Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 20. Betrachtung
So besteht nun in der Freiheit, damit uns Christus befreit hat, und lasst euch nicht wiederum unter das knechtische Joch fangen, spricht Paulus (Gal. 5, 1.). Welch ein köstlich Gut ist doch die Freiheit, selbst die des Leibes! Gut und Leben wagt ein Mensch, wenn er ihrer teilhaftig werden kann. Wie viel mehr aber liegt noch an der Freiheit des Gewissens, ohne die wir Knechte wären, auch wenn uns die ganze Welt gehörte! Und diese Freiheit meint der Apostel, wenn er die Galater ermahnt, dass sie dieselbe bewahren, und sich nicht wieder knechten lassen sollen. Wir finden ein ähnliches Wort in der Epistel an die Kolosser.
Kap. 2, 16. 17: So lasst euch nun niemand Gewissen machen über Speise oder über Trank, oder über bestimmte Feiertage oder Neumonde oder Sabbate, welches ist der Schatten von dem, das zukünftig war, aber der Körper selbst ist in Christo.
Mit diesen Worten geht der Apostel auf Vers, 8 zurück, wo er die Kolosser gewarnt hatte, sich von den Irrlehrern nicht wieder unter das Joch der alttestamentlichen Satzungen spannen zu lassen. Wir haben ja, fährt er dann V. 9 bis 15 fort, wir haben ja in Christo Jesu alles, dessen wir bedürfen, und sind durch ihn erlöst, wie vom Tode, von der Sünde und vom Teufel, so auch vom Fluch und von der Zwingherrschaft des Gesetzes. Jetzt führt er das V. 8. Gesagte weiter aus.
Die Gewissensfreiheit in Kirchenordnungen.
1. Worin besteht sie?
2. Worauf gründet sie sich?
1.
So lasst euch nun niemand Gewissen machen über Speise oder Trank, oder über bestimmte Feiertage oder Neumonde oder Sabbate. Zur Zeit des Alten Testaments hatte der jüdische Gottesdienst eine feste äußere Gestalt, und es waren Gesetze darüber gegeben, die niemand ungestraft übertreten durfte. Der Apostel erinnert an eine der alttestamentlichen Satzungen, zunächst was Speise und Trank betrifft. Es war vorgeschrieben, welche Tiere man essen sollte, welche nicht, und wer diese Vorschrift übertrat, der wurde als unrein betrachtet (3 Mos. 11.). Über die Getränke war nichts verordnet, außer dass den Priestern bei ihrem Dienste Wein und starke Getränke untersagt waren (3 Mos. 10, 9.), und dass die Nasiräer wegen ihres Gelübdes weder Weintrauben essen noch Wein trinken durften (4 Mos. 6, 2.). Der Apostel, ob er gleich nur die Speisen meint, stellt doch nach der gewöhnlichen Weise Essen und Trinken zusammen, es sei denn, dass die Irrlehrer zu Kolossa, wie sie auf die Erfüllung ihrer alttestamentlichen Speisegesetze drangen, so noch andere Gesetze hinzufügten, und wohl gar allen Fleischesgenuss und alle starke Getränke widerrieten. -Sodann gedenkt der Apostel der jüdischen Feiertage, wobei sonderlich an die drei höchsten Feste Ostern, Pfingsten und Laubhütten zu denken ist. Ferner nennt er die Neumonde, die als große Freudenfeste gefeiert wurden (4 Mos. 28, 11-15.). Sie fanden statt zu Anfang jedes Monats; dann durfte nicht gehandelt und gewandelt werden, daher die Kornjuden sich beschwerten über die vielen Feiertage und Neumonde in Israel: „Wann hat der Neumond ein Ende, dass wir Korn verkaufen“ (Amos 8, 5.)? - Endlich der jüdische Sabbat, der wegen der Strenge, womit er gehalten wurde, auch mit zum Zeremonialgesetze gehörte. Dies sind einige Stücke des Gesetzes, die Paulus als Beispiele anführt. Um dieser und der übrigen Gebräuche willen nun machten die Irrlehrer den Kolossern Gewissen, das heißt, erregten unter dem Vorwande brüderlicher Erinnerung bei ihnen Gewissenszweifel, als wäre es ihrer Seligkeit nachteilig, wenn sie jene Gebräuche nicht strenge hielten. Paulus dagegen sagt, sie sollen um solcher Dinge willen ihr Gewissen nicht beunruhigen noch binden lassen. Nicht, als wollte er ihnen die Beobachtung jener Gebräuche als etwas Sündliches untersagen - hielt er doch selbst, um allen alles zu werden, nur dass er Christo Seelen zuführte, mit den Juden den Sabbat (Apg. 16, 13. 14.); sondern er wollte nur nicht, dass man sich daran als ein zur Seligkeit notwendiges Werk gebunden erachten sollte. Damit stimmt der 15. Artikel unserer Augsburgischen Confession, wo es heißt: „Von Kirchenordnungen, von Menschen gemacht, lehrt man diejenigen halten, so ohne Sünde mögen gehalten werden, und zu Frieden und guter Ordnung in der Kirche dienen, als gewisse Feier, Feste und dergleichen; doch geschieht Unterricht dabei, dass man die Gewissen nicht beschweren soll, als seien solche Ordnungen nötige Gottesdienste, ohne die niemand vor Gott gerecht sein könne.“
2.
Worauf diese Freiheit von den äußerlichen Satzungen sich gründe, sagen teils die Worte des Apostels: „Welches ist der Schatten von dem, das zukünftig war, der Körper aber ist Christi;“ teils deutet das „nun“ es an in den Worten: so möge euch nun niemand Gewissen machen. Mit dem „Nun“ weist Paulus auf das zuvor Gesagte zurück, und gründet jene Freiheit auf unsere durch Christum vollbrachte Erlösung. Auf Christo allein beruht unser ganzes Heil. Wir werden dadurch nicht gerecht und selig, dass wir uns in das Joch irgendeiner äußerlichen Satzung spannen lassen, vielmehr steht das unserer Seligkeit im Wege, weil es uns zu Knechten macht. Nur im Glauben an Christum werden wir selig, der uns erlöst hat durch sein heiliges teures Blut, und uns Vergebung der Sünden, Freiheit und Leben erworben hat durch seinen siegreichen Tod. Der liebe Heiland hat sich's wahrlich sauer werden lassen, um uns teilhaftig zu machen der Gnade Gottes, die uns ohne unser Verdienst und Werk zu freien, seligen Gotteskindern macht! Wir sind teuer erkauft: sollen wir denn nun wieder der Menschen Knechte werden (1 Kor. 7.)? Das aber werden wir, wenn wir uns unter das Joch äußerlicher Satzungen fangen lassen; wenn wir unser Vertrauen von Christo abziehen und es auf äußerliche Ordnungen und Gebräuche legen, mögen sie Namen haben, welche sie wollen. Hat uns Gott in Christo lebendig gemacht, so werden wir ja wissen, dass ein freier, kindlicher Geist uns regiert, der all seine Zuversicht auf Gottes Gnade setzt, und seine Freude darin sucht, den Willen des Vaters im Himmel zu tun; werden wissen, dass dieser Geist uns in äußerlichen Dingen nicht bindet, sondern freie Wege lässt. - „Aber,“ kann man fragen, „warum sind denn jene Feste, Sabbate, Monde angeordnet? welche Bedeutung haben sie?“ Paulus sagt: „Sie sind ein Schatten des Zukünftigen.“ Das Zukünftige bedeutet alle die herrlichen Dinge, die mit Christo kommen sollten, nämlich das von ihm zu gründende Gottesreich mit seinen himmlischen Gaben und Gütern, das zwar nicht mehr zu den Zeiten Pauli, aber doch zu den Zeiten des Alten Testamentes ein zukünftiges war. Und selbst Paulus hat es noch nicht in seiner Vollendung gesehen, wie auch jetzt, nach 1800 Jahren, das Reich Christi noch nicht ist, was es für uns sein wird in der andern Welt. Was waren nun die Satzungen und Gebräuche des Alten Testaments, wenn man sie an Christum hält und sein göttliches Reich? Bald nennt die Schrift sie ein Vorbild (Hebr. 8, 5.), bald ein Zeichen (Matth. 12, 39.), bald ein Gleichnis (Hebr. 9, 9.), bald eine Abbildung (Apg. 7, 43, 44.), und in unserem Text heißen sie ein Schatten. Warum das? Zum ersten, weil in dem Schatten zwar ein Körper abgebildet ist, aber nur auf unvollkommene Weise; er ist nicht das Wesen, sondern nur ein schwaches Bild des Körpers. Also hat Gott von dem, was kommen sollte, zuvor ein Bild gemacht, wie der Baumeister von einem Hause zuvor einen Bauriss macht, oder der Maler einen Schattenriss von einem Menschen. Das Alte Testament ist ein Schattenriss des Neuen. Die Stiftskirche wie der Tempel bildete die zukünftige Gemeinde Christi ab, die eine Wohnung Gottes ist; die Opfer stellten die Versöhnung dar, die gestiftet werden sollte durch das Blut Jesu Christi; die Festtage wiesen auf die geistliche Ruhe hin, zu der man gelangen sollte im Reiche des Messias usw. Daraus folgt nun das Zweite, nämlich dass der Schattenriss ohne den Körper keinen Wert und keine Bedeutung hat. Der wäre ja ein Tor, der, wenn das Haus fertig ist, noch nach dem Schattenriss des Hauses greifen und denselben verwechseln wollte mit dem Hause. Ist der Körper selbst da, wozu dann noch der Schattenriss? Der Körper aber ist Christi, das heißt, was das Alte Testament darstellen sollte mit seinen Schatten und Bildern, das ist wahr geworden und erfüllt in dem, das Christi eigen ist, der es geschaffen und erfüllt hat. Sollen wir denn nun noch an den Schattenriss uns hängen, da wir das Wesen der Sache in Christo gefunden haben? Es ist nun erfüllt die Weissagung (Dan. 9, 27.): „Mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören.“ Die Unterschiede des Alten Testaments haben aufgehört, als der Unterschied der Personen (Kol. 3, 11.): Hier ist nicht Grieche, Jude, Beschneidung, Vorhaut und dergleichen mehr, sondern alles in allem Christus; alle Gläubige sind Könige und Priester vor Gott (Offb. 1, 6.). Weiter der Unterschied der Speisen (1 Kor. 1, 10.): Alles, was feil ist auf dem Fleischmarkt, das esst, denn die Erde ist des Herrn und was darinnen ist. Auch der Unterschied der gottesdienstlichen Orte (Joh. 4.): Es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten. - Also lehrt nun Paulus, dass wir als Christen frei sind von dem Joch äußerlicher Satzungen und Gebräuche, und niemand damit unser Gewissen beschweren soll, als wären es zur Seligkeit notwendige Dinge. Aber dass nicht jemand solche Freiheit zum Deckel der Bosheit mache, so merkt noch dies. Zunächst denket nicht, die Freiheit des Gewissens bestehe darin, dass nun jeder seines Gefallens tun könne, was er wolle, als ob das gemeint wäre. in unserm Text und mit dem Worte Röm. 14, 22: Selig ist, der ihm selbst kein Gewissen macht. Solche Freiheit wäre nichts, als die Freiheit eines Irrens den Schafes oder eines Vagabunden; wäre nichts als die elendeste Sklaverei im Dienste des Fleisches. Paulus sagt uns ja deutlich genug, welches der Kern und Stern der christlichen Freiheit sei, nämlich dass wir durch Christum wahrhaftig erlöst sind von der Gewalt des Teufels, von dem Fluche des Gesetzes, von dem Dienste der Sünde, von der Macht des Todes. Hast du dir diese Erlösung errungen im Glauben, so regiert dich der Geist Christi, der dich wahrlich nicht lehrt, dass das Gewissen eine Grille der Toren oder ein Gedicht der Pfaffen sei, sondern dass es sei der Thron und Richterstuhl Gottes in der menschlichen Brust, vor dem alles, was der Christ denkt, redet und tut, sofort gerichtet wird von jenem Geiste nach dem Worte Gottes. Aber wie stehen wir nun mit jener inneren Gewissensfreiheit zu den äußeren Ordnungen und Gebräuchen der Kirche? Sie sind ein Schatten des Wortes, das Christus durch seine Erlösung vollbracht hat an unsern Seelen. Statt der Sache nun, die da ist, ihr Bild ergreifen, ist töricht; den Schatten lieben statt des Lichtes, ist unsinnig; das Vergängliche und Schwache dem Wahren, Ewigen und Kräftigen vorziehen, ist gottlos.
Alles Äußere hat keinen Wert ohne das Innere, das es darstellen, zu dem es führen soll. Und doch hängen sich manche mit Ängstlichkeit an das Äußere und begehen die größten Sünden ohne Scheu. Wie die Pharisäer die Gebote Gottes auf dem Saum ihrer Kleider geschrieben trugen, während im Herzen wenig davon vorhanden war (Matth. 23.), so machen noch jetzt viele sich ein Gewissen aus Kleinigkeiten, und beobachten streng diese oder jene äußere Sitte, während sie das Wichtigste vergessen, nämlich Gott von Herzen zu fürchten und zu lieben. Seht zu, dass euer Gottesdienst nicht ein Schatten ohne Körper sei!
Aber wiederum verachtet auch nicht die äußeren Ordnungen der Kirche. Das Reich Gottes ist zwar in uns und der Segen an himmlischen Gütern in Christo Jesu ist ein Schatz in unsern Herzen; aber eben damit wir dieses Segens teilhaftig werden, sind äußere Anstalten nötig in einer bestimmten Ordnung und Gestalt. Teils sind diese von Christo selbst angeordnet, wie die Predigt und die Sakramente, davon du dich also nimmer scheiden sollst; teils sind sie von Menschen eingeführt nach dem verschiedenen Bedürfnis der verschiedenen Zeiten. Darum sieh sie an und nütze sie als eine Tür, durch die du zu Christo gehen sollst. Hüte dich vor jener Schwärmerei, die nur von einem innern Gottesdienste wissen will, und allen äußeren Gottesdienst verwirft. Singe, bete, lobe und danke Gott mit den Brüdern an den heiligen Tagen des Herrn.
Stets freue dich, die Stätte zu begrüßen,
Wo Dürstenden des Lebens Bäche fließen.
Da gehe hin, da werde gleich
Dem Acker, der an Früchten reich!