Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Philipper in 25 Predigten - Fünfte Predigt.

Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Philipper in 25 Predigten - Fünfte Predigt.

Herr Gott, dein Evangelium
Ist für uns Licht und Leben;
Du hast es (dir sei Dank und Ruhm!)
Zum Segen uns gegeben.
Heil dem, der sich darauf verläßt!
Denn deine Wahrheit stehet fest,
Wann Berg' und Hügel weichen.

Wie werth und theuer muß uns das Evangelium sein, wenn wir bedenken, wie viel Kampf, ja wie viel Blut es gekostet hat, bevor es zu uns gekommen ist. Es ist ein Kind, das unter viel Schmerz und Todesnoth geboren, und unter den härtesten Kämpfen groß geworden ist. Blickt nur vor Allem in die Zeit der Kindheit des Evangeliums zurück. Es war damit nicht gethan, daß der Sohn Gottes in die Welt kam, seinen Mund aufthat und das Evangelium predigte; nein, wenn er nicht auch den Leidensweg hätte betreten wollen, der ihn nach Gethsemane und von da nach Golgatha und von Golgatha in's Grab führte, so wäre das Evangelium nicht in alle Welt gegangen. Ist doch auch eben diese leidende, diese gekreuzigte Gottesliebe der Stern und Kern des Evangeliums. Könntest du denn dies theure Wort verachten, um das so hart hat gekämpft werden müssen, daß an jedem Verse ein göttlicher Schweiß- und Blutstropfen hängte? Und mit des Erlösers Tod hat der Kampf um dasselbe nicht aufgehört; nein, auch seine Jünger haben den bittern Kelch des Leidens trinken müssen, damit wir den süßen Kelch des Evangeliums trinken könnten. Was uns erquickt, wenn wir mühselig und beladen sind; was uns Schatten und Trost gewährt, wenn unser Herz beschwert ist von Leiden; was uns zu Kindern Gottes macht, uns erneuert, uns mit Friede, Hoffnung und Seligkeit erfüllt, das ist ein Baum, der auf den Gräbern der Apostel gewachsen ist. Laßt uns das nimmer vergessen, liebe Christen; laßt uns, wenn wir dies Buch ansehen, lesen oder daraus hören, uns im Geiste hinstellen auf den Todtenacker der Heiligen, woraus diese himmlische Frucht gewachsen ist. Unser heutiger Text weiset uns auf einen dieser Heiligen hin. Die Worte des Textes lauten:

Phil. 1, V. 12-14: Ich lasse euch aber wissen, liebe Brüder, daß, wie es um mich stehet, das ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums gerathen; also, daß meine Bande offenbar worden sind in Christo, in dem ganzen Richthause und bei den Andern allen; und viele Brüder in dem Herrn aus meinen Banden Zuversicht gewonnen, desto durstiger geworden sind, das Wort zu reden ohne Scheu.

In diesen und den folgenden Versen (bis V. 26) gibt der Apostel den Philippern Nachricht über sich und seine Lage in Rom. Nach einer solchen Nachricht mochte sie schmerzlich verlangen, und sie hatten sicherlich, da sie den Boten sandten, ihm aufgetragen, ihnen genaue Kunde über das Schicksal des ihnen so theuren Mannes zurückzubringen. Daher geht nun auch Paulus, gleich nach dem Eingange des Briefes, zu sich selber über. Aber erkennt hier wieder den göttlichen Sinn des Mannes. Sonst pflegt ein Leidender, wenn er über seine Trübsal schreibt, fast allein von sich zu reden, als käme es dabei bloß auf ihn an und seine Person; aber Paulus redet von sich bloß in Beziehung auf das Evangelium. Wie es um dieses stehe, davon handelt es sich; Paulus ist bloß da um des Evangeliums willen. Der Garten ist nicht da für den Gärtner, sondern der Gärtner für den Garten. Jeder von uns hat den Beruf, für Andere zu wirken in der Welt: ach, daß wir doch Alle unsere Person zurücktreten ließen hinter diesen unsern göttlichen Beruf! Wir klagen und trauern oft in unserer Trübsal, als ob die Welt nicht bestehen könne, wenn wir nicht glücklich seien. Paulus. dagegen danket Gott für sein Leiden, weil die Sache Christi dadurch gefördert werde. Laßt uns heute von dem Apostel lernen,

Wie das Leiden der Zeugen Christi zur Förderung des Evangelii geräth,

und zwar 1. bei den Ungläubigen, und 2. bei den Gläubigen.

Ach, Herr, lehre uns doch Alle so leiden, wie der Apostel Paulus litt, daß wir dabei von uns absehen und auf dich und deine Sache hinblicken, und das sei unsere Sorge, unsere Tage mögen gut oder böse sein, daß unsere Freude und unser Leid zur Förderung des Evangelii gerathe.

1.

Ich will, spricht Paulus, daß ihr erfahret, daß meine Lage vielmehr zur Förderung des Evangeliums gerathen ist. Ja, es ist gut, daß wir darauf von ihm hingewiesen werden. Steht uns ein Leidender nahe, so sind wir seinetwegen oft in gar großer Sorge und Betrübniß. Es kommt aber doch weit weniger auf den Leidenden selbst an, als auf die Sache, wofür er leidet. Ist diese Sache gut und wird durch das Leiden gefördert, so laßt uns die Klage einstellen und Gott danken. Es muß ja geben, nicht wie wir wollen, sondern wie Gott will, und wir haben nie mehr als in der Trübsal Grund zu sprechen: Das ist Gottes Finger. Es ist gut, daß Paulus uns auf die Frucht seines Leidens verweist, auch für unsere eigenen Leiden ist das gut, damit wir mit unsern Gedanken und Sorgen nicht immer an uns selber haften, sondern forschen und fragen: ist unsere Trübsal ein Gewächs, das auf evangelischem Grund und Boden steht und trägt sie eine Frucht für das Evangelium? Was nun die Bande des Apostels betrifft, so waren deretwegen die Philipper in Sorgen gegangen. Paulus war ja dem Herrn ein auserwähltes Rüstzeug, daß er Christi Namen trüge vor die Herden und vor die Könige und vor die Kinder von Israel (Apostg. 9). Dieser Mann aber war in Jerusalem ergriffen, war nach Rom gebracht worden, und nun schon jahrelang dort gefesselt: was kann er denn als Gefesselter wirken für das Evangelium? Ist nun sein göttlicher Beruf zu Boden gegangen? ist es mit seiner Mission aus und vorbei? ist der Plan Gottes zerrissen und zerstört? O nein, macht euch solche Sorgen nicht. Gott lebet noch, der weise und allmächtige Gott, der, sei es durch Freiheit oder durch Bande, seine gute Sache an's Ziel zu führen weiß. Was zum Nachtheil und Schaden des Evangeliums gereichen zu müssen schien, das hat „vielmehr“ zur Förderung desselben gerathen müssen. Begleitet nur den Apostel vom Tage seiner Gefangennehmung an nach Rom, so findet ihr allenthalben den Weizen auf dem Acker seiner Trübsal. Schon in Jerusalem selbst hat der Gefesselte Gelegenheit, laut und öffentlich vor dem Volk das Evangelium zu vertheidigen (Apostg. 22). Dann, nach Cäsarien geführt, steht er mit seinen Zeugniß von Christo vor dem Landpfleger und sogar vor dem Könige, der es bekennen muß (Apostg. 26): Dieser Mensch hat nichts gethan, das des Todes oder der Bande werth sei. Es fehlt nicht viel, so wird der König selbst ein Christ. Und so allenthalben, wo Paulus kommt, wirkt er durch sein Zeugniß und durch Zeichen, die das Zeugniß begleiten, zu Lande und zu Wasser und auf Inseln. Aber besonders auch in Rom selbst trug sein Leiden eine gesegnete Frucht. Wie das? Meine Bande, spricht er, sind offenbar in Christo geworden, im ganzen Prätorium und bei den Uebrigen allen. Prätorium? Nun, das war die unter dem Kaiser Tiberius gebaute Caserne der kaiserlichen Leibwache, an deren Obersten Paulus, als er nach Rom gekommen, abgeliefert war. Er konnte nun frei umhergehen, nur daß er stets einen Soldaten zur Bewachung bei sich hatte, der Alles sah, was er that, und Alles hörte, was er redete. Durch diese einander ablösenden Wachen aber wurden seine Bande im ganzen Lager bekannt. Sie wurden „in Christo“ bekannt, das heißt nach ihrer Verbindung, worin sie mit Christo standen. Nicht bloß daß Paulus litt, sondern um wessen willen und wie er litt, war der Soldaten Gespräch. Er war ja ein Gefangener Jesu Christi, seine Bande also kamen von dem Herrn, dessen Evangelium er predigte. Wie mußte nun nicht die Aufmerksamkeit der Krieger auf diesen merkwürdigen Mann geleitet werden, der um eines Gekreuzigten willen die Fesseln trug und noch als Gefesselter diesen Gekreuzigten verkündigte allenthalben und allezeit, und der, wenn er im Verhör war, mit dem leuchtenden Angesichte eines Stephanus sich verantwortete! Jeder wünschte bei diesem Märtyrer die Wache zu haben, und kehrte ein Begleiter Pauli in die Caserne zurück, so bildete sich um ihn ein Kreis von Hörern, und er erzählte, was er gesehen und gehört. Und es blieb nicht beim Erzählen und Hören, sondern Manchen von denen, die im Lager und außerhalb desselben auf diese Weise von den Banden des Apostels hörten, öffnete Gott das Herz, daß sie gläubig wurden, zumal da die Gefangenschaft jahrelang dauerte. Seht da die Weisheit des himmlischen Kirchenfürsten, der auf allerlei Wegen das Wort an und in die Menschen zu bringen weiß. Was für Paulus eine Fesselung war, das war für das Evangelium eine Entfesselung. Und nicht nur für jene Zeit hat die Gefangenschaft Pauli großen Segen gehabt, sondern dieser Segen hat fortgedauert bis auf unsere Zeit und wird fortdauern bis an's Ende der Welt. Denn noch immer ist Paulus, der Gefesselte Jesu Christi, das Gespräch der Leute, und was noch weit mehr zur Förderung des Evangeliums geräth: wir haben den Banden des Apostels mehrere der herrlichsten Episteln zu verdanken, die Paulus von Rom aus an die entfernten Gemeinden geschrieben hat. O, wir müßten ja blind sein, wenn wir hier nicht deinen Finger sähen, treuer Gott und Heiland, und müßten fühllos sein wie dürres Holz, wenn wir dich nicht loben und preisen wollten für die Wohlthat, die du durch die Bande jenes Zeugen dem Evangelium und durch das Evangelium uns erwiesen hast!

Aber, Christen, sorget nun, daß auch eure Leiden der Welt einen Dienst thun. Ihr seid zwar nicht Apostel und Verkündiger des Evangeliums, und die es sind, haben um Christi willen eben nicht solche Bande zu tragen, wie Paulus sie trug, Aber Christen seid ihr doch, und was ihr thut und leidet, das will in Christo gethan und gelitten sein. Was macht unser Leiden zu einem christlichen? Vor Allem die Unschuld. Was du leidest, das leide als ein Christ und nicht als ein Uebelthäter. Durch Uebelthat schändest du den Namen Christi. Ihr Leidenden, die ihr um eurer Ungerechtigkeit, um eurer Unkeuschheit, um eurer Trägheit oder um anderer Sünden willen leidet, - spiegelt euch in der Unschuld des Apostels Paulus. Eure Leiden werden der Welt offenbar, aber sie werden ihr nicht „in Christo“ offenbar, sondern im Fürsten der Finsterniß, der sein Werk in euch hatte und durch sein Werk solche Leiden bei euch wirkte. So wird also auch Christi Name durch eure Trübsalsbande vor der Welt nicht verherrlicht, sondern verunehrt. O mein Gott, behüte mich all mein Lebenlang, daß ich nicht der Welt das Schauspiel eines Leidens gebe, welches vom Teufel über mich kommt! - Was macht unser Leiden zu einem christlichen? Das thut der Glaube an Christum, wenn es darin gefasset ist. Denn der Glaube machet mich zu einem Reben des himmlischen Weinstocks, und leid' ich dann auch nicht als ein Evangelist, so leide ich doch als ein Christ. Es ist unmöglich, daß ein Christ ohne Bande durch die Welt komme; er wird oft genug um des Glaubens willen, worin er lebt, und um der Gerechtigkeit willen, wofür er kämpft, Trübsalsbande zu tragen haben. Je lebendiger und thätiger sein Glaube ist, desto mehr wird er ein Leidtragender in Christo sein. Er kann sich denen nicht gleichstellen, die Sünde auf Sünde häufen, sondern scheiden muß er sich von ihnen, und ihnen widerstehen mit Wort und That. Er kann nicht, wie die Kinder der Welt, den Becher der fleischlichen Lust trinken, und kann nicht mit ihnen singen: Wohl her nun und lasset uns wohlleben, weil's noch geht! sondern den Kelch Christi trinket er, der das Kreuz im Herzen und auf der Schulter trug, ob er wohl hätte Freude haben mögen. - Was macht unser Leiden zu einem christlichen? Das thut die Standhaftigkeit und der Muth und die Freudigkeit, womit wir unsere Bande tragen, das thut das Bekenntniß, welches wir darin ablegen von Christo, der in uns lebt. Siehe, mein Christ, wenn alle deine Leiden bekannt werden als Leiden der Unschuld, der Gerechtigkeit und der Glaubensfreudigkeit, so werden sie der Welt „in Christo“ offenbar; denn nun siehet man, daß du als ein Christ leidest, und siehet, daß kein Joch so schwer ist, welches der Herr den Seinen nicht tragen hilft. Wir leben ja nicht unter lauter Heiligen, sondern die Welt ist eine Caserne, und Tausende von denen, mit welchen wir umgehen, gehören zur Leibgarde des Fürsten der Finsterniß. Vor denen sollst du Christum bekennen. Da lerne nun von Paulus, daß auch die Bande, die du trägst, zur Förderung des Evangeliums gerathen müssen. Wahrlich, das Bekenntniß, das Jemand als ein Gefesselter Jesu Christi von seinem Glauben ablegt, wirkt zehnmal mehr, als wenn er seinen Glauben ohne Bande bekennt. Wir müssen es dem Herrn der Kirche überlassen, wie er uns führen will. Will er uns Bande und Trübsal leiden lassen, so sei Paulus unser Vorbild, mehr aber noch als Paulus sei es der Herr selbst, der tausendmal mehr durch seine Leiden in Gethsemane und auf Golgatha das Evangelium gefördert hat, als durch die Predigt, die er auf jenem Berge hielt (Matth. 5).

2.

Laßt uns nun aber noch einmal wieder zurückblicken auf den in Rom gefesselten Paulus. Nicht nur bei den Ungläubigen haben seine Bande zur Förderung des Evangeliums gereichen müssen, sondern auch bei den Gläubigen. Was lesen wir in unserm Texte? „Die Mehrzahl der Brüder, im Herrn vertrauend auf meine Bande, wagen es um so mehr, das Wort ohne Furcht zu verkündigen.“ Es bestand ja schon eine christliche Gemeinde in Rom, mit Vorstehern, Lehrern und Evangelisten - Paulus nennt sie seine Amtsbrüder, - die theils innerhalb der Gemeinde (in größeren Versammlungen oder in Conventikeln), theils außerhalb der Gemeinde in den Schulen der Juden oder an andern öffentlichen Oertern in der Stadt und auf dem Lande) das Evangelium verkündigten. Aber mit welcher Gefahr war das verbunden! Kommt das Christenthum in die Welt, so ist's ja, wie wenn Feuer mit Wasser sich mischt. Dem Einen ist es eine Thorheit, dem Andern ein Aergerniß; der Eine hat's seinen Spott, der Andere wüthet dagegen mit Wort und That. So war es damals in Rom, und nicht nur Spott und Widerspruch, sondern auch Haß, Verfolgung, Kerker und Tod hatten die Zeugen Christi zu befürchten. Da mochten nun Manche um der Schwachheit ihres Fleisches willen allzu behutsam und vorsichtig sein, Andere wohl gar gänzlich schweigen und an einem stillen Bekenntniß Christi es genug sein lassen, wo nicht gar Etliche, wie Demas, den Herrn verließen und die Welt wieder lieb gewannen.

Was that nun unser himmlischer Kirchenfürst? Er führte Paulus nach Rom und stellte diesen gefesselten Zeugen den Brüdern als Vorbild hin. Bei Etlichen nur, die innerlich noch nicht fest an Christo hingen, mochte der Blick auf die Bande des Apostels nicht den Muth, sondern eher die Furcht erhöhen. Aber die „im Herrn“ waren, wie Zweige am Baum und Reben am Weinstock, bei denen floß aus ihrer Herzensgemeinschaft mit Christo Muth und Vertrauen, da sie den tapfern Streiter Christi schauten, der, obwohl gebunden, dennoch ohne Furcht umherging, und unter den Bürgern und Soldaten, in den Versammlungen der Christen und in den Schulen der Juden, im Verhör und außer dem Verhör, das Reich Gottes predigte und von dem Herrn Jesu lehrete mit aller Freudigkeit. Mußte dies Beispiel des Muths und der Standhaftigkeit sie nicht kräftig ermuntern? und sahen sie hier nicht an dem Apostel, daß das Evangelium Wahrheit, Kraft und Leben sei? O, es ist etwas ganz anderes, wenn Jemand mit blossen Worten, als wenn er auch mit Werken und Leiden davon zeugt. Hätten daher die Brüder schon Muth gehabt, wenn Paulus ohne Bande unter ihnen umhergegangen wäre, so hatten sie nun „um so mehr“ Muth, da er als Gefangener von Christo zeugte mit aller Freudigkeit. Darum gingen sie hin und thaten deßgleichen.

Christen, sollen nicht auch wir Deßgleichen thun? Der Name Pauli ist ja nicht ausgestorben, sondern lebet noch. Mir ist's als wäre ich in Rom und sähe ihn. Und was sehe ich da! Einen Mann, der seiner äußerlichen Gestalt nach freilich von uns nicht verschieden ist, aber was er thut, das unterscheidet ihn von Tausenden unter uns. Ihr wißt, wie muthlos die mehrsten Menschen in ihrer Trübsal sind; und wenn es selbst nur ein Geringes ist, das sie leiden, und eine Trübsal wie auf eine halbe Stunde, so sind sie doch niedergeschlagen, hängen den Kopf, klagen und murren wider Gott. Hier aber ist ein Mann, der traurig ist und doch fröhlich, der gebunden ist und doch frei, so frei, als wäre er Herr der ganzen Welt. An seinem Arme hängt eine Fessel, an seiner Seite geht ein Soldat; er wird überwacht in allem was er sagt und thut. In der einen Stunde steht er vor dem Stadtrichter, in der andern steht er vor Feinden, die über ihn die Zähne zusammenbeißen; ihm wird widersprochen, er wird gescholten und bedroht. Ach, was ist ein Mensch, daß er solchen Schrecknissen widerstehe, und noch dazu in einer Sache, die nicht seine Sache ist, sondern die eines Gekreuzigten! Und dennoch überwindet er weit; und dennoch schweigt er nicht, sondern vertheidigt das Evangelium; und dennoch zittert und erblaßt er nicht, sondern redet frei und ohne Furcht, wie wenn ein Engel vom Himmel an seiner Statt redete. Woher diese Kraft wider das sonst so schwache Fleisch, wider die sonst so mächtige Welt? Die Macht der Wahrheit ist es, die ihn beherrscht, und diese Wahrheit ist das Evangelium. Wäre das Evangelium nicht Wahrheit, Kraft und Leben, so könnte es nicht solche Helden in der Trübsal machen. Aber es hat einen Paulus dazu gemacht und tausend Andere außer ihm. Die haben sich in Fesseln legen, haben sich einkerkern, haben sich an den Scheiterhaufen binden, haben sich wilden Thieren vorwerfen lassen, haben sich monatelang, jahrelang großen Martern und Qualen unterworfen, und sind dennoch fröhlich und getrost gewesen in ihrer Trübsal, und haben mit Muth und Freudigkeit Christum bekannt. Soll das nicht zur Befestigung unsers Glaubens und zur Stärkung unsers Muthes dienen? Muth weckt Muth, ein Feuer zündet das andere an. So war es in Rom, so sei es auch in Brügge und in der ganzen Welt. Besonders wir, die wir dasselbe Amt haben, das Paulus hatte, das Amt der Verkündigung, sollen uns von diesem todesmuthigen Zeugen stärken lassen. Was ist's, das wir leiden um des freien Bekenntnisses willen? Ist es von irgend einer Erheblichkeit gegen. die Leiden, womit uns eine ganze Wolke von Zeugen vorangezogen ist? Und doch wollten wir feig und muthlos sein? doch schweigen, wo es Zeit zu reden ist? doch uns zurückziehen, wo wir als Streiter Christi auf dem Kampfplatze sein sollen? Das Fleisch sollte uns beherrschen, wo der Geist uns regieren, die Lüge uns fesseln, wo die Wahrheit uns frei machen sollte? Ach, Herr, gib muthige Zeugen, daß dein Wort da, wo es verwelkt ist, wieder anfange zu grünen, zu blühen und Mandeln zu tragen!

Aber euch Alle, ohne Ausnahme, gehet mein Wort an. Haltet euer Glaubenslicht an das Glaubensfeuer des Apostels Paulus, damit es anfange zu brennen und zu leuchten, nicht nur vor den Feinden, sondern auch vor den Freunden. Paulus kann uns freilich nicht stark machen, das muß Christus thun; aber „in Christo“ soll unser Muth und Vertrauen wachsen, wenn wir die Kraft des Evangeliums, die Standhaftigkeit und Freudigkeit jenes Mannes sehn. Laßt doch die Christen, unter denen ihr wandelt, es gewahren, wie ihr in euren Leiden an Christo als an eurem himmlischen Weinstock hangt. Laßt sie nicht bange Seufzer hören, die aus eurer Brust steigen, nicht Klagen des Mißmuths, die über eure Lippen gehn. Nein, Christen, und wenn's mit eurer Trübsal so weit ginge, daß auf eurem Tische nichts stünde als etwas Brot mit Salz, oder daß Krankheit euch, euer Weib oder Kind an ein jahrelanges Krankenbett fesselte, oder daß die böse Zunge der Welt mit dem Gassenkoth der Verleumdung euren Namen bedeckte, oder daß das Licht eurer schönsten irdischen Hoffnungen ausginge und sich in Nacht verwandelte, oder daß der Tod mit seinem Messer die theuersten Bande eurer Liebe zerschnitte, oder daß ein großes innerliches Leiden, davon der Grund vor der Welt verborgen ist, euch niederdrückte, so verharret dennoch in der Gemeinschaft Christi, so lasset dennoch das Licht eures Muthes, eures Trostes, eurer Standhaftigkeit, eurer Freudigkeit leuchten vor den Leuten. Das geräth euch zum Heil, und dem Evangelium geräth es zur Förderung. Ihr macht Andere muthig, wenn ihr selber muthig seid. Durch Trübsinn, Klagen und Verzweiflung zieht ihr sie von der Höhe Christi herunter in den Staub der Welt; aber durch Muth, Vertrauen und freudiges Bekenntniß Gottes in den Leiden hebt ihr sie mit euch aus dem Staub der Welt in die Höhe der Verklärung Christi. Was ist's, daß ihr in guten Tagen muthig und fröhlich seid? Das ist etwas, was uns die Natur lehrt und was ein Kind in der Wiege versteht. Aber Muth haben, wo Tausende den Kopf hängen, und Freudigkeit zeigen, wo alle Weltkinder verzagen, und Christum bekennen, wo die Muthlosen den Namen Gottes lästern, das sind leuchtende, sprühende Funken von oben, die allenthalben zünden, wo sie hinfallen. O, Herr, mache uns Alle stark, daß wir ein solches Zeugniß von dir ablegen in den Trübsalstagen.

Ich, Gott des Trostes, hoff auf dich,
Der Muth ist deine Gabe;
Mit dieser Gabe segne mich;
Wohl mir, wenn ich sie habe!
Laß mich in allen Leiden dein,
Voll Muth wie dein Apostel sein,
Von nun an bis zum Sterben!

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