Kapff, Sixtus Carl von - Am vierten Epiphanien-Sonntag.

Kapff, Sixtus Carl von - Am vierten Epiphanien-Sonntag.

Text: Röm. 13, 8-10.
Seid Niemand nichts schuldig, denn dass ihr euch unter einander liebet; denn wer den Andern liebet, der hat das Gesetz erfüllet. Denn das da gesagt ist: du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis geben; dich soll nichts gelüsten, und so ein anderes Gebot mehr, ist; das wird in diesem Wort verfasset: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

„Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht, „ mit diesen Worten ladet der HErr JEsus alle Mühseligen und Beladenen ein, sich in seinen leichten und freudenvollen Dienst zu begeben, in dem sie Ruhe finden sollen für ihre Seelen. Mühselig und beladen fühlen wir uns nicht bloß in äußerer Noth und Trübsal, sondern am meisten in der inneren Noth der Sünde. Dem heiligen Gesetz GOttes müssen wir Recht geben, das sagt uns das innerste Zeugnis unseres Gewissens: aber es sagt uns auch, dass wir das Gesetz GOttes nicht gehalten und durch vielfache Übertretungen und Versäumnisse uns seines Zornes schuldig gemacht haben. Diesen tief beschämenden Eindruck mussten die drei letzten Episteln uns geben, da sie, wie die heutige, die Hauptpunkte des neutestamentlichen Gesetzes uns vorschreiben: „wir sollen heilige Opfer GOttes sein, uns nicht der Welt gleichstellen, uns verändern und bekehren durch Erneuerung unseres Sinnes, nach dem vollkommenen Willen GOttes, nicht nach unserem eigenen Willen leben; sollen in Demuth und allgemeiner Liebe alle Geschäfte unseres irdischen und himmlischen Berufes treu und pünktlich erfüllen, Trübsal geduldig ertragen, am Gebet anhalten, gerne geben und helfen, und an Anderer Wohl und Wehe herzlichen Antheil nehmen, auch Feinde lieben und Böses mit Gutem vergelten, mit allen Menschen Friede zu haben suchen, nach dem trachten, was vor Jedermann schön, edel, ehrbar und wohlanständig ist, und durchaus das Böse aller Art in uns und außer uns überwinden mit Gutem. Wer von uns hat so in den Fußstapfen JEsu nach seinem Vorbild gelebt? Wer lebt heute so? Und wer darf es sich zutrauen, dass sein Leben in alle Zukunft ein solch GOtt- und JEsus-ähnliches Leben sein und bleiben werde? O, wie tief demütigt uns diese Frage!

Wo soll ich fliehen hin?
Weil ich beschweret bin
Mit vielen großen Sünden;
Wo kann ich Rettung finden?
Wenn alle Welt herkäme,
Mein' Angst sie nicht wegnähme!

Diese Angst vor dem Gesetz und vor dem Fluch, den es über alle Sünder ausspricht, wird oft in Seelen, denen es um das Seligweiden ernstlich zu tun ist, zu einem Sturm der Gedanken und Gefühle, ähnlich dem, der heute Nacht brauste, und ähnlich dem auf dem Meer, von dem das heutige Evangelium erzählt. Aber wie JEsus den Wind und das Meer bedräuete, dass seine tobenden Wogen sich legten, so macht Er es auch stille in einem Herzen, das mit bußfertiger Heilsbegierde zu Ihm ruft, wie die Jünger: „HErr, hilf uns, wir verderben!“ Das Kreuz JEsu ist der Fels, an dem die Wellen der Sündflut sich brechen. Die Versöhnung in JEsu Christo gibt Trost über die Vergangenheit und Hoffnung für die Zukunft. Wer im Glauben seine Gerechtigkeit und sein Leben angezogen hat, den erfüllt ein neuer Geist, eine neue Liebe und ein neuer göttlicher Sinn. Und dieses neuen Geistes Gesetz macht lebendig in Christo JEsu, und macht frei vom Gesetz der Sünde und des Todes, so dass wir das Gesetz GOttes, das durch das Fleisch geschwächt ist, d. h. das wir in der Schwachheit unseres Fleisches nicht erfüllen können, in des Geistes Kraft gerne erfüllen. Dieser neue Lebensgeist ist die Liebe, die aus lebendigem Glauben an JEsum fließt, wie der Bach aus der Quelle. Von dieser Liebe sagt unsere Epistel, sie sei des Gesetzes Erfüllung. Erfüllt muss das Gesetz sein, aber nur die Liebe kann es. Darüber wollen wir weiter nachdenken, indem wir unter dem Segen des HErrn betrachten:

Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.

