Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 21. Betrachtung
Wer in einen Irrtum verfällt, der verfällt in viele. Es ist die Natur der Lüge, dass sie ihre Diener von einer Stufe zur andern immer tiefer hinabführt in das Reich der Finsternis. Wir haben davon ein warnendes Beispiel an den Irrlehrern zu Kolossä. Sie wollten die Christen zurückführen unter das Joch des alttestamentlichen Gesetzes. Damit waren nun noch andere Irrtümer verbunden, durch die sie ebenfalls den Christen gefährlich wurden. Einen dieser Irrtümer erwähnt der Apostel in den nachfolgenden Worten.
Kap. 2, 18. 19: Lasst euch niemand das Ziel verrücken, der nach eigener Wahl einher geht, in Demut und Geistlichkeit der Engel, des er nie keins gesehen hat, und ist ohne Sache aufgeblasen in seinem fleischlichen Sinn, und hält sich nicht an dem Haupt, aus welchem der ganze Leib durch Gelenke und Fugen Handreichung empfängt, und aneinander sich enthält, und also wächst zur göttlichen Größe.
Es ist der Engeldienst, wovor der Apostel
1.) warnt, und dann
2.) seine Warnung begründet, indem er hinweist auf die Unwissenheit, den Hochmut und die Verleugnung Christi, die mit jenem Dienste verbunden sind.
1.
Lasst euch niemand das Ziel verrücken, der nach eigner Wahl einhergeht, in Demut und Geistlichkeit der Engel. Der Apostel stellt des Christen Leben oft dar unter dem Bilde eines Kampfes. Dies Bild ist hergenommen von den Kampfspielen der Griechen, wo man in gewissen Schranken um die Wette lief, und wo derjenige den Preis davontrug, der zuerst das Ziel erreichte. Es waren Kampfrichter dabei angestellt, die den Kampf beobachteten, und darüber entschieden, wer den Preis gewonnen habe. Sie konnten also dem Sieger den Preis zu und absprechen, welches letztere von neidischen und übelgesinnten Richtern mitunter geschah. Bei einem Christen ist die Schranke, worin er läuft, das Wort Gottes, welches ihn scheidet von der Welt und ihm sagt, was er glauben und tun soll, um selig zu werden. Sein Lauf ist der Wandel, den er gemäß dem Worte Gottes führt, und der Eifer, womit er trachtet, stets vollkommener zu werden und seinem Ziele näher zu kommen. Ich vergesse, was dahinten ist, spricht Paulus, und strecke mich zu dem, das da vorne ist (Phil. 3, 13.). Der Kampfpreis ist das ewige Leben, die unvergängliche Krone (1 Kor. 9, 25.), das unverwelkliche Erbe, das behalten wird im Himmel (1 Petri 1, 4.).
Nun hatten die Kolosser zwar bis jetzt einen guten Kampf gekämpft. Sie hatten das Evangelium angenommen, das ihnen gepredigt war; sie hielten sich nach diesem Evangelium mit ihrem Glauben und Wandel, und konnten daher auch mit Hoffnung hinblicken auf die unverwelkliche Krone. Aber was taten die Irrlehrer? Sie warfen sich zu Richtern über den geistlichen Kampf der Kolosser auf; sie gaben ihnen andere Regeln des Glaubens und Lebens, als die im Evangelium gegeben sind; sie machten sie irre in ihrem Christenlauf, und sprachen ihnen den Kampfpreis ab, wenn sie nicht abtreten von ihrem bisherigen Wege und ihnen folgten. Welchen Weg zeigten ihnen denn diese falschen Propheten? Es war, außer den vorhin genannten Dingen, namentlich auch der Weg einer mit heuchlerischer Demut verbundenen Engelverehrung. Die falschen Apostel gefielen sich in Demut und Engeldienst. Natürlich redet der Apostel hier nicht von der wahren Demut, die ein schöner Schmuck des Christen ist, sondern von einer falschen, heuchlerischen Demut, die mit ihrer Engelverehrung verbunden war. Sie gaben nämlich vor, Gott sei ein so hohes, heiliges, für die Menschen unerreichbares Wesen, dass die „Demut“ es nicht gestatte, sich unmittelbar an Gott zu wenden. Die Engel seien Mittler zwischen Gott und den Menschen, daher man sich an sie zu wenden habe, dass sie die Gebete und Angelegenheiten der Menschen vor Gott brächten. Dergleichen sagen noch jetzt viele Christen, welche den Mariendienst und die Anrufung der Heiligen verteidigen wollen: sie berufen sich dabei auf irdische Majestäten, an die man sich durch deren Minister wende. Weil nun die Kolosser bisher die Engel nicht angerufen, sondern mit aller Freudigkeit sich unmittelbar dem Throne Gottes genaht hatten, so hielten die Irrlehrer ihnen vor, dass ihnen die Demut mangele, und dass ihre Gebete drum keine Erhörung finden würden. Da lag nun die Gefahr, vor der Paulus sie warnte. Sie sollten sich nicht irre machen, sollten sich nicht Gesetze vorschreiben lassen, welche dahin führten, dass sie, mit