandelte, da musste der eine warten bis dem andern geholfen war, da wurden nicht selten Klagen laut, wie die zu Bethanien: „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“ Das ist nun anders. Nach der Auferstehung hatte er gleichsam schon das Ross bestiegen, dass es von ihm heißen konnte: „Mein Freund ist gleich einem Rehe oder jungen Hirsch, der hin und wieder hüpfet auf den Bergen. Siehe, er steht hinter unserer Wand, blickt durchs Fenster und schimmert durchs Gitter.“ Wo Not war, war er auch: am Tage oder in der Nacht, und ob die Türen verrammelt waren, plötzlich hieß es: „Friede sei mit euch!“ und er stand in ihrer Mitte. Und wie oft wird dasselbe erfahren von seinen Kindern, im Leiblichen und im Geistlichen. Wenn wir ihn oft am fernsten glauben, klopft's plötzlich an unsere Tür: Siehe, da ist er, das Licht strahlt wieder auf in der Hütte des Gerechten, und die Hilfe fällt ins Leben, wie ein Blitz in der Nacht, dass wir ja mit Habakuk sagen müssen: „Du reitest auf Rossen her und deine Wagen behalten den Sieg.“ Und so kann er sein in einem Augenblick bei Tausenden in den verschiedensten Winkeln, denn er sitzt zu Rosse. Und dieses Ross jagt schnell, Allgegenwart ist sein Name. Und das Pferd, auf dem der Mann saß, war rot, sagt Sacharia. So muss doch allerwege, wo der Herr erscheint, dem Teufel und den Unbeschnittenen zum Trotz, auch was Rotes dabei sein. Ein rotes Ross, angenehme Färbung! Weil es rot ist, darum darf's ihn zu den armen Sündern tragen, denn in seinem Blute sind sie angenehm. „Woher kommt denn der Reiter?“ Ihr seht's an seinem Pferde. „Aus dem roten Meere?“ Ja freilich, direkt vom Krieg, vom Schädelberge und aus der Schlacht der Reisigen. Er hat der Schlange den Kopf zertreten, hat im heißen Kampfgetümmel dem Starken seinen Raub genommen, hat sich ein Volk erobert aus den Flammen der Hölle, und Tod und Teufel mit seinem Fall erschlagen. Seine Ferse hat geblutet, darum ist sein Ross so rot und bedeckt mit Schweiß. D, so gefällt er uns wohl! Hosianna dem Reiter auf dem roten Rosse!

Hören wir nun, was Sacharia weiter sagt. „Ich sah bei der Nacht, und siehe, ein Mann saß auf einem roten Pferde, und er hielt,“ nun wo denn? „unter den Myrthen.“ Also in einem Haine, also unter grünen Bäumen. Das sind die Pflanzen, die er gepflanzt; das sind die Bäume der Gerechtigkeit, die in dem Boden seines Blutes, seiner Verdienste, seiner unendlichen Gnade, seiner ewigen Macht unveränderlichen Treue fest gewurzelt stehen und in der Gnadenkraft seines Heiligen Geistes grünen. Die Myrthen sind die Kinder Gottes auf Erden, seine wahre Kirche. Ja, Myrthen sind sie, aus denen der König aller Könige sich den Ehrenkranz windet um sein Haupt, wie er denn zu ihnen spricht: „Ihr seid meine Krone und mein fürstlicher Hut in meiner Hand.“ Denn an ihnen erzeigt sich offenbar zu seiner Ehre die Allmacht seiner Gnade, wie ein Licht auf hohem Leuchter. Und wie man Myrthenzweige als Sinnbilder der Freude, um zum Frohsinne zu ermuntern, bei den Gastmählern austeilte, so ist Freude über diese geistlichen Myrthen bei den Fest- und Hochzeitsmählern im Himmel; und wie bei hochzeitlichen Festen in Israel dem Bräutigam grüne Myrthen mit. Gesang vorangetragen wurden: so freut sich der himmlische Bräutigam über sein Myrthenwäldlein auf Erden und spricht: „Du sollst genannt werden: „meine Lust an ihr,“ und dein Land „die Vermählte;“ denn der Herr hat Lust an dir und dein Land wird vermählt werden.“ Und wo standen die Myrthen, die Sacharia sah? In der Aue, das ist im tiefen Grunde. Da wachsen sie am besten. Se tiefer der Stand, desto grüner das Blatt, desto saftiger der Stamm, desto angenehmer der Duft. Das gilt auch von den geistlichen Myrthen. Sie stehen im Grund; auf der Höhe würden sie welken. In Tälern wachsen sie, in Tälern ist ihr Gedeihen. In den Tälern der Geistesarmut, der Armensünderschaft, der Kleinheit und der Selbstvernichtigung, da wachsen die Myrthen Gottes, da trifft man seine Kirche an.

