Krause, Cäsar Wilhelm Alexander - Wann sind wir treu in unserer Pflicht?
Predigt am zweiten Sonntage nach Ostern. (Misericordias Domini)
Lass deinen Segen auf uns ruhn,
Uns deine Wege wallen,
Und lehre, Vater, stets uns tun
Nach deinem Wohlgefallen. Amen.
Mit zahlreichen und herrlichen Kräften begabt tritt der Mensch in die Welt. Aber er ist noch nur ein Keim, dessen Entwicklung beginnen soll. Dass er sich seiner Kräfte bewusst werde, dass er sie bilde, dass er die Zwecke erkenne, zu denen sie ihm gegeben sind, und sich gewöhne, sie nur diesen zu widmen, das ist die Aufgabe der Erziehung. - Jede Erziehung wirkt wie eine Offenbarung auf den Menschen, denn sie macht ihn dessen teilhaftig, was das Menschengeschlecht von jeher an göttlicher Kunde empfangen, was die Weisen desselben vor ihm gedacht, entdeckt, erfahren und erfunden haben. Sie führt ihn in die Reihe der andern Menschen ein, und lehrt ihn, wie er nach ihren Rechten seine persönlichen Ansprüche zu beschränken und welche Obliegenheiten er gegen sie zu erfüllen habe, um seiner Bestimmung, um Dem zu genügen, der ihn, so ausgestattet wie er ist, auf seinen Platz gestellt hat. Ein richtiges und lebendiges Pflichtgefühl dem Menschen in die Brust zu pflanzen, ist die wichtigste und heiligste Aufgabe aller Erziehung.
Von Natur sind alle Menschen selbstsüchtig; das ist ihre Erbsünde. Darum sind auch alle Kinder eigensinnig, weil sie Alles nur auf sich beziehen, weil sie stets nur ihren Willen beachten. Sie tun nur, was ihnen gefällt, was ihnen Freude und Vergnügen macht, unbekümmert darum, ob es Andern schade. Andern etwas zu opfern, dazu fühlen sie noch keine innere Nötigung. Sie sind noch ganz sinnlich, sie wissen noch nicht, was ihnen wahrhaft nützt, sie leben nur für den Augenblick. Um sie zu bewegen, etwas zu tun, muss man demselben entweder eine solche Form geben, dass es ihnen zugleich Vergnügen macht, oder sie durch Versprechungen, und wenn diese nichts fruchten, durch Strafen zu dem Verlangten an- oder von dem Verbotenen abhalten. Das ist der rohe Naturzustand; allein in ihm darf das Kind nicht bleiben. Die Erziehung soll es erkennen lehren, dass es nicht seinetwegen allein auf der Welt ist, sondern dass es einen Schöpfer hat, der ihm eine bestimmte Lebensaufgabe gestellt; dass diese Aufgabe nicht allein darin besteht, sich selbst zu bilden, sein eigenes Wohlbefinden zu gründen, sondern dass seine Mitmenschen heilige Ansprüche haben; es muss anerkennen lernen, dass es verpflichtet ist, ihnen seine Kräfte zu widmen, ihr Wohl zu fördern, ihr Leid zu mindern, ihnen zur Erreichung ihrer Lebenszwecke, ihrer ewigen Bestimmung behilflich zu sein; anerkennen, dass solche Wirksamkeit nicht seinem Belieben anheimgestellt, sondern dass sie heilige Pflicht ist. Das Bewusstsein dieser Pflicht muss so in sein ganzes Leben übergehen, dass der Mensch in dieser seiner Pflicht sich nur selbst genug tut, dass er in ihrer Erfüllung nur seine eigene Befriedigung findet, dass er keines äußeren Antriebes mehr bedarf, ihr seine Kräfte zu widmen, ja dass er nicht mehr schwankt, wenn es gilt, sich für dieselbe aufzuopfern.