  1. Wir müssen das Gesetz erfüllen, aber wir können es nicht von Natur.
  2. Die Liebe aber will und kann das ganze Gesetz erfüllen.

Lass den Geist der Kraft, HErr JEsu,
Geben unserm Geiste Kraft,
Dass wir brünstig Dir nachwandeln
Nach der Liebe Eigenschaft.
Ach, HErr, mach' uns selber tüchtig,
So ist unser Leben richtig.

Dann wird Lob und Dank, HErr JEsu,
Schallen aus des Herzens Grund,
Dann wird Alles jubilieren
Und dir singen Herz und Mund.
Endlich muss so auf der ganzen Erden
JEsus hochgelobet werden.

I.

Wir müssen das Gesetz erfüllen, aber wir können es nicht von Natur und aus eigener Kraft. Davon gibt unser Text uns einen tiefen Eindruck. Paulus spricht von dem Gesetz als von etwas noch vollkommen Gültigem. Die vielen Gebote alle, die er vorher gegeben hatte, zu den vorhin genannten auch das, gegen jede Obrigkeit gehorsam zu sein, und durchaus Jedermann zu geben, was ihm gebühre, das Alles fasst er in unserem Text zusammen mit den Worten: „Seid Niemand nichts schuldig, denn dass ihr euch unter einander liebet.“ Das also ist die große Schuldigkeit, die nach dem Gesetz Jeder von uns auf sich liegen hat, die Schuldigkeit, die uns durch den Glauben keineswegs erlassen wird, wie ein faules Christentum wähnt, das die Gnade auf Mutwillen zieht. Nur die Schuld unserer Sünden wird uns durch den Glauben an JEsum erlassen, aber die Schuldigkeit, die das Gesetz uns auflegt, bleibt. Daher setzt Paulus Röm. 3,31., nachdem er das gnadenvolle Evangelium von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, als den höchsten Trost aller Sünder, verkündet hatte, hinzu: „Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne, sondern wir richten das Gesetz auf,“ wir bestätigen die Forderungen des Gesetzes als ewig gültige Gebote GOttes.

Weil das Gesetz erfüllt sein muss, deswegen musste Christus in seinem ganzen Leben, und besonders in seinem Tode, die ganze Forderung des Gesetzes erfüllen, teils damit wir vom Fluch des Gesetzes los werden, teils damit wir Ihm nach und in seiner Kraft das Gesetz erfüllen können. GOtt kann nicht abgehen von der Forderung, in der alles Gesetz zusammengefasst ist: „Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig.“ Nach des heiligen GOttes Bild sind wir geschaffen, und in dieses heilige Bild, das wir durch die Sünde verloren haben, wieder verklärt zu werden, das ist die Hauptaufgabe unseres ganzen Lebens. Nur im Bilde GOttes sind wir selig, und weil GOtt nur unsere Seligkeit will, alles Ungöttliche aber uns unselig macht, deswegen hat GOtt das Gesetz gegeben als ein Zuchtmittel, durch das wir vor allem Ungöttlichen, Sündlichen bewahrt und in Heiligkeit GOtt ähnlich gemacht werden sollen. Würde GOtt sein Gesetz aufgeben, würde Er nicht mehr verlangen, dass wir Ihm gleich heilig werden sollen, so würde Er unsere Seligkeit aufgeben; wie daher Heiligkeit die Zierde seines Hauses, und Gerechtigkeit und Gericht seines Stuhles, d.h. seiner Herrschaft Festung ist, so ist GOttes Gesetz nach Psalm 119 „ein Licht auf unserem Weg“ zum ewigen Leben, und für GOtt verlangende Seelen ist es süßer, denn Honig, und lieber, denn tausend Stücke Gold und Silber. Unser innerer Mensch fühlt, wenn das Fleisch noch so sehr widerstrebt, dass GOttes Gesetz allein uns wahrhaft glücklich macht und dass Seligkeit nur in Heiligkeit zu finden ist.

