Körber, Emil - Ölblatt - Drei Bilder aus dem Hause eines Pharisäers.
(17. November 1872.)
Lest: Luk. 7, 36-50.
Es bat ihn aber der Pharisäer einer, dass er mit ihm äße. Und er ging hinein in des Pharisäers Haus, und setzte sich zu Tische. Und siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin. Da die vernahm, dass er zu Tische saß in des Pharisäers Hause, brachte sie ein Glas mit Salben, und trat hinten zu seinen Füßen, und weinte, und fing an seine Füße zu netzen mit Tränen, und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße, und salbte sie mit Salben. Da aber das der Pharisäer sah, der ihn geladen hatte, sprach er bei sich selbst, und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete, und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sage an. Es hatte ein Wucherer zwei Schuldner. Einer war schuldig fünfhundert Groschen, der andere fünfzig. Da sie aber nicht hatten zu bezahlen, schenkte er es beiden. Sage an, welcher unter denen wird ihn am meisten lieben? Simon antwortete und sprach: Ich achte, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm Du hast recht gerichtet. Und er wandte sich zu dem Weibe, und sprach zu Simon: Siehst du dies Weib? Ich bin gekommen in dein Haus, du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt, und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben: diese aber, nachdem sie herein gekommen ist, hat sie nicht abgelassen meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salben gesalbt. Derhalben sage ich dir: Ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. Da singen an, die mit zu Tische saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? Er aber sprach zu dem Weibe: Dein Glaube hat dir geholfen; gehe hin mit Frieden.
Wir werden heute durch unser Evangelium in das Haus eines Pharisäers geführt; und da ein Jedes von uns so ein Stück von einem Pharisäer mit sich herumträgt, sei es nun klein oder groß, so wird es uns gewiss nicht unlieb und ungesegnet sein, einen Blick in das Haus des Pharisäers Simon zu tun. Wenn wir freilich in diesem Hause nur Pharisäer und nichts als Pharisäer fänden, dann wollte ich lieber sagen: wir machen die Türe zu und bleiben fein draußen und wollen nichts davon. Aber bei der großen Tischgesellschaft mitten unter den Pharisäern sitzt ein gar werter Gast, den wir sonst mitten unter den Zöllnern zu finden gewohnt sind: es ist Jesus, unser teurer Herr und Heiland. Er gibt durch seine Anwesenheit der ganzen Gesellschaft ein anderes Aussehen und Gepräge; sein Heiliger Geist überwindet den Pharisäergeist; er gibt den Ton an beim Tischgespräch und redet köstliche Worte, köstlicher denn Gold und viel feines Gold.
Aber noch ein Bild sehen wir im Hause Simons, das notwendige Gegenstück zum Heilandsbild, das Bild einer großen Sünderin. Die Gäste saßen fröhlich beisammen; die Speisen waren aufgetragen, das Mahl hatte begonnen, die Unterhaltung war im Fluss: da erscheint plötzlich am Eingang des Gastzimmers ein Weib. Es ist eine stadtkundige, schlechte Person. Schüchtern steht sie da, und es kostet sie sichtlich eine Überwindung, einzutreten und weiter zu gehen und den Kreis von ehrbaren Leuten durch ihre Anwesenheit zu stören und zu beflecken. Auf den Gesichtern der Pharisäer ist kaltes Befremden zu lesen, während der Blick Jesu heiter, mild und freundlich ist, aber die Pharisäer schauen finster drein, verdammende Urteile und Gedanken steigen in ihren Herzen auf, sittliche Entrüstung malt sich auf ihren Zügen, und Simon, der Gastgeber, runzelt die Stirn: Was soll eine so gemeine und schlechte Person in meinem Hause? denkt er; welche Frechheit und Zudringlichkeit! Aber das schüchterne Weib lässt sich nicht abschrecken, der Anblick Jesu, des Sünderheilands, macht ihr Mut; gerichtet und verdammt von allen übrigen Anwesenden, verurteilt von ihrem eigenen Gewissen eilt sie hilfesuchend wie ein gejagtes Reh zu dem großen Sünderfreund, der sie durch seine wunderbaren, gewaltigen Predigten, durch seine unsterblichen Worte ewiger Liebe und Erbarmung aus dem Sündenschlaf aufgeweckt, zu sich gezogen und gewonnen hatte. Da tritt sie nun hinten zu seinen Füßen in Demut, und weint Tränen der Buße, des Dankes und der Liebe. Sie wirft sich nieder und fing an seine Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salben. Ihr seht, meine Lieben, es ist wohl der Mühe wert, sich ein wenig im Hause Simons umzusehen. Das wollen wir denn auch heute miteinander tun, und unter des Herrn Segen betrachten:
Drei Bilder aus dem Hause eines Pharisäers,
I. ein Sünderbild,
II. ein Pharisäerbild,
III. ein Heilandsbild.
Du aber, Herr Jesu, du Heiland aller Welt! gib, dass wir heute uns Alle als Sünder erkennen; nimm den Pharisäergeist von uns, der sich selbst rechtfertigt und Andere verdammt. O lass ein Jedes nur an sich denken, ein Jedes seine eigene Sünde erkennen, zu dir fliehen, bei dir Hilfe, Trost und Gnade: suchen und finden. O du ewige Liebe, du freundlicher Sünderheiland!
An deine Seite lass mich lehnen
Das lang von dir entwöhnte Haupt,
Gib mir ein durstig heißes Sehnen,
Gib mir ein Herz, das liebt und glaubt;
Aus deiner Gottesliebe Sterben
Lass Leben mich um Leben erben.
Amen.
I.
Unter den drei Bildern, die im Hause des Pharisäers Simon zu sehen sind, tritt uns aufs erste entgegen ein Sünderbild. Da wir nun Alle Sünder sind, so meine ich, geht uns dies Bild sehr viel an, und wir wollen die Augen weit aufmachen, um uns dasselbe recht genau zu betrachten. „Siehe, ein Weib war in der Stadt, die war eine Sünderin.“ Fürwahr, das ist ein trauriges Prädikat, ein schreckliches Zeugnis, das diesem Weibe gegeben wird. Sie gehörte der armen Klasse der tiefgesunkenen und gefallenen Menschen an, die Leib und Seele durch die Lüste des Fleisches schänden und zu Grunde richten. Aber ach, wie Viele sind auch in unserer Stadt, auf die man mit Fingern deuten und dies Wort, das von dem Weibe gesagt ist, buchstäblich und eigentlich anwenden könnte: siehe da, eine Sünderin, siehe da, ein Sünder, der seine edelsten Kräfte vergeudet und im Hurendienst umbringt! Ach, wer will ihnen nachgehen, wer will sie retten, diese armen Seelen, und sie herumholen vom Wege des Verderbens und führen auf den schmalen Pfad, der zum Leben führt? Vergebens streckt die Kirche liebend ihre Arme nach ihnen aus, vergebens sind die Pforten der Gotteshäuser geöffnet: sie laufen in andere Tempel, in die Götzentempel, da die Wollust angebetet wird, dort dienen sie, bis sie sterben in ihren Sünden. Aber abgesehen von diesen besonders gefallenen Sündern, die Hand aufs Herz! meine Lieben, die Augen niedergeschlagen! wir sind allzumal Sünder, ich und du, wir sind Sünder und mangeln des Ruhmes, den wir vor Gott haben sollen. Freilich lassen die Leute das so im Allgemeinen gelten und können es auch dulden, wenn es ins Allgemeine gepredigt wird. Aber wenn man dir ins Angesicht sagen wollte: Du bist ein Sünder! Du bist eine Sünderin! wenn man dir deine speziellen Sünden einzeln aufdecken wollte und ins Gewissen führen, deinen Hochmut und deine Selbstüberhebung, deinen Geiz, deine Falschheit und Heuchelei, deine Unreinheit und Wollust, der du, wenn auch nicht außer der Ehe, so doch vielleicht in der Ehe frönst - o wie wäre dein Stolz beleidigt, wie würdest du das für unverschämt und ungebildet erklären!