Diese so große und herrliche Ausgabe kann aber nur eine solche Erziehung glücklich lösen, welche auf christlichen Grundsätzen beruht, welche von der christlichen Welt- und Lebenserscheinung ausgeht. Nach ihr ist es der lebendige Gott, der ewige Vater, der seine Kinder sendet in diese Welt, der ihnen die Aufgabe gestellt hat, dass sie hier Alle ein Gottesreich bilden sollen: eine Verbindung, in welcher nicht die Willkür eines Einzelnen, sondern das göttliche Gebot allein herrschen, in welcher die von Gott geoffenbarten Zwecke erstrebt werden: Gegenseitige Beglückung hier und Bildung jedes Einzelnen für ein höheres Dasein, „auf dass Keiner verloren gehe, sondern Alle das ewige Leben haben.“ Das will das Evangelium, indem es das Streben nach eigener Heiligung und die Übung allgemeiner Liebe gegen alle Menschen als die allgemeine Pflicht jedes Einzelnen aufstellt. Aus dieser allgemeinen Pflicht folgen dann alle einzelnen, die sich aus den verschiedenen Kräften der Menschen, aus den verschiedenen Lebenslagen, aus den verschiedenen Beziehungen zu den Mitmenschen ergeben. Und Gott ist es, der die Übung dieser Pflicht will; aus Liebe zu ihm soll sie uns heilig erscheinen, aus Liebe zu ihm sollen wir sie erfüllen, denn nur, wenn wir das tun, kommt das Reich Gottes zu uns, und durch solche Treue kommen wir zu dem höheren Reiche Gottes, zu der ewigen Seligkeit. - Ja, die Treue hat die Verheißung des ewigen Lebens. Den Knecht, der über Wenigem getreu war, will er über Vieles setzen; sei getreu bis in den Tod, lässt er uns zurufen, so will ich dir die Krone des ewigen Lebens geben! Der Glaube ist mir dann ein rechter und seligmachender, wenn er solche Treue wirkt.
Wir nun, Geliebte, sind christlich erzogen worden. Das Evangelium ist von Kindheit auf uns verkündet worden, dass es unseres Fußes Leuchte und das Licht auf unserm Weg sei; es hat uns ein solches Gott geweihtes Leben und Streben, solche Treue in dem heiligen Vorbild Jesu Christi vor die Augen gestellt und uns ermuntert ihm nachzufolgen. Ob wirs aber auch wohl tun? Ob wir wohl treu sind in unserer Pflicht? Unsere Eitelkeit möchte solche Frage wohl bejahen; aber uns tut Selbsterkenntnis not! Sie zu gewinnen, müssen wir uns ernstlich prüfen. Dazu wollen wir heute von unserm Evangelio Gelegenheit hernehmen und uns die Frage beantworten:
Wann sind wir treu in unserer Pflicht?
Haben wir die Regel gefunden, dann sage Jeder sich selbst, ob er ihr gefolgt.
(Gesang. Gebet.)
Evang. Joh. 10, V. 12-16.
Die ganze Art und Weise, wie Jesus seine Bestimmung für diese Welt auffasste, stellt er uns in der bildlichen Rede des Evangeliums dar. Dem Hirten ist die Herde mit vollem Vertrauen übergeben; mit stets gleicher Sorgfalt soll er sie überwachen, auf gesunde Weide leiten, vom gefährlichen Orte fern halten, die Schwachen und Kranken unterstützen, heilen, die Verlorenen wieder suchen, vor jeder Gefahr selbst mit eigener Aufopferung sie schützen, und das Alles aus jener reinen, liebenden Herzenstreue, die sich ihrem Beruf mit Freudigkeit, in seiner ganzen Ausdehnung und ununterbrochen hingibt. Ja, so war Er! So hat er gelebt, so ist er gestorben, ein wahrer Hirt und Bischof unserer Seelen! - Aber dies heilige Vorbild vollendeter Treue in dem ihm anvertrauten Beruf haben wir nicht bloß anzustaunen und zu preisen, sondern ihm nachzuahmen. Auch einem Jeden von uns ist ein bestimmter Beruf übergeben, ein Wirkungskreis angewiesen, in dem wir stehen als Haushalter Gottes. An den Haushaltern aber sucht man, dass sie treu erfunden werden; danach misst sich ihr einstiger Lohn ab. Um nun einen sichern Maßstab für die Beurteilung unserer Treue zu gewinnen, lasst uns die Erfordernisse derselben näher kennen lernen, und uns heute die Frage beantworten: Wann sind wir treu in unsrer Pflicht? Ich glaube, dazu gehört vor Allem:
1) dass wir ihren Umfang ganz erkennen,
und glaube ferner, dass darin von vorn herein viel von den Menschen gefehlt werde, dass sie den Umfang ihrer Pflicht gewöhnlich zu eng fassen. Es ist eine nur zu häufige Täuschung, dass die meisten Menschen bei der Betrachtung ihres äußeren Glückszustandes sich gewöhnlich mit denen vergleichen, welche von Gott in eine günstigere Lage als sie gestellt worden sind, und dass sie dadurch das Gefühl der Unzufriedenheit in sich hervorrufen und nähren. Bei der Beurteilung dessen, was sie sollen, ihres sittlichen Wertes, vergleichen sie sich dagegen gewöhnlich mit Solchen, von denen sie sich sagen können, sie seien noch weniger wert als sie, und dadurch gelangen sie zu der erwünschten Selbstzufriedenheit, die ihrer Eigenliebe Nahrung gibt, und ihnen zur Entschädigung dient, wenn sie den Mahnungen zum Besserwerden Ohr und Herz verschließen. Umgekehrt grade sollte es sein! Willst du deinen äußern Glücksstand prüfen, so schaue auf die hin, welche weniger haben als du, und danke Gott, der dir gnädiger gewesen, als vielen deiner Brüder, und dir jedenfalls mehr gegeben hat als du verdienst. Willst du aber deinen sittlichen Wert prüfen, so hast du keinen andern Maßstab als Jesum Christum. Dass Andere nicht besser oder noch weniger gut sind, als du es bist, entschuldigt deine Fehler nicht; Jesus war ein guter Hirt; - bist du es auch? Erkennst du wenigstens den ganzen Umfang deiner Pflicht? Sage nicht: Ich bin ein guter Mensch! Das ist die gewöhnliche Redensart, mit der auch die Hochmütigen, die Liederlichen, die Ungerechten und die Gottvergessenen sich zu schmeicheln pflegen. Als Mensch sollst du Gottes Kind sein! Bist du's? Hängst du mit wahrhaft kindlicher Liebe an deinem himmlischen Vater, und hast du ihn stets vor Augen und im Herzen? Vertraust du ihm zu jeder Zeit mit kindlicher Ergebung, und bist du immer eifrig bemüht, Alles in dir zu unterdrücken, was ihm missfällig sein könnte? Trittst du deinem Nächsten nimmer zu nahe, und achtest du ihn stets als deinen Bruder? Beweist du ihm nicht bloß Gerechtigkeit, sondern auch herzliche Liebe? Hilfst du ihm mit Rat und Tat, wo du nur kannst, und vergibst du ihm auch von Herzen, wenn er gegen dich gefehlt? Erkennst du sein Gutes immer an, beneidest du sein Glück nie, sondern freust dich mit den Fröhlichen und weinst mit den Weinenden? Benutzt du seine Schwäche, seinen Irrtum nie zu deinem Vorteil, verlangst du von ihm nie etwas Anderes, als du ihm freudig auch gewähren würdest? Diese Fragen und noch viele andere würdest du alle bejahen müssen, ehe du von dir behaupten könntest, du seiest ein guter Mensch! Prüfe dich nun, ob du, wenn du es jetzt schon von dir aussagst, den Umfang deiner Menschenpflicht nicht zu klein veranschlagt hast, und wenn du dies zugeben musst, so kannst du der Treue in derselben dich nicht rühmen, denn du hast ja ihren ganzen Umfang noch nicht einmal erkannt!