Deswegen hat JEsus in seiner Bergpredigt erklärt, dass er nicht das Geringste vom Gesetz auflöse, sondern es zu erfüllen gekommen sei, und wer das kleinste Gebot aufhebe, der sei der Kleinste im Himmelreich; wer es aber tue und lehre, wer also den Forderungen der Heiligung sich unterwerfe, der werde groß sein im Himmelreich. Und dann hat Er gezeigt, wie das Gesetz des alten Bundes im neuen Bund noch viel strenger zu erfüllen sei, als von den strengsten Juden, die sich der pünktlichsten Erfüllung des Gesetzes rühmten. Sie taten es nach dem Buchstaben, wir aber sollen es nach dem Geiste tun. Und da nennt JEsus die gleichen Gebote, wie unser Text, und zeigt, dass es nicht genug sei, nicht zu töten und nicht zu ehebrechen, sondern dass schon der Zorn und das Schmähen Anderer uns des Gerichts schuldig mache und unkeusche Augenlust am andern Geschlecht schon ein Ehebruch im Herzen sei.

Daher sagt Paulus in unserem Text: „das da gesagt ist, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch Zeugnis geben, dich soll nichts gelüsten, und so ein ander Gebot mehr ist, das wird in diesem Wort verfasset: du sollt deinen Nächsten lieben als dich selbst.“ So lässt auch Paulus keines der Gebote GOttes fallen und führt sie alle auf die Liebe zurück, die viel mehr leisten muss, als alle äußerliche Erfüllung des Gesetzes je leisten kann. Diese Liebe aber ist das Gebot, das im neuen Bund immer wiederholt wird. Zweimal sagte JEsus, das ganze Gesetz und die Propheten stehe darin: „Du sollst GOtt, deinen HErrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und aus allen Kräften, und deinen Nächsten als dich selbst.“ Und zu dem Schriftgelehrten, der Ihn fragte: „Was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe, „ sagte Er gleichfalls: „er soll diese Gebote tun, so werde er darin das Leben finden.“ Und das letzte Gebot, das Er als das neue und ewig gültige wie ein Testament seinen Jüngern hinterließ, war das: „dass sie sich unter einander lieben sollen, wie Er sie geliebt habe.“

Dieses Gebotes sind alle Briefe der Apostel voll, und aus ihm leiten sie so viele andere her, und sprechen denen, die sie nicht erfüllen, das Leben ab, so sehr, dass Johannes sagt: „Wer Sünde tut, der ist vom Teufel, wer aber aus GOtt geboren ist, der tut nicht Sünde, ja er kann nicht sündigen.“ Und, im letzten Kapitel der Bibel, nachdem der ganze Reichsplan GOttes bis zur Vollendung in der Stadt GOttes enthüllt ist, ertönt noch einmal der heilige Ruf aus dem Himmel: „Draußen, ausgeschlossen von allen Friedenswohnungen GOttes, draußen sind, die lieb haben und tun die Lügen, d. h. die Sünde, draußen alle Übertreter des Gesetzes. Selig aber sind, die GOttes Gebote halten, ans dass ihre Macht sei am Holz des Lebens und durch die Thore einzugehen in die Stadt.“ Und eines der allerletzten Worte JEsu in der Bibel ist: Er komme bald, zu geben einem Jeglichen, wie seine Werke sein werden.

Alles das predigt uns gewaltig, dass wir das Gesetz erfüllen müssen. Aber können wir es? Warum denn nicht, sagt die Vernunft, gerade das ist ja der Adel der menschlichen Natur, dass sie Gutes wollen und Gutes tun kann. Ist es so? Die Erfahrung lehrt über diesen Adel etwas ganz Anderes. Sie zeigt, wie die Bibel, ein solch' allgemeines und tiefes Sündenverderben, dass ohne wahre Bekehrung nirgends wahre Tugend zu finden ist. Eine äußerliche, bürgerliche Gerechtigkeit steht wohl in unserer Macht; grobe Sünden fliehen, die Forderungen der Obrigkeit erfüllen, unsern irdischen Beruf fleißig versehen, ehrbar leben, Almosen geben und in die Kirche gehen, das kann jeder natürliche Mensch. Aber tut er das auch, wenn er keinen Nutzen davon hat? Tut er es also nicht um sein Selbst willen? Und wenn er's auch tut aus Pflichtgefühl, ist das die Gerechtigkeit, die vor GOtt gilt? Vor GOtt gerecht wäre nur der, der in allem seinem Thun geleitet wäre von der Liebe, die GOtt liebt aus allen Kräften und den Nächsten als sich selbst. Können wir das aus eigener Kraft unserer Natur?