Ganz anders ist das Sünderbild unseres Textes. Das Weib, die bekannte Stadtsünderin, weiß vor allem und gesteht es sich offen ein: ich bin eine Sünderin, ich habe ein verlorenes und vergeudetes Leben hinter mir; und wenn Jesus von Nazareth mir nicht geholfen hätte und noch helfen würde, so wäre es aus mit mir, ich wäre in Zeit und Ewigkeit verloren. Darum lässt sie auch keine Gelegenheit vorüber, Jesum zu sehen und zu hören. Als sie vernahm, dass er zu Tische saß im Haus des Pharisäers, ließ sie sich durch den Gedanken an die Gesellschaft, in deren Anwesenheit sie sich demütigen musste, nicht abhalten, sondern ging hin zu Jesus. Hier müssen wir unwillkürlich stille stehen. Wie Viele in unserer Stadt vernehmen umsonst, dass Jesus im Hause ist, dass sein Name im Hause Gottes gepredigt wird. Wohl tönen die Glocken am Sonntag und rufen zum Haus des Herrn, aber eine große Zahl unserer Mitchristen bleibt ruhig daheim sitzen. Wohl singt die Gemeinde des Herrn geistliche, liebliche Lieder, heilige Gesänge, aber die kirchenscheuen Leute haben taube Ohren, ihr Herz ist kalt, kein Heimweh durchzieht ihre Seelen, kein Zug des Vaters zum Sohne bewegt sie. Wohl wird auf der Kanzel das teure, seligmachende Evangelium verkündigt; aber ach, es dringt nicht durch die dicken Kirchenmauern hindurch in ihre Häuser und Herzen. Geliebte, wenn ihr unter euern Bekannten und Nachbarn solche Leute habt, die der Kirche entfremdet sind, redet ihnen doch freundlich zu, legt ihnen die Hand auf die Schulter treu besorgt, sucht ihnen Lust zu Gottes Wort zu machen und sagt ihnen, wie heilig, herzerhebend und tröstlich die Stätte ist, da Gottes Name wohnt. O möchten so Viele von denen, die noch draußen sind, und auch Viele von uns immer mehr und immer besser sprechen lernen: Hier ist wahrhaftig Gottes Haus, hier ist die Pforte des Himmels. Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott!
„Als die Sünderin vernahm, dass Jesus zu Tische saß in des Pharisäers Hause, brachte sie ein Glas mit Salben, und trat hinten zu seinen Füßen, und weinte.“ Siehe da, ein neuer Zug in dem Sünderbild unseres Textes. Das Weib bringt kein Wort über die Lippen, sie steht einfach zu den Füßen. Jesu und weint, reichlich fließen die Tränen im Andenken an ihre Sünde; es sind heilige Bußtränen, aber milde lösen sie sich auf in Dankes- und Freudentränen, die ohne Worte klar und deutlich bezeugen: Mir ist Erbarmung widerfahren, Erbarmung, deren ich nicht wert. O wie schön ist dieses Sünderbild! Wie gefällt es dir, mein lieber Zuhörer? Wendest du dich stolz, vornehm und selbstgerecht davon ab, oder hast du ein Wohlgefallen daran? Aber bedenke, das bloße Wohlgefallen genügt nicht. Nein, dieses Sünderbild soll dein eigen Bild werden, nicht in seinen Sünden, aber in seiner Buße, in seinen Tränen. Hast du auch schon geweint über deine Sünden, du Mann, du Frau, du Jüngling, du Jungfrau? Man braucht kein Hurer und Ehebrecher, kein Dieb und Mörder zu sein, um über seine Sünden zu weinen. O dein Hochmut, deine Eigenliebe, deine Eitelkeit, dein Zorn geben genug Stoff zum Weinen. Wer noch nie über seine Sünden geweint hat - äußerlich oder innerlich, das macht nichts zur Sache - der hat auch keine Sündenerkenntnis, und wer keine Sündenerkenntnis hat, der hat auch keinen Sünderheiland. Aber vielleicht ist eine Seele in dieser Versammlung, der geht es gerade wie dem Weib in unserem Texte; sie kann nur weinen im Blick auf ihr zurückgelegtes Leben, die Sünden drohen ihr über dem Haupte zusammenzuschlagen, ach das Leben, das kostbare Leben, die edelsten Kräfte sind verschleudert und vergeudet. Was soll ich dir sagen, liebe Seele? Weine nur! aber zu den Füßen Jesu, gehe nicht von ihm und weiche nicht, und sprich:
„Ich will hier bei dir stehen,
Verachte mich nur nicht!