Doch auch damit misst du deinen Beruf noch nicht aus. Du hast ein Amt, ein Geschäft, ein Gewerbe, davon du dich und die Deinen nährst, durch welches du der bürgerlichen Gesellschaft nutzen sollst. Auch darin gilt es treu sein, fortschreiten, es nicht bloß im Geist des Eigennutzes, nicht bloß aus Not, sondern zur Förderung des allgemeinen Besten treiben. Du stehst in noch besonderen Verhältnissen und hast darum auch besondere Pflichten als Sohn, Bruder, Gatte, Vater, als Lehr- und Dienstherr oder als Dienender, und alle diese machen besondere Ansprüche an die Treue deines Herzens. Wer wäre wohl so gewissenhaft, dass er diese Ansprüche zu jeder Zeit gehörig würdigte? Und hat denn die Gemeinde, der du angehörst, nicht auch ihren Teil an dir? Wären denn die Klagen über mangelnden Gemeinsinn so allgemein, wenn es nicht Viele gäbe, denen ihre besonderen Bürgerpflichten noch nicht gehörig zu Herzen gehen, die jeder Tätigkeit für das Gemeindewohl sich ängstlich entziehen, oder die, wenn sie sie leisten, es nur im Geist der Eitelkeit des Sich-geltend-Machens tun? Ist nicht besonders der Blick der Frauen noch immer zu sehr auf den eigenen häuslichen Herd beschränkt, so dass sie ihren Gatten die Erfüllung ihrer höheren Bürgerpflichten erschweren und verübeln, und das Vertrauen, das jene zur Teilnahme an der Leitung der allgemeinen Angelegenheiten beruft, statt sich dessen zu freuen, beklagen und ohne zu bedenken, was das Gemeindewohl dadurch gewinnt, nur den Pfennig ängstlich berechnen, der etwa dem eigenen Haus dadurch verloren geht? - Und gehören wir über den engeren Kreis der Ortsgemeinde hinaus nicht einem großen Staat an, einem Staat, dem sich eine neue Geschichte jetzt eröffnet1), in dem aber nur durch lebendige Teilnahme aller seiner Bürger das, was ihm Not tut, zur Reife gedeihen, und aus den mangelhaften Zuständen der Vergangenheit sich entwickeln kann? O, wie viel Gleichgültigkeit, wie viel Stumpfsinn herrscht da noch, Wie Wenige sind es, die ihre Pflichten bis dahin ausgedehnt erblicken? - Und das ewige Gottesreich der Wahrheit und der Liebe, welches Jesus, der gute Hirte, bauen wollte durch sein Evangelium, wodurch er alle, die es annehmen, zur Wahrheit, zur Freiheit der Kinder Gottes, zu rüstigem Fortschritt in der Vollkommenheit bilden wollte. - Hat es keine Rechte auf uns, die wir ihm angehören? Wie Wenige aber fühlen ihren Beruf, auch dies Reich bauen zu helfen, wie Wenige sind bereit, jeden Angriff auf seine Freiheit mutvoll zurückzuweisen, jeder erkannten Wahrheit die Ehre zu geben - ach! überhaupt in allen öffentlichen Angelegenheiten, wie Viele sind da noch immer so lange träge, gleichgültig, teilnahmslos, so lange nur das Feuer noch nicht - wie man zu sagen pflegt, - auf die eigenen Nagel brennt, und wie Wenige sind auch dann noch für das selbst erkannte Bessere, wenn sie seine Einführung mit Opfern für sich verknüpft erblicken?
Geliebte Mitchristen! erwäge hiernach ein Jeder, wie es mit seiner Treue stehe, und ob er wohl das Erste dazu erlangt habe, dass er den Umfang seiner Pflichten in seiner ganzen Größe erkenne! Schaut auf Jesum hin! Er erkannte ihn und spricht es aus in den Worten: Ich kenne den Vater, ich kenne die Meinen, und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall, und dieselben muss ich herbeiführen! Darum war er auch treu und gehorsam bis zum Tod, darum konnte er mit Recht sich einen guten Hirten nennen. Wollen wir in unserem Kreise es auch sein, so müssen wir zuvörderst den ganzen Umfang unserer Pflichten erkennen. Bevor wir aber uns das Zeugnis solcher Treue geben, lasst uns ferner noch prüfen:
2) ob wir zur Ausfüllung dieses Pflichtenkreises auch unseren Fleiß nimmer sparen?