Paulus sagt: „Es sei unmöglich, dass das Gesetz oder seine Erfüllung uns vor GOtt rechtfertige, denn es sei durch das Fleisch geschwächt.“ Das Fleisch ist unsere Natur, wie sie von Geburt ist, in ihrer Selbstsucht und Eigenliebe, in der sie das Gesetz aufstellt und befolgt: „Du sollst dich selbst lieben über Alles und den Nächsten nach dir und für dich, d. h. so weit es dir angenehm und nützlich ist, und GOtt neben dir und so weit GOtt dir deine Freude im Irdischen lässt und fördert.“ Aus diesem Gesetz der Selbstliebe fließt weiter das Gesetz: „Du sollst suchen so viel als möglich Genuss und Vergnügen, Vorteil und Gewinn, Ehre und Ansehen zu erhalten, selbst suchen, dich so wenig als möglich um Andere zu bekümmern, und Alles das von dir ferne zu halten, was dich in deinem irdischen Lebensgenuss stört, „ Daraus ergibt sich die Feindschaft des Fleisches gegen Alles das, was uns ermahnt und treibt, die Welt und uns selbst zu verleugnen, im Himmel, nicht auf der Erde unser wahres Glück zu suchen, und GOttes heiligem Willen unsern Willen zu unterwerfen.

Deswegen sagt der Apostel: „Fleischlich gesinnt sein ist eine Feindschaft wider GOtt, sintemal es dem Gesetz GOttes nicht untertan ist, denn es vermag es auch nicht.“ Das Fleisch kann nicht anders, Selbst- und Weltliebe ist seine Natur und das Irdische sein Element. Daher man so oft unbekehrte Leute hört, wie sie ihren Zorn, ihre sündliche Lust und ihren bösen Wandel damit entschuldigen, dass sie sagen: „so bin ich eben, ich kann mich nicht anders machen.“ Diese fleischliche Natur will in Allem Recht haben gegen GOtt. Sagt GOtt: „Du sollst dich nicht lassen gelüsten,“ so sagt das Fleisch: „Aber ich will meine Lust haben.“ Sagt GOtt: „Du sollst, den Nächsten lieben als dich selbst,“ so sagt das Fleisch: „Ich bin mein Nächster, was gehen mich Andere an.“ Und so auf jedes „Du sollst“ GOttes hat das Fleisch ein „Ich mag nicht,“ und auf jedes „Du sollst nicht“ GOttes sagt das Fleisch: „Und ich will.“ Diesen Widerstreit, der selbst in Gläubigen viele Kämpfe bewirkt, schildert Paulus mit den Worten (Röm. 7,14.): „Ich bin fleischlich unter die Sünde verkauft. Wollen habe ich wohl nach dem inneren Menschen, da der Geist im Gewissen GOtt Recht geben, nach GOtt sich sehnen muss: aber vollbringen das Gute finde ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Nach dem inwendigen Menschen hätte ich wohl Lust an GOttes Gesetz, aber ich sehe ein ander Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüte und nimmt mich gefangen in der Sünden Gesetz. Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“

Aus diesem tiefen Elend der Sünde und des Widerstrebens gegen GOtt kann kein Mensch sich selbst heraushelfen. Deswegen sagt Paulus so oft, dass durch des Gesetzes Werke kein Fleisch vor GOtt gerecht werden könne, und dass durchs Gesetz nur Erkenntnis der Sünde, nicht aber Lassen der Sünde bewirkt werde, ja, dass gerade durchs Gesetz der Reiz zur Sünde um so größer werde; denn, sagt er: „Ich wusste Nichts von der Lust, wo das Gesetz nicht hätte gesagt: lass dich nicht gelüsten.“ Wie die leichtsinnigen Knechte der Sünde, so können auch die ehrbaren, nach Rechtschaffenheit trachtenden Gesetzesmenschen das Gesetz nicht so erfüllen, dass es sie gerecht machte vor GOtt, was nur dann wäre, wenn sie Alles täten in reiner Liebe GOttes und des Nächsten. Viele scheinen und glauben das Gesetz zu erfüllen; aber sie tun es in selbstgerechtem und selbstgefälligem Sinn, um ein gutes Zeugnis und Ehre vor Andern und vor sich selbst zu haben. Dieser Tugendstolz lässt es nie zu der Gerechtigkeit kommen, die vor GOtt gilt. Vor GOtt gilt nur, was aus GOtt, in GOtt und zu GOtt ist, zu seiner Ehre, in seiner Liebe und aus seinem Geiste. Solch' göttlicher Sinn ist unserer, in Selbstsucht, Eigenliebe und Hochmuth verdorbenen Natur unmöglich, und deswegen können wir aus eigener Kraft das Gesetz nicht erfüllen, und die Erfahrung der erleuchtetsten Christen aller Jahrhunderte bestätigt den Ausspruch JEsu: „Ohne mich könnet ihr Nichts tun.“ Aus JEsu allein fließt göttliche Lebenskraft uns zu, und nur wer Ihn kennt und liebt, nur der kann das Gesetz erfüllen. Denn nur er hat die Liebe, von der wir