Schau her, hier steh' ich Armer,
Der Zorn verdienet hat,
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick deiner Gnad!“
Und er wird dir den Anblick seiner Gnade geben, glaub es nur, zweifle nicht! Siehe, in seine durchgrabenen Hände bist auch du gezeichnet; seine Wunden stehen auch dir offen als eine selige Freistätte, da der Glaube ohne Furcht und Zagen sicher wohnt.
Auf Golgatha fließt auch für dich ein offener Born wider alle deine Sünde und Unreinheit, dass deine befleckten Kleider abgewaschen, helle und schneeweiß werden. O wie gut ist es, dass wir einen Heiland haben, der die Sünder annimmt. Frohlocke, mein Herz, und jauchze! Hier ist Immanuel, hier ist die ewige Liebe in Menschengestalt, holdselig und lieblich. Wer zu Ihm kommt, den stößt er nicht hinaus.
Komm' nur mühselig und gebückt,
Komm' nur, so gut du weißt zu kommen!
Wenn auch die Last dich niederdrückt,
Du wirst auch seufzend angenommen;
Sieh', wie sein Herz dir offen steht,
Und wie er dir entgegen geht.
Wie lang hat er mit stillem Flehen
Sich liebend nach dir umgesehen!
So komm' denn, Sünder, komm' heran:
Mein Heiland nimmt die Sünder an.
Ja zu den Füßen Jesu werden die Bußtränen bald zu Dankes- und Freudentränen, sabbatliche Stille kehrt im Herzen ein, der Friede Gottes ergießt sich und weht sänftiglich durchs Herz, dass Leib und Seele sich freuen in dem lebendigen Gott. Und zuletzt werden die Bußtränen Tränen der Liebe, da man die Füße Jesu küsst und sie salbt mit Salben.
Wir haben bis jetzt das Sünderbild im Haufe des Pharisäers betrachtet und möchten gerne noch länger dabei verweilen und weitere Züge aufzählen, aber wir müssen weiter eilen und
II.
das Pharisäerbild ins Auge fassen. „Da aber das der Pharisäer sah, der ihn geladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: „wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin“.“ Da haben wir das ganze Pharisäerbild, von dem Pharisäer Simon selbst gezeichnet, wie es kein Maler besser zeichnen könnte. Er hat niedere und geringe Gedanken von Jesus, seinem werten Gaste, und lieblose, richtende Gedanken über die weinende Sünderin. Das sind zwei Hauptmerkmale des Pharisäismus.
Während das Volk nach der Auferweckung des Jünglings zu Nain rief und sprach: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und Gott hat sein Volk heimgesucht; so hat unser Pharisäer Simon kleine, geringschätzende Gedanken vom Herrn, und spricht bei sich selbst: wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrührt. Weil Jesus nicht den Pharisäermantel anhat, weil er nicht ein Mann ist nach dem selbstgerechten, hochmütigen Sinne Simons, kein aufgeblasener Heiliger, der schnöde die Sünder von sich stößt: darum soll und kann er auch kein Prophet sein. O meine Lieben, lasst uns von Simon wegsehen auf unsere Zeit. Finden wir nicht auch da bei Vielen kleine und geringe Gedanken von Christo? Wird nicht der eigentliche Fortschritt in Religion und Christentum darin gesucht, unserem Herrn der Herrlichkeit seine himmlische, göttliche Größe abzustreifen und ihn menschlich klein zu machen? Das ist aber in Wahrheit nichts Anderes als Pharisäismus; diese Kunst der Verkleinerung hat schon vor achtzehnhundert Jahren der Pharisäer Simon gar trefflich verstanden. Darum seht euch vor, glaubt nicht jedem Geist, prüft die Geister, ob sie aus Gott sind. Sie mögen noch so schöne, hohe und feine Worte machen, die Ausdrücke und Namen „Jesus, Gott, Himmel“ hundertmal in den Mund nehmen und noch dazu schöne Bibelstellen zitieren, wenn sie Jesum Christum, den Herrn der Herrlichkeit, menschlich klein machen, so sitzen sie auf derselben Bank mit Simon, dem Pharisäer, ja sie sind Irrgeister und falsche Propheten.