Ein guter Hirte darf nicht schlafen bei der Herde; er muss jedes einzelne Glied derselben stets im Auge behalten, sonst zerstreut sie sich leicht, und er gewahrt es nicht, wenn der Feind sie bedroht. Wollen wir den Ruhm der Treue in unserm Beruf erstreben, so darf unsere Tätigkeit auch nichts schlummern, sondern muss mit regem Eifer sich auf alle Zweige unserer Pflicht erstrecken. Wer aber wird sich wohl rühmen können, dass es in seinem Leben nie Tage und Stunden, ja auch noch größere Zeiträume gegeben habe, da eine gewisse Unlust zur Arbeit über ihn gekommen, da sein Fleiß ermattet sei? Bald ist es die Zerstreuung des Lebens, welche Geist und Sinne zu sehr in Anspruch nimmt; bald der Hinblick auf Schwierigkeiten, welcher es verursacht, dass wir nur zögernden Schrittes uns an dieselben wagen; bald die traurige Erfahrung oder auch nur die Befürchtung mangelnder Anerkennung, oder unverhältnismäßig geringen Erfolges und Lohnes, welche unserer Tätigkeit ihre Freudigkeit raubt; bald der Leichtsinn und die Selbstzufriedenheit, welche gar bald meint, schon genug getan zu haben; - ach, wie könnte ich sie alle einzeln nennen, die Fälle, welche die Tatkraft der Menschen zu lähmen, ihren Fleiß zu unterbrechen pflegen? Und doch ist es nur dem anhaltenden und ausdauernden Fleiß möglich, irgend etwas Tüchtiges auf Erden zu erreichen, und allen den verschiedenen Pflichten, die uns in Anspruch nehmen, einigermaßen zu genügen; denn das Leben ist kurz und die Zeit entflieht schnell! Und doch ist es nur der Geist der Freudigkeit, der Zuversicht, der kühne Mut, dem jedes gute Werk gelingt, weil er die ermattende Tatkraft immer wieder neu belebt. - Das war der Geist, welcher in Jesu lebte, in welchem er alle seine Zeit, alle seine Kraft seinem heiligen Beruf widmete, in welchem er sprach: Ich muss wirken die Werke dessen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, da Niemand wirken kann. - Lebt nun dieser Geist in uns Allen, dann wird aus ihm die Treue in unserer Pflicht hervorgehen. Aber - ist er auch wirklich vorhanden? Auch dann, wenn nicht die Not als ein Zwang zum Fleiß treibt? auch dann, wenn nicht Gewinn an zeitlichem Gut, an Ehre und Lob der Arbeit Frucht ist? Auch dann, wenn sie unserer Neigung nicht entspricht, wenn der Hang zur Bequemlichkeit von derselben zurückschreckt? Ich will nur noch Einiges erwähnen: Zur Treue in unserm christlichen Beruf gehört es, dass wir allen Fleiß unausgesetzt an unsere sittliche Veredlung wenden, - sind die Menschen dazu wohl immer bereit? Überlassen nicht Viele gern das Gute, was sie selbst vollbringen könnten, Andern, weil sie meinen, dass diese mehr Kraft und nähere Pflicht dazu haben? Und von denen, die Gott mit irdischen Gütern so reich gesegnet hat, dass sie um des täglichen Brotes willen nicht zu arbeiten brauchen, wie Viele glauben sich darum nun überhaupt zu keinem Fleiß, zu keiner Arbeit verpflichtet; dagegen berechtigt, bloß der Freude, dem Genuss des Lebens nachzujagen, und erkennen nicht an, dass Gott, indem er sie von der Sorge für die eigenen Lebensbedürfnisse befreite, ihnen damit eine um so größere Pflicht auferlegte, dem Wohl Anderer, dem Gemeindewohl ihre Tätigkeit zuzuwenden, und dass sie sich schwer versündigen, wenn sie zu träge, zu selbstsüchtig sind, um dieser Pflicht zu genügen? Denn jede Anlage, jede Kraft, die uns Gott gegeben, legt uns ihre Ausbildung und Anwendung als eine Pflicht auf, und jede Gelegenheit, die sich zu ihrer Anwendung uns darbietet, ist ein Ruf Gottes zur Tätigkeit. Ja, nicht warten sollen wir, bis die Gelegenheit sich uns darbietet; selbst sollen wir sie suchen, damit das Pfund nicht vergraben bleibe in uns, das uns Gott anvertraut hat, wie der Apostel warnt: Wer da weiß Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde! -
Ist dem nun so, - und wer könnte es bestreiten, - so meine ich, dass, wie sehr die Menschen auch geneigt sein mögen, ihre Leistungen möglichst günstig zu beurteilen, doch Niemand von uns sich einer schon vollkommenen Treue im Beruf wird rühmen, Niemand wird behaupten wollen, dass sein Fleiß nach allen Richtungen hin der strengen Forderung der Pflicht schon genüge, - eine Erkenntnis, welche uns lediglich nur anregen soll, mit immer größerem Eifer jene Gesinnung uns anzueignen, welche sich selbst nur genugtut, indem sie jeder nützlichen Tätigkeit sich hingibt. O, wären alle Kräfte wach, die Gott gegeben, so könnte die öffentliche und besondere Wohlfahrt der Menschen, so könnte ihr geistiger und leiblicher Zustand nicht mehr so viel zu wünschen übrig lassen, als jetzt noch immer wirklich zu wünschen übrig bleibt. -
Die wahre Berufstreue hat aber nicht die richtige Erkenntnis der Pflicht zur Voraussetzung, unausgesetzte Anwendung aller Kraft zur Bedingung, sie hat sich auch endlich noch dadurch zu bewähren, dass sie
3) bei scheinbar mangelndem Erfolg nicht verzagt und vor Schwierigkeiten und Gefahren nicht erschrickt.