II.

betrachten: die Liebe will und kann das ganze Gesetz erfüllen, nach dem Hauptsatze unseres Textes: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“ Paulus meint da zunächst die Liebe des Nächsten, aber wir müssen diese in ihrem tieferem Grunde auffassen, welcher ist die Liebe GOttes und JEsu. Alle Liebe des Nächsten, die nicht aus der Gottesliebe fließt, ist unlauter, fleischlich, eigennützig, kreatürlich. GOtt ist die Liebe, und nur Er ist aller wahren Liebe Grund, Kraft und Ziel. Aber wie wird GOttes Liebe unsere Liebe, dass wir Ihn lieben aus allen Kräften und dadurch dann auch den Nächsten als uns selbst? Das geschieht allein durch eine gründliche Buße und durch gründlichen Glauben an JEsum Christum, wodurch die Wiedergeburt vorgeht, in welcher der alte Mensch stirbt und ein neuer Geist aus GOtt das Herz zur Vereinigung mit GOtt bereitet. Ohne solche Bekehrung bleibt die Selbstsucht, Selbst- und Weltliebe in ihrer alten Herrschaft, wenn sie auch noch so fein und brav vor Menschen scheint.

Sollen wir GOtt über Alles, den Nächsten als uns selbst lieben, so dürfen wir uns selber nicht mehr lieben, nämlich nicht mehr so, wie die falsche, fleischliche Selbstliebe es tut. Daher sagt JEsus, dass nur die seine Jünger sein können, die ihr eigenes Leben hassen. Das lautet hart für die Natur. Aber wer kann denn noch sein eigenes Leben lieben, wenn er erkannt hat, wie wenig dieses Leben mit dem Gesetze GOttes übereinstimmt, wie befleckt und unrein es ist vor dem Richterstuhl des Heiligen, der mit seinen feuerflammenden Augen den tiefsten Grund der Herzen erforscht. Wer, der nicht Finsternis Licht und Sauer Süß heißt, kann das Leben lieben, das von sündlichen Trieben und Begierden aller Art durchfochten, in die irdische Eitelkeit versunken und von Fleischeslust, Augenlust und hoffärtigem Wesen beherrscht ist, so dass GOtt selbst in seinem Wort zweimal sagt: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse immerdar von Jugend auf.“ Je mehr eine Seele dieses sündliche Verderben erkennt, desto mehr lernt sie sich selber hassen und alle Ansprüche der Selbstliebe und Selbstsucht aufgeben.

Wie der unter die Mörder Gefallene ganz ausgezogen und dem Tode nahe war ohne die Hülfe des barmherzigen Samariters, so erscheint der Sünder, der sich selber kennt, sich als völlig Hilflos, als dem Tod und der Hölle verfallen, und sieht nirgends mehr in der Welt und in sich selbst Rettung, und so, an sich selbst verzweifelnd, wirft sich die Seele dem zu Füßen, der allein uns von GOtt gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung. Das ist Er uns durch das unschuldige, kämpf- und leidensvolle Leben, das er 33 Jahre lang für uns und uns zu gut durchlebt; Er ist es besonders durch den blutigen Martertod, den Er an unserer Statt am Kreuze erduldet und durch den Er die Versöhnung für unsere und der ganzen Welt Sünde geworden ist. Wenn das eine Seele sich zueignen, wenn sie glauben kann: für mich ist JEsus gestorben, mir, dein Vornehmsten unter den Sündern, hat Er, der Heilige, die Hölle zugeschlossen und den Himmel aufgetan, da Er meinen Fluch getragen, meine Strafe gebüßt, meine Sünden auf sich genommen und seine Gerechtigkeit mir geschenkt hat, - wenn eine Seele so sich JEsu Verdienst von seiner Geburt bis zum Kreuze und bis auf den Thron seiner Herrlichkeit sich zueignen kann, dann ruft Alles in ihr:

O wie groß ist deine Güte,
Deine Treu,
Die stets neu,
Preiset mein Gemüte;
Ach, ich muss, ich muss Dich lieben;
Seel und Leib
Ewig bleib'
Deinem Dienst ergeben.