Aber auch die gläubigen Jünger des Herrn, welche demütig seine Herrlichkeit und Gottesmajestät verehren und anbeten - ach, wie oft haben auch sie im gewöhnlichen, täglichen Leben, in den Leiden und Anfechtungen dieser Zeit, kleine Gedanken von ihrem Gott und Heiland, und trauen ihm viel zu wenig zu; sie verfallen in Kleinmut und Kleinglauben, als wäre Jesus, ihr Herr und Meister, ein schwacher Mann, der nicht helfen könnte. Da spricht eine Seele: Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen. Mein Weg ist dem Herrn verborgen, mein Recht geht vor meinem Gott über.
Aber, liebe Seele, weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich, an Mitteln und an Wegen fehlt es ihm nicht. Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch dein nicht vergessen, spricht der Herr, dein Erbarmer. O liebe Christen, wir wollen uns gründlich schämen der kleinen Gedanken, die wir oft in den Zeiten der Not von unserem Gott und Heiland haben. Er ist und bleibt Jesus Christus, gestern und heute und derselbe in Ewigkeit, angebetet und gepriesen von allen Engeln und seligen Geistern, von der oberen und unteren Gemeinde als ein Herr der Herrlichkeit. Ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Ja Himmel und Erde sind sein. Er spricht, so geschiehts, er gebeut, so stehts da. Sollte der Gott und Heiland uns, dir und mir, nicht helfen können? Luther, der große Glaubensmann, pflegte in Zeiten der Not und Anfechtung mit Kreide auf den Tisch, ja an alle Türen zu schreiben: Vivit, vivit! Das ist lateinisch und heißt zu Deutsch: Er lebt! Jesus Christus, mein Gott und Heiland, lebt! Dies Wort wollen wir uns ins Herz schreiben, auf dass wir immer große Gedanken von unserem Heiland haben. Ja
Liebe Seelen, traut beständig
Eurem ewig treuen Hort!
Er ist Gott und ist lebendig,
Bleibt euch nah an jedem Ort.
Ist euch irgend Hilfe nötig,
Klopft nur an, Er ist zu Haus
Und zu jeder Hilf' erbötig;
Schüttet euer Herz nur aus!
Simon, der Pharisäer, hatte aber nicht nur kleine und geringe Gedanken von Jesus, er hatte auch lieblose, richtende Gedanken über die weinende Sünderin. Sie ist eine Sünderin! heißt es in seinem kalten, selbstgerechten Herzen. Heißt es nicht auch oft so in unseren Herzen? Ach, wie viele richtende Gedanken und verdammende Urteile hört man oft gerade in christlichen Kreisen, wie werden die Leute oft abgeurteilt und weggeschätzt! Liebe Brüder, ich will nicht viel sagen. Aber Eines muss ich sagen: Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge? Du Heuchler zeuch am ersten den Balken aus deinem Auge, danach besieh, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
III.
Wir richten noch unsere Blicke auf das dritte Bild im Hause des Pharisäers, auf das Heilandsbild. Wie gerne möchten wir lange, recht lange vor diesem Bilde stille stehen und uns recht satt sehen an seiner Schönheit. Aber die Zeit ist vorgerückt; so dürfen wir nur einen tiefen Blick in sein Herz tun. Auf die Gedanken des Pharisäers antwortete Jesus und sprach: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach im Bewusstsein seiner Unschuld und Weisheit: Meister, sage an. „Es hatte ein Wucherer, ein Schuldherr, zwei Schuldner. Einer war schuldig fünfhundert Groschen, der andere fünfzig; da sie aber nicht hatten zu bezahlen, schenkte er es beiden.“ Habt ihrs gehört, das kleine Wörtlein, in dem aber das große Herz des Heilands voll Liebe und Erbarmen aufgeschlossen ist? „Er schenkte es beiden.“ Jesus Christus ist der oberste Schuldherr, der wahre und höchste Gott, wider den alle Sünden gehen. Ihm ist alle Welt schuldig, die großen Schuldner mit fünfhundert Groschen und die kleinen mit fünfzig. Aber Schuldner sind wir Alle, und zwar ohne Kraft und Vermögen, unsere Schulden zu bezahlen, denn all unsere Gerechtigkeit ist wie ein unflätig Gewand; darum müssen wir Alle Vergebung haben vom Throne des Kaisers bis zur Hütte des Bettlers, vom Stuhl des obersten Bischofs bis zum gewöhnlichen Kirchenstuhl. So viel Menschen auf der Erde sind, so viel Schuldner sind auf der Erde. Aber Er schenkte es beiden, den großen und den kleinen Schuldnern. Ja Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit sich selbst. Jesus Christus ist aus dem seligen und herrlichen Leben beim Vater herabgestiegen auf unsere arme Erde und hat durch blutiges Leiden und Sterben eine ewige Erlösung erfunden und den Schuldbrief der Welt zerrissen.