Der gute Hirte verlässt die Herde nicht, wenn der Wolf kommt; während der Mietling flieht, stellt er sich dem Feind entgegen, bekämpft ihn, und lässt sein Leben für seine Schafe! Das ist die wahre Treue bis in den Tod. Im Kampf soll sie sich bewähren; da soll der Mann seine Kraft, seinen Mut und seine Ausdauer beweisen. - Ach in welcher unendlichen Erhabenheit tritt uns auch in dieser Beziehung Jesus entgegen! Er stand allein gegen eine Welt, die er umwandeln, wiedergebären wollte zu einem erneuerten verklärten Wesen, dass sie dem Unheiligen sich entfremde, und, dem Heiligen sich zuwendend, ein Reich Gottes werde. Die geistige Trägheit, der Aberglaube, der Eigennutz, die Sünde in aller Gestalt stellte sich ihm entgegen, und Er, Er allein nahm den Kampf auf. Ob auch Schmach und Kreuz ihm drohten: Er machte sein Wort wahr: Ich bin ein guter Hirte, denn ich lasse mein Leben für die Schafe. - Dieselben Mächte aber in und außer uns treten noch immer dem Streben nach dem Besseren entgegen. Alles Gute muss im Kampf gewonnen werden. Durch die Mühe und Gefahr des Kampfes tritt erst der Wert des zu Erringenden recht in das Bewusstsein, und wenn es errungen, bleibt es in dem Maß teuer, als der Kampf darum heiß und schwer war. Im Kampf - mit sich selbst und mit der Welt - da zeigt sich die Treue im rechten Licht. Wer nur um äußere Rücksichten, um äußeren Lohnes willen wirkt, wer ein Mietling ist, - und das ist ein Jeder, dem nicht wahre Begeisterung für die Pflicht das Herz erfüllt, - der weicht vor dem Kampf zurück. Er flieht und zieht es vor, in Ruhe und Sicherheit das zu genießen, was das Leben ihm darbietet. Der Treue aber bleibt, kämpft, und ob er auch in dem Kampf fällt, er fällt immer als Sieger; als Sieger wenigstens über sich selbst. War seine Sache aber wahrhaft gut, so kämpft sie sich auch durch, denn Gott ist mit ihr, und der, wenn auch spät gewonnene Siegerkranz schmückt dann noch das Andenken derer, die einst dafür einstanden. - So war Jesus treu seinem Vater im Himmel. Er wusste, dass er ein Opfer seiner Liebe zu Gott und zu den Brüdern werden würde; auch ihn überkam menschliches Bangen in Gethsemane; aber der Aufblick zu seinem Vater im Himmel stärkte ihn; er überwand. Er wusste, dass die, welche er aussandte, sein Evangelium zu predigen, ihm den Dornenpfad würden nachgehen müssen, und er bereitet sie darauf vor. Er wusste, dass er zunächst der Welt nicht den Frieden bringe, sondern das Schwert, dass er ein großes Feuer anzünde, dass sein Evangelium einen langen Kampf werde durchkämpfen müssen, ehe es die Herrschaft in der Welt gewinnen werde. Aber das Alles hält ihn nicht ab, sein Werk treu zu vollbringen und seine Jünger auszusenden; denn durch jenen Kampf sollte das Menschengeschlecht zum Himmelreich reif werden, und wer ihn recht streitet, den erwartet seine Krone.