Eine durch JEsum aus den tiefsten Nöthen erlöste und zu den höchsten Hoffnungen erhöhte Seele kann nicht anders, als Ihn lieben aus allen Kräften. Denke dir, du weidest von den Wellen eines reißenden Stromes dahingerissen, und seiest am Untersinken, da stürzt ein Freund sich herein und rettet dich mit Gefahr seines eigenen Lebens; wirst du nicht Zeitlebens ihn lieben mit einer Dankbarkeit, der kein Opfer zu schwer ist? Oder denke dir, du seiest wegen eines Mordes (und wie viele hast du innerlich begangen!) zum Tode verurteilt und sitzest schon auf dem Blutgerüst und erwartest bebend den tätlichen Schwertstreich, da kommt Einer, den du vielfach beleidigt, und behauptet, er habe den Mord begangen, und lässt das Todesurteil über sich sprechen und lässt sich das Haupt abschlagen an deiner Statt, und du gehst frei aus: - wirst du sein Andenken nicht ehren mit unauslöschlichem Danke und mit einer Liebe, die auf alle Art den Stellvertreter in seiner Familie zu ehren und zu belohnen sucht? Aber was sind solche menschliche Wohltäter gegen den, der dich vom ewigen Tod erlöst und zu ewiger Freude dich erhöht hat! Willst du da unempfindlich sein, o so bist du mehr als Stein. Nein, größerer Liebe ist Niemand wert, als JEsus, dem wir Alles schuldig sind, ohne den wir ewig verloren wären.

Daher sagt Paulus: „Er ist darum gestorben, dass, die so da leben, hinfort nicht ihnen selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.“ Nicht mehr uns zu leben, sondern Ihm - dazu treibt uns die Liebe, womit Er uns geliebt hat, dazu treibt der heilige Geist, der in die Seelen ausgegossen wird, die durch JEsu Blut gewaschen sind. Dieser Geist macht versöhnte Seelen zu GOttes Kindern, nicht bloß zurechnungsweise, sondern wesentlich; ergibt in uns ein göttliches Lebenselement, indem er den Geist in uns, der aus GOtt ist, der aber durch die Herrschaft des Fleisches wie von einem Schutthaufen überdeckt war, wieder zur Herrschaft bringt und mit Leben aus GOtt erfüllt, ja mit GOtt ihn vereinigt. Dieses Geistes Natur ist es dann, GOtt und JEsum zu lieben, wie es des Fleisches Natur ist, sich selbst zu lieben. Der Geist liebt GOtt, seinen Ursprung und sein Element, mehr als ein Kind seine Eltern liebt; der Geist liebt JEsum als sein Leben, wie eine Braut ihren Bräutigam liebt. Da ist dann das Gesetz GOttes nicht mehr wie der Befehl eines Herrn, den der Knecht bloß gezwungen, bloß aus Furcht, bloß um des Lohnes willen erfüllt, vielmehr ist das Gesetz der gute und erwünschte Wille des Vaters, den das Kind herzlich gerne erfüllt, ja, wie eine Braut ihrem Bräutigam gerne Alles tut, was sie ihm an den Augen ansieht, so will eine versöhnte und vom Geist erfüllte Seele nichts Anderes mehr, als was ihr HErr, der zugleich ihr Freund ist, will. Muss sie Ihm auch ein Opfer bringen, so hat sie vorher unendlich mehr, als sie je verleugnen kann, von Ihm empfangen; und wie ein Kind die schädliche Schere gerne fallen lässt, wenn man ihm dafür eine Schachtel voll Zuckerbrot gibt, so gibt unser Glaube uns so viel Güter und Freuden in Christo, dass wir ihm zu lieb gerne die Welt fahren lassen. Ja, Alles kann Er denen nehmen, denen Er vorher so unendlich viel gegeben hat. Da ist dann das Gesetz oder der Wille GOttes innerlich in's Herz geschrieben, es heißt nicht mehr von außen: „Du sollst,“ sondern es heißt von innen heraus: „ich will, ich will mich dir opfern, ich will dir dienen, dein Dienst ist meine Lust, ich will dir leben, dir leiden, dir sterben, denn das Leben in dir ist meine Seligkeit.“ Die Liebe tut, was dem Geliebten gefällt, und wenn es ihr nicht gesagt würde, sie weiß selbst, was sie zu tun hat. Das Gesetz kann ihr nichts Anderes gebieten, als was sie von selbst tun würde. Daher sagt Paulus: „Dem Gerechten ist kein Gesetz gegeben.“ Sein Gesetz ist seine Liebe, und die Liebe ist kein Gesetz; sie ist innerer Trieb und Zug, der nicht anders kann, ist lauter Leben.

Was dem Gesetz unmöglich war zu geben,
Das bringt alsdann die Gnade selbst herfür,
Sie wirket Lust zur Seligkeit in dir,
Und ändert nach und nach dein ganzes Leben,
Indem sie dich aus Kraft zu Krafte führt
Und mit Geduld und Langmut dich regiert.

Die Liebe zu dem, der unser Leben geworden, will und kann das ganze Gesetz mit allen seinen Forderungen erfüllen, sie hat selbst an keiner Sünde mehr Lust, sie will selbst nichts Anderes, als was ihrem HErrn gefällt, denn sie ist innerlich mit Ihm eins und seines Sinnes und seiner Art. Daher sagt unser Text: „Die Liebe tut dem Nächsten Nichts Böses.“ Würde sie es tun, so würde sogleich ihre innere Gemeinschaft mit ihrem HErrn gestört, sie hätte keinen Frieden mehr. Daher man sieht, dass gläubige Seelen, wenn sie auch von Fehlern, von Aufwallungen der alten Natur übereilt werden und gegen die Liebe handeln, doch sogleich oder wenigstens bald sie wieder bereuen und davon ablassen, ihr Unrecht wieder gut zu machen suchen, das beleidigende Wort zurücknehmen, um Vergebung bitten und mit neuer Liebe lieben. Wo das nicht ist, da fehlt's am rechten Glauben und an der wahren Bekehrung. Überhaupt so viel wir noch irgend eine Sündenlust in uns beherbergen, so viel fehlt's noch an der rechten Liebe zu dem, der uns zuerst geliebt, und also an der rechten Bekehrung. Die völlige Liebe treibt, wie alle Furcht, so auch alle Sünde aus und ist des ganzen Gesetzes Erfüllung, wie Johannes sagt: „Das ist die Liebe zu GOtt, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer,“ sie sind das Nämliche, was der Geist selbst innerlich in uns wirkt. Denn Alles, was von GOtt geboren ist, überwindet die Welt, und unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Denn wer den Sohn GOttes hat, der hat das Leben, wer den Sohn GOttes nicht hat, der hat das Leben nicht.“

So hilft also nicht das Gesetz, noch die Moral, noch irgend ein Tugendvorsatz oder Tugendruhm zum Leben, sondern allein das selige Evangelium von der Gnade GOttes in JEsu Christo, der die Gottlosen gerecht und die Sünder zuerst versöhnt, dann erst heilig macht nach seinem Bilde durch die Macht seiner Liebe und seines Geistes.