Verleugnung Christi, des einigen Mittlers, sich an die Engel wendeten, und ihre bisherige Glaubensfreudigkeit wegwürfen. Ohne seinen Mittler darf freilich kein Mensch vor Gott erscheinen; und welch' ein Mangel an Demut ist es, wenn unbekehrte Menschen von Gott als ihrem Vater reden, und meinen, dass sie ohne Christum zu ihm kommen können! Niemand kommt zum Vater denn durch mich, spricht unser Erlöser. Aber so verkehrt es ist, wenn jemand meint, dass er keines Mittlers bedürfe, um zu Gott zu kommen, ebenso verkehrt ist es, wenn jemand außer Christo auch noch die Engel und Heiligen zu seinen Mittlern wählt. Zwar sind die Engel oft genug von Gott ausgesandt zum Dienste derer, die die Seligkeit ererben sollen, und oft genug hat er den Menschen seinen Willen kundgetan und mit ihnen geredet durch Engel; aber nirgends steht geschrieben, dass wir unsere Knie beugen sollen vor den Engeln, als den Mittlern, durch die uns der Zugang zu Gott eröffnet werde, und dass unsere Gebete nur durch ihre Vermittlung erhört werden. Lehrt nicht der Erlöser uns beten: Vater unser, der du bist im Himmel? Wohnt nicht in uns der kindliche Geist, welcher ruft: Abba, lieber Vater!?
2.
Der Apostel begründet nun aber seine Warnung noch näher, indem er uns hinweist, zum ersten auf die Unwissenheit, zum andern auf den Hochmut, und endlich auf die Verleugnung Christi, worauf der Engeldienst bei jenen Irrlehrern beruhe. „In Dinge“ sagt er, „deren sie keins gesehen haben, dringen sie ein.“ Wenn es verwegen ist, dunkle, unbekannte Wege zu betreten: wie viel verwegener ist es, über Dinge entscheiden zu wollen, die weit hinausliegen über den Gesichtskreis menschlichen Verstandes! Wir treffen das kaum, das auf Erden ist: wer will denn erforschen, das im Himmel ist (Weish. 9, 16.)? Eben jene Irrlehrer aber drangen mit ihren Spekulationen kühn in die unbekannte Geisterwelt ein; sie redeten viel von den verschiedenen Namen, Ordnungen und Verrichtungen der Engel; brauchten dunkle, rätselhafte Ausdrücke, und trugen ihre Weisheit mit großer Zuversicht vor. „Vergeblich,“ sagt Paulus, „vergeblich ist solches Unternehmen.“ Es kann von solchen Leuten heißen: Sie reden stolze Worte, da nichts hinter ist (2 Petri 2.). Sie wollen der Schrift Meister sein, und wissen nicht, was sie reden (1 Tim. 1, 7.). Wir können wohl von den Engeln und himmlischen Dingen reden auf das Zeugnis Christi, welcher redet, das er weiß, und zeugt, dass er gesehen hat; aber wer ohne ihn und sogar gegen sein Zeugnis uns lehren will, was im Himmel ist, dessen Weisheit ist ein Brunnen ohne Wasser, eine Wolke ohne Regen. - Und mit welchem Hochmut ist meistens das Schein-Wissen solcher Leute verbunden! So jene Irrlehrer, die aufgeblasen waren in ihrem fleischlichen Sinn. Fleisch - anderswo „Fleisch und Blut“ genannt - bedeutet hier den natürlichen Menschen, der nicht vernimmt, was des Geistes Gottes ist (1 Kor. 2, 14.). Wenn nun der unerleuchtete Sinn oder Geist des natürlichen Menschen über göttliche Dinge spekuliert, so gerät er auf Abwege, setzt sich über alles hinweg, selbst über die Heilige Schrift, und je tiefer die Einsichten zu sein scheinen, die er gewonnen zu haben meint, desto aufgeblähter ist er. Er gleicht dem Halme, der desto stolzer sein Haupt erhebt, je weniger Korn in seiner Ähre ist. Man lasse sich nicht täuschen durch die äußeren Zeichen der Demut, die man bei einem solchen Heuchler findet. Wie oft hängt der Hochmut den Mantel der Demut um! Ein grobes Kleid, ein ungeschorenes Haupt, ein nachlässig herabhängender Bart, ein hartes Lager, schlechte Speise, Marter und Kasteiungen des Körpers, Abgeschiedenheit von der Welt, schleichender Gang, übereinander gelegte Hände, wehmütiger, oft gen Himmel gekehrter Blick, bange Seufzer, gesalbte Rede: dies und dergleichen mehr ist oft genug der zerrissene Mantel, durch den der Hochmut des Herzens blickt. Worin besteht diese Aufgeblähtheit? In der hochmütigen hohen Meinung von dem eigenen Wert, in tiefer Verachtung derer, die nicht mit uns sind, in trotzigem Festhalten der eigenen Meinungen, in liebloser Bekämpfung entgegenstehender Ansichten, in Verfolgung und Verdammung der Gegner, in einem gereizten Wesen, in einer Eitelkeit, die es nicht vertragen kann, auch nur mit der Nadelspitze eines rauen Worts berührt zu werden, ohne ihre Gebärden zu verstellen u. dgl. mehr. Gewiss fanden sich manche Zeichen dieses Hochmuts in jener heuchlerischen Demut auch bei den Irrlehrern zu Kolossä.
