Kierkegaard, Sören Aabye - Über das Gericht in der Ewigkeit

Kierkegaard, Sören Aabye - Über das Gericht in der Ewigkeit

„Jetzt habe ich gesprochen“, sagt Gott im Himmel, „in der Ewigkeit sprechen wir uns wieder. Du kannst in der dazwischenliegenden Zeit tun, was du willst, aber das Gericht steht dir bevor.“

Ein Gericht! Ja, das haben wir Menschen ja gelernt, das lehrt ja die Erfahrung: Wenn auf einem Schiff oder in einer Armee eine Meuterei stattfindet, dann ist die Zahl der Schuldigen so groß, dass man von der Strafe absehen muss; und wenn es sich um das Publikum, das höchst geehrte, gebildete Publikum, oder um das Volk handelt, dann ist das nicht nur kein Verbrechen, dann ist das der Zeitung zufolge, auf die man wie auf das Evangelium und die Offenbarung vertrauen kann, Gottes Wille. Woher kommt dies? Es kommt daher, dass der Begriff Gericht dem Einzelnen entspricht, man richtet nicht en masse; man kann Leute en masse totschlagen, sie en masse bespritzen, ihnen en masse schmeicheln, kurz: auf vielerlei Weise Leute wie Vieh behandeln, aber Leute wie Vieh richten kann man nicht, denn Vieh ist nicht zu richten; auch wenn über noch so viele gerichtet wird, wenn es mit Ernst und Wahrheit erfolgen soll, dann wird jeder einzeln gerichtet. Sieh, deshalb ist Gott „der Richter“, weil für ihn keine Menge gibt, sondern nur Einzelne. Ist die Zahl der Schuldigen so groß, dann ist das menschlich unmöglich; deshalb gibt man das Ganze auf, man sieht ein, dass von einem Gericht keine Rede sein kann, es ist über zu viele zu richten, man kann sie nicht einzeln haben oder schafft es nicht, sie zu vereinzeln, deshalb muss man das Richten aufgeben.

Und weil man nun in unserer aufgeklärten Zeit, in der man alle anthropomorphischen und anthropopathischen Vorstellungen von Gott unpassend findet, es durchaus nicht unpassend findet, ihn als Richter zu denken, entsprechend einem gewöhnlichen Amtsrichter oder obersten Militärrichter, der eine so weitläufige Sache nicht bewältigen kann - deshalb schließt man: „Es wird in der Ewigkeit ganz genauso geben. Lasst uns darum nur zusammenhalten, uns sichern, dass die Pfarrer auf solche Art predigen. Und sollte es einen Einzelnen geben, der anders zu reden wagte, einen Einzelnen, der töricht genug wäre, sein Leben mit Kümmernis und Verantwortung in Furcht und Zittern selbst zu belasten, und dann auch andere zu plagen beabsichtigte: Dann wollen wir uns sichern, indem wir ihn für verrückt ansehen oder, falls erforderlich, indem wir ihn totschlagen. Wenn wir nur viele dabei sind, dann ist das kein Unrecht. Es ist Nonsens und antiquiert, dass viele Unrecht tun können; was die Vielen tun, ist Gottes Wille. Wie wir aus Erfahrung wissen - denn wir sind keine grünen Jünglinge, wir machen kein leeres Gerede, wir sprechen als Männer mit Erfahrung -, haben sich dieser Weisheit bisher alle Menschen gefügt, Könige und Kaiser und Exzellenzen; mit Hilfe dieser Weisheit wurde bisher allen unseren Kreaturen aufgeholfen - da wird auch Gott, zum Kuckuck, lernen, sich zu fügen. Es kommt nur darauf an, dass wir viele werden, wirklich viele, die zusammenhalten; wenn wir das tun, dann sind wir vor dem Gericht der Ewigkeit geschützt.“ - Ja, freilich sind sie geschützt, sollte es ihnen erst in der Ewigkeit widerfahren, dass sie Einzelne werden. Aber vor Gott waren und sind sie ständig Einzelne; vor Gott ist jeder Mensch von einer Durchsichtigkeit, dass sich keiner, der im Glasschrank sitzt, so seht geniert. Dies ist das Gewissens-Verhältnis. Mit Hilfe des Gewissens ist es so eingerichtet, dass mit jeder Schuld sogleich die Meldung verbunden ist und dass der Schuldige sie selber schreiben muss. Weil aber unsichtbare Geheimtinte dafür benutzt wird, ist die Schrift erst in der Ewigkeit, gegen das Licht gehalten, recht deutlich, während die Ewigkeit die Gewissen revidiert. Im Grunde kommt jeder solcherart in der Ewigkeit an, dass er selbst die genaueste Anzeige auch der kleinsten Geringfügigkeit, die er verbrochen oder hinterlassen hat, mitbringt und übergibt. Gericht in der Ewigkeit halten, das könnte daher ein Kind bestreiten; für einen Dritten gibt es eigentlich nichts zu tun, alles, auch das unbedeutendste Wort, das gesagt wurde, ist in Ordnung. Dem Schuldigen, der sich auf der Reise durchs Leben zur Ewigkeit befindet, ergeht es wie jenem Mörder der mit der Eisenbahn und so schnell wie sie vom Tatort - und seinem Verbrechen floh: Ach, gerade unter jenem Wagen, in dem er saß, lief der elektromagnetische Telegraf mit seinem Signalement und dem Befehl, ihn auf der ersten Station festzunehmen. Als er dort ankam und aus dem Wagen stieg, war er arrestiert - er hatte die Anzeige gewissermaßen selbst mitgebracht.

Also, Verzweiflung an der Vergebung der Sünden ist Ärgernis. Und Ärgernis ist Potenzierung der Sünde. Daran denkt man im Allgemeinen überhaupt nicht; man zählt das Ärgernis gewöhnlich wohl kaum zur Sünde und spricht dann auch nicht von Sünde, sondern von solchen Sünden, unter denen das Ärgernis keinen Platz findet. Noch weniger fasst man es als Potenzierung der Sünde auf. Der Grund dafür ist, dass man, christlich, den Gegensatz nicht zwischen Sünde und Glauben bildet, sondern zwischen Sünde und Tugend.

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