Unter diesen Myrthen nun hielt der Reiter. herzerhebender Anblick! Ja, da hält er, wie er spricht: „Ich wohne bei den Elenden.“ Und er hält da zu Ross, dass er den ganzen Wald übersehe; nicht die Bäume allein, die ihm nahe sind, sondern auch, die noch ferne stehen. Er hält da zu Ross, um gleich zur Hand zu sein, wohin er gefordert wird. Er hält da zu Ross, behelmt und bepanzert, auf Überfälle bereit und geschmückt zum Streite für sein Juda. „Ja,“ ruft Zephanja, „der Herr dein Gott ist mitten unter dir, der Held, welcher Heil schaffen wird, hat Freude an dir.“ Und siehe! dahinter ein bunt Geschwader, rote, braune, weiße Pferde. Wer sind die? „Sind das die Mahanaim, die starken Helden, ausgesandt zum Dienste um derentwillen, die ererben sollen die Seligkeit? Sind das die Vollkommenheiten Gottes, die zu unseren Diensten stehen? Seine Gnade, seine Treue, seine Barmherzigkeit und seine Allmacht? Sind das seine starken Verheißungen, auf welchen wir, wie auf Rossen, durch rote Meere reiten und über himmelhohe Berge fliegen, und über die tiefsten Schluchten sprengen, und ohne Furcht durch düstere Nächte jagen?“ Ja, dieses alles mit einander magst du sehen in den roten, braunen und weißen Rossen. Wo der himmlische Reiter ist, da ist auch dieses Geschwader um ihn, und wo er hereinsprengt in ein Herz oder ein Haus, da sprengt eine ganze Schar der angenehmsten Gäste hinter ihm her, und Haus und Herz wird nie zu enge.

Da habt ihr das Gesicht, wie es Sacharia zu seinem Troste über Jerusalem sah bei der Nacht. Brüder, das Gesicht ist Wahrheit. Ja, so hält er unter uns. Ein Mann, auf rotem Pferde, unter den Myrthen in der Tiefe, und hinter ihm rote, braune und weiße Pferde. Gedenkt denn an diesen Reiter Gottes, wenn ihr des Nachts auf eurem Bette lieget und die Sorge ihre schweren Flügel über euch breitet und der Satan seine Pfeile sendet; gedenkt an ihn am Tage, so oft es in eurem Leben dunkelt und dunkelt in euerer Seele. Und wenn ihr nichts mehr schaut und nichts mehr schmecket, so reißt die Glaubensaugen auf und seht, wie Sacharia sah, da er sprach: „Ich sah bei der Nacht und siehe,“ und seid getrost. Ich bins gewiss, in diesen Tagen, da viele seiner Kinder unter uns betrübt und voll Sorge sind, wird er sich auch nicht stille halten. Er wird sein Ross schon tummeln unter uns und wie der Blitz seine Hilfe an manchem Orte erscheinen lassen. Nur Mut, nur Mut! Vielleicht vor Abend noch muss mancher, der sich verlassen glaubt, beschämt mit Jakob schreien: „Gewisslich war der Herr an diesem Orte, und ich wusste es nicht.“ Vielleicht vor Abend noch gehen manchem Kummervollen, wie Elisas Knaben, die Augen auf, dass auch er seinen Berg voll feuriger Rosse und Wagen sieht und staunend mit dem Propheten rufen muss: „Mein Vater, mein Vater! Wagen Israel und seine Reiter!“ Doch sollte es nicht also sein, geliebte Brüder, und noch eine Zeitlang dunkel um uns bleiben müssen, dann schenke es uns Gott in Gnaden, dass wir zum wenigsten mit Sacharia schreien können zu jeder Zeit und jeder Stunde: Ich sehe bei der Nacht, und siehe! siehe! Amen.

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