Wie schwach, wie kläglich erscheinen dieser Kraft, dieser Treue gegenüber die meisten Menschen? Wie leicht ermatten sie auf dem Weg der erkannten Wicht? Bald deshalb, weil ein Erfolg sich erst in weiter Ferne zeigt, bald, weil sie der eigenen Kraft misstrauen, die entgegenstehenden Schwierigkeiten zu besiegen, bald, weil sie mit einigen Versuchen genug getan zu haben glauben, bald, weil die Lockung der Welt durch Freude, Genuss und Gut sie abwendig macht! Gewiss, meine Geliebten, wessen Kraft und Eifer nicht ausreicht, dies Alles zu überwinden, wer sich dadurch beirren lässt, - der ist nicht treu in seiner Pflicht zu nennen. Und doch ist ohne solche Treue für uns kein Heil!
Darum, Christ, wie oft du auch die Erfahrung machst, dass die alten, oft bekämpften Schwächen und Leidenschaften in dir sich wieder regen - werde nicht mutlos! Denke nicht: Es ist doch Alles vergebens! Gib dich der Sünde nicht gefangen, sondern setze den Kampf gegen sie unablässig fort, und er wird nie ganz vergeblich sein, er wird wenigstens von der Treue deines Willens zeugen. - Fordert dein Beruf von dir die Anstrengung aller deiner Kräfte, scheinen sie dir auch im Voraus deiner Aufgabe nicht gewachsen, gehe dennoch unverzagt an das Werk. Mit der rechten Ausdauer und Unverdrossenheit wirst du es vollenden, denn in den Schwachen erweist Gott sich mächtig. Schaue nicht mit Gleichgültigkeit auf die Sündhaftigkeit des Treibens der Welt, auf die Mangelhaftigkeit der Zustände in Gemeinde, Staat und Kirche hin, sondern erhebe deine Stimme dawider und wirke zu ihrer Verbesserung mit, so viel du kannst. Meinst du auch dann ein Prediger in der Wüste zu sein, ist dein Wort und Werk aus Gott, so geht es nicht verloren. Und wenn du damit auch die Ungunst der Mächtigen, den Unwillen der Unverständigen wider dich erwecken solltest, lass dich das nicht irren; das hat Jesus auch getan! Sorge nur, dass dein Werk und Wille Gott geheiligt sei und folge ihm nach, ohne Eitelkeit, ohne Eigensucht, sondern aus Liebe zu Gott und den Brüdern; dann bist du treu in dieser Christenpflicht. - Doch wozu die Aufzählung des Einzelnen: in allen Dingen sollen wir uns erweisen als die Diener Gottes. Er hat das Ziel gesteckt, sollten je irdische Schwierigkeiten und Hindernisse uns von der Pflicht, es zu erstreben, freisprechen können? Sollte je menschliche Zaghaftigkeit uns einreden können, es sei unmöglich, es zu erreichen? Nein; er hat das Ziel gesteckt; das ist sein; die treue Hingebung an seinen Willen, der unverdrossene Eifer, der keine Ermattung zulässt, und der kühne Mut, der selbst Gefahren getrost entgegentritt, dem Herrn das Weitere überlassend, - das ist unser, und nur für dies Letztere haben wir zu sorgen. Der aufopfernden Treue ist im sittlichen Gebiete nichts unmöglich.
Und die verlangt Gott von uns, Treue bis in den Tod! dafür verheißt er die Krone des ewigen Lebens. Darum ist es für uns so notwendig, dass wir das ganze Wesen dieser Treue uns zum Bewusstsein bringen. Keine Pflicht übersehen, keine Zeit und keine Kraft unbenutzt, und sich durch nichts abwendig machen lassen, das sind ihre wesentlichen Erfordernisse. Groß ist die Pflicht, schwer ist ihre Erfüllung. Aber getrost! meine Geliebten; ist ja doch der Heiland uns vorangegangen, und wenn wir ihn lieben, so müssen wir ihm nachfolgen, so müssen wir tun, was er gebietet. Und wir tun's mit Freudigkeit, weil wir ihn lieben, und sollen wir mit ihm leiden, auch dann sind wir wohlgemut, denn er ruft uns zu: Seid fröhlich und getrost, es wird euch im Himmel wohl belohnt werden. Amen.