Das haben noch Alle erfahren, denen es um das Seligwerden ernstlich zu tun war. Viele suchten Jahre lang Gerechtigkeit durch die Werke, wie sie das Gesetz oder die Moral gebot. Aber sie konnten das Gesetz nicht erfüllen, und erst, wenn sie sich als arme Sünder JEsu übergaben und seine Versöhnung und seine Gerechtigkeit und sein Leben anzogen, erst da fanden sie Frieden und Kraft, in einem neuen Leben zu wandeln. So Luther, nachdem er alle Satzungen und Gebräuche der strengen Klostergesetze aufs Genaueste erfüllt, aber keinen Frieden darin gefunden hatte; so ein englischer Prediger, Fletscher, der eine vor Menschen höchst lobenswerte Frömmigkeit und Rechtschaffenheit von Jugend an bewiesen hatte und von Jedermann als ein Gerechter und Untadelhafter bewundert wurde. Er erfüllte alle seine Pflichten mit strengster Gewissenhaftigkeit, er war redlich und zuverlässig, mildtätig und uneigennützig, forschte fleißig nach Wahrheit und besuchte regelmäßig die öffentlichen Gottesdienste. So tat er selbst sich viel darauf zu gut, dass er der hohen Würde der menschlichen Natur gemäß lebe. Da hörte er einmal die Predigt eines wahrhaft gläubigen Mannes. In dieser wurde er überzeugt, dass er das Wesen des seligmachenden Glaubens noch nicht kenne. Er fragte sich: „ist's möglich, dass ich, der ich immer für so fromm gehalten wurde, ich, der ich die Theologie studiert habe, dass ich nicht einmal wissen soll, was der Glaube ist.“ Je mehr er sich prüfte, desto mehr erkannte er zur tiefsten Demütigung, wie viel ihm noch fehle. Er erkannte, dass seine Tugend Selbstgerechtigkeit und Hochmuth gewesen sei, dass das Herz des unwiedergeborenen Menschen ein Abgrund der Finsternis und ein Gewirr von Widersprüchen sei, er kämpfte, seine böse Natur zu überwältigen, aber immer mehr wurde ihm das Grundverderben seines Herzens aufgedeckt und im Gefühl gänzlicher Hilflosigkeit siel er JEsu zu Füßen mit dem Seufzer: „Rette mich wie einen Brand aus dem Feuer, gib mir den rechtfertigenden Glauben und reinige mich von meinen Sünden!“ Von da an erst fing ein neues Leben bei ihm an. Ähnliches erfuhr der Pfarrer Forstmann. Aus einem ganz weltlichen Leben wurde er durch eine sehr schwere Krankheit aufgeweckt zu der Frage: „Was soll ich tun, dass ich selig werde?“ Im Gefühl seines Sündenelendes fasste er nun den Vorsatz, das Gesetz GOttes aufs Strengste zu erfüllen. Er gab seine bisherigen Gesellschaften auf, er las keine ungläubigen Bücher mehr, seine ganze Lebensart war zu Jedermanns Erstaunen eine andere. Aber er war nur ein Schüler Mosis, predigte in seiner Gemeinde das Gesetz mit großem Eifer und ließ es sich unter dem Dienst des Gesetzes sehr sauer werden. Aber er fand keinen Frieden und kämpfte oft bis zur Verzweiflung. Da kam einmal ein Handwerksmann zu ihm, dem er seinen inneren Jammer entdeckte. Dieser sagte ihm: „Der Heiland ist für Ihre Sünden gestorben, am Tag seines Todes sind Ihnen alle Ihre Missetaten, und wenn sie noch viel größer wären, schon vergeben, sein Blut redet Gnade für Sie.“ So sehr ihm das durchs Herz ging, so konnte er es doch lange nicht glauben. Aber er forschte in der Bibel, und fand, was der Mann gesagt hatte, fand nun auf allen Blättern, was er bisher nicht erkannt hatte. Nun glaubte er, dass JEsus um seinetwillen am Kreuze gehangen sei, sein Herz zerfloss in Thronen und wurde wie Wachs, und mit Leib und Seele schenkte er sich dem Mann der Schmerzen. Von da an war er ein neuer Mensch und lebte nach dem Wort: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“

So sei es auch bei uns, teure Seelen! Auch wir wollen GOttes Gesetz erfüllen, aber in der Kraft und Liebe dessen, der durch seinen Tod und seine Auferstehung uns von Sünde und Tod, Teufel und Hölle erlöst und zu seligen Kindern GOttes gemacht hat. Ihm gehöre unser Herz und Leben als ewiges Eigentum, und Ihn zu preisen mit heiligem Wandel, das sei unsere Lust und Freude, dass wir mit Wahrheit sagen können:

Sein ist mein Glück und meine Zeit,
Sein ist mein Sterben und mein Leben,
Zu seinem Ehrendienst geweiht,
Von Ihm bestimmt und Ihm ergeben.
Es kommet, was ich lass und tu',
Von Ihm her und Ihm wieder zu.
Sein sind auch alle meine Schmerzen,
Die Er ihm zärtlich zieht zu Herzen.
Er fühlt und endet meine Pein,
Mein Freund ist mein und ich bin sein. Amen.

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