Diesen Heiland, der als Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, die Sünden vergibt, gilt es dankbar zu lieben. Das können wir an der Sünderin in unserem Texte lernen. Jesus sprach zu Simon: „Siehst du dies Weib? Ich bin gekommen in dein Haus, du hast mir nicht Wasser gegeben zu meinen Füßen; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit den Haaren ihres Hauptes getrocknet. Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber, nachdem sie hereingekommen ist, hat sie nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salben gesalbt. Derhalben sage ich dir: ihr sind viele Sünden vergeben, denn sie hat viel geliebt; welchem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ Simons Herz war kalt gegen den Herrn; denn er glaubte, keiner Vergebung zu bedürfen. Er hielt sich Jesu gegenüber ganz in den Grenzen eines kalten, vornehmen Anstands und meinte sogar, es sei unter seiner Pharisäerwürde, dem Herrn Wasser für seine Füße, einen Kuss ins Angesicht und Öl aufs Haupt zu geben; obwohl dies sonst die üblichen Zeichen der Liebe und Hochachtung waren, mit denen man die Gäste zu bewillkommnen pflegte. Er unterließ dies Alles, um ja den Verdacht zu vermeiden, dass er ein Jünger Jesu oder besonders für ihn eingenommen sei. Simon war also dem Herrn gegenüber nicht der Mann der Liebe, sondern der Mann des kalten, berechnenden Verstandes. Aber der Sünderin Herz brannte in Liebe zum Herrn, denn ihr war viel vergeben; und diese Liebe bezeugte sie durch Tränen und Küssen und Salben der Füße. Wem gleichst du nun in der Liebe? Dem Simon oder der Sünderin? Ach, warum schlagen so wenige Herzen warm für den Heiland, warum ist so wenig brennende und flammende Liebe zu Jesu unter uns zu finden? Das kommt daher, weil Viele keine Vergebung der Sünden haben. Die Versöhnung der Welt auf Golgatha hat wohl stattgefunden, die Reinigungs- und Vergebungsquelle ist wohl geöffnet; aber du hast noch wenig oder nichts davon getrunken und sitzt noch ruhig auf einem Stuhl mit Simon, darum liebst du Jesum wenig oder gar nicht. Wem wenig vergeben ist, der liebt wenig. Wem viele Sünden vergeben sind, wer sich demütig unter die großen Sünder stellt, sich als großen Sünder erkennt, und so nicht satt wird, aus der Quelle der Vergebung täglich und stündlich zu trinken, der liebt viel. O Brüder, lasst uns Sünder werden, nicht dass wir in Sünden fallen, sondern dass wir unser böses, sündiges Herz erkennen, Buße tun, und die Vergebung der Sünden suchen. Dann werden wir Ihn lieben, denn Er hat uns zuerst geliebt. Ja
Ich will dich lieben, meine Stärke,
Ich will dich lieben, meine Zier,
Ich will dich lieben mit dem Werke,
Und immerwährender Begier;
Ich will dich lieben, Gotteslamm,
Du Lieb' am Kreuzesstamm!
Ich danke dir, du wahre Sonne,
Dass mir dein Glanz hat Licht gebracht;
Ich danke dir, du Himmelswonne,
Dass du mich froh und frei gemacht;
Ich danke dir, du heil'ger Mund,
Dass du mich sprichst gesund.
Ich will dich lieben, meine Krone,
Auch in der allergrößten Not;
So lang ich in der Hütte wohne,
Will ich dich lieben, Herr und Gott!
Ich will dich lieben, schönstes Licht,
Bis mir das Herze bricht!
Ja bis in Ewigkeit! Amen.