Kähler, Carl Nikolaus - Auslegung der Epistel Pauli an die Kolosser in 36 Betrachtungen - 11. Betrachtung
Paulus rühmt sich seines Amtes: „Ich bin ein Diener des Evangeliums geworden.“ In der Tat, es ist ein köstlich Amt, Diener des Evangeliums zu sein! Aber kaum hat er jenes Wort ausgesprochen, so denkt er auch an seinen gegenwärtigen Zustand der Gefangenschaft. Losgerissen von den Gemeinden, in denen er früher tätig war; gefangen und mit Banden beschwert, die ihn hinderten, umherzureisen; nahe dem Tode, der, wie er im Geiste sah, ihn bald vom Leben und von seinem Berufe gänzlich trennen würde: was konnte er in einer solchen Lage noch tun als Diener des Evangelii? Dennoch fährt er fort: Nun freue ich mich in meinen Leiden für euch.“ Versteht ihr ihn? Das Nun weist auf ein Sonst und Früher hin. Der Apostel will sagen: Früher freut ich mich als Diener des Evangeliums, wenn ich umhergehen konnte mit dem Worte des ewigen Lebens, um die Verlorenen zu dem Herrn zu rufen, und die Gefundenen damit zu speisen und zu erquicken. Jetzt wirke ich in dieser Weise nicht, jetzt leide ich. Aber ob ich wirke oder leide, so freue ich mich gleich sehr. Denn auch die Leiden, die ich erdulde, sind ein Teil meines Dienstes am Evangelium.
Es sind Leiden meines Herrn, es sind Leiden für euch, Leiden, die euch und allen andern Gemeinden zur Verherrlichung dienen müssen. Hört die Worte, in denen er uns dies näher auseinandersetzt.
Kap. 1,24.25: Nun freue ich mich in meinem Leiden, das ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleische das, was noch mangelt an Trübsalen in Christo, für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde, welcher ich ein Diener geworden bin nach dem göttlichen Predigtamt, das mir gegeben ist unter euch, dass ich das Wort Gottes reichlich predigen soll.
Das sei uns eine Antwort auf die Frage:
Worauf beruht die Freude, die ein Diener des Evangelii in seinen Leiden hat?
Sie beruht auf der engen Verbindung, worin seine Leiden
- mit Christo,
- mit der Gemeinde,
- mit seinem Berufe stehen.
1.
Paulus betrachtet seine Leiden nicht als etwas, das er für sich, abgesondert von Christo trage, sondern nennt sie Trübsale Christi. Das konnte er nach der engen, innigen Gemeinschaft, worin er mit seinem Erlöser stand. Wie er sagt: „Ich lebe, doch nicht ich, sondern Christus in mir,“ so spricht er hier: „Ich leide, doch nicht ich, sondern Christus, der in mir ist.“ Nach dem engen Bande, welches zwischen Ihm, dem Haupte, und uns, den Gliedern seines Leibes, besteht, müssen wir alles, was unser ist, auf ihn zurückführen, unser Tun und unser Leiden. Was dein Auge oder deine Hand leidet, das leidest du, denn Auge und Hand sind Glieder deines Leibes, die ohne dich gar nicht irgend etwas tun oder leiden könnten. Also leidet auch Christus, der das Ich der Gemeinde ist, alles, was irgend ein Mensch als Glied seines Leibes duldet. Hören wir's nicht aus seinem eigenen Munde, dass er so alle Leiden seiner Christen angesehen wissen will? Als Paulus die Gemeinde verfolgte, redete er ihn an und sprach: Saul, Saul, was verfolgst du mich! Und wenn er einst sitzt auf dem Stuhle seiner Herrlichkeit, was wird er sagen zu denen, die zu seiner Rechten sind? „Ich bin nackend gewesen, und ihr habt mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“ Also, was nur seine Christen leiden, sei es Blöße oder Hunger oder Krankheit oder Gefangenschaft oder Verfolgung oder was es sei, das nennt er seine Leiden. Wird schon das, was Moses mit dem Volke Gottes an Ungemach erlebt, eine Schmach Christi genannt (Hebr. 11.), wie viel mehr werden wir unsere Leiden Trübsale Christi nennen können, die wir nicht mehr in den Zeiten des Alten Testamentes leben, wo er kommen sollte, sondern zu den Zeiten des Neuen Testamentes, wo er gekommen ist, und durch sein Blut sich die Gemeinde erworben hat, deren Haupt er ist? Seid ihr ihm aber so eng verbunden, ihr Leidenden, so freut euch, dass ihr mit Christo leidet (1 Petri 4,13.). Natürlich ist hier nicht von dem die Rede, was jemand als ein Übeltäter leidet. Nein, was die Kinder dieser Welt leiden, das leiden sie als Glieder des Leibes, dessen Haupt nicht Christus, sondern der Teufel ist. Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollet ihr tun, darum müsst ihr auch mit diesem Vater eure Luft büßen. Es ist hier von denen die Rede, die, was sie leiden, als Christen leiden, und die sollen sich aufrichten an dem Troste, dass nicht sie, sondern Christus in ihnen leidet. Will euer eigenes Ich sich aber vordrängen und entweder der Leiden, die ihr habt, sich rühmen, oder den Kopf hängen, klagen und jammern, so heißt es schweigen und eilt sofort zu Christo hin, freut euch und sprecht: Du bist es, lieber Herr, der in uns leidet; darum wollen wir auch der Welt keinen Anstoß geben in unserer Trübsal, sondern leiden, wie es deine Weise ist, mit Sanftmut und Geduld, und wollen fröhlich und getrost sein in unserer Trübsal. Leiden wir mit dir, so werden wir auch mit dir erhoben werden zur Herrlichkeit.
2.
Wie aber mit Christo, so stehen unsere Leiden in der innigsten Verbindung auch mit der Gemeinde Christi. Das ist ein zweiter Grund zur Freude. Paulus sagt: „Ich erstatte an meinem Fleische das, was noch mangelt an Trübsalen in