Dazu kam endlich noch, dass mit ihrem Engeldienst auch eine Verleugnung Christi verbunden war. Sie verwarfen zwar Christum nicht gänzlich, aber sie leugneten doch seine Gottheit, und setzten andere Mittler ihm an die Seite oder gar über ihn. Sie hielten sich nicht an dem Haupte, indem sie abwichen von dem einigen Wege zum Heiligtume, den uns Jesus zubereitet hat durch sein Blut (Hebr. 10, 19.). Es ist nur Ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, und von diesem einigen Mittler geht, ohne Beihilfe fremder Mächte, alles Leben und Wachstum über die Gemeinde aus. Dies lehrt uns Paulus in einem Bilde, worin er Christum mit dem Haupte, und die Gemeinde mit dem Leibe vergleicht: „Vom Haupte aus wächst der ganze Leib, indem er durch Gelenke und Fugen Handreichung empfängt und zusammengehalten wird zur göttlichen Größe, das heißt, er wächst und nimmt zu in dem von Gott gewirkten Wachstum.“ Das Wachstum des Leibes bedeutet das Zunehmen der Gläubigen an Glaube, Liebe, Hoffnung, und an alle dem, das zu einem christlichen Leben gehört.
Von wem nun sollen wir dies Wachstum herleiten? Wirken es die Engel? Nein, es hat seine Quelle in Gott, der es durch Christum, als unser Haupt, der Gemeinde mitteilt, daher es einerlei ist, ob wir sagen, es wird von Gott gewirkt, oder ob wir sagen: es geht von Christo aus, daher unser lieber Heiland spricht (Joh. 15.): Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht, denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Aber, könntet ihr weiter fragen ,wie geht denn von Christo das Leben und Wachstum über die Gemeinde aus? Sind, wenn auch nicht zwischen Gott und Christo, doch zwischen Christo und uns die Engel nötig, dass wir durch ihren Mittlerdienst Leben und Wachstum von dem Herrn empfangen? Mitnichten! Wir sind mit Christo so eng verbunden, wie der Leib verbunden ist mit seinem Haupte, das nicht äußerlicher Kräfte bedarf, um sein Leben den Gliedern mitzuteilen. Die Verknüpfungen zwischen dem Leibe und dem Haupte sind innerlich, es sind die Nerven, Sehnen, Adern, durch die, als durch feine, verborgene Kanäle, das Haupt sein Leben ausbreitet über die Glieder, die wiederum unter sich innerlich durch gewisse Fugen oder Bänder, nämlich durch Knorpel, Gelenke und Haut, verbunden und zusammengehalten werden, so dass auch sie einander dienen können, das Auge der Hand, die Hand dem Fuße, der Fuß den übrigen Gliedern usw. Seht, so werden auch wir durch innere Verknüpfungen von unserm Heilande genährt. Was für den Leib die Nerven, Sehnen, Adern sind, das ist für uns der Heilige Geist, der durch Wort und Sakrament uns, die wir glauben, Leben und Nahrung von unserm geistlichen Haupte uns zuführt; und was für die Glieder des Leibes die Bänder sind, durch die sie zusammengehalten werden, das ist für uns Christen der gemeinsame Glaube, die gemeinsame Hoffnung, und besonders die Liebe, die Paulus ein Band der Vollkommenheit nennt (Kol. 3, 14.). Mögen denn nun die Engel und Heiligen im Himmel auch eng mit uns verbunden und für uns tätig sein zu unserm Heil, so wissen wir doch: unsere Mittler sind sie in keiner Weise, und unsere Knie sollen wir nicht vor ihnen beugen. Christus ist und bleibt unser einiger Mittler, durch den wir einen freudigen Zutritt zu Gott haben, den wir uns auch bewahren wollen bis an unser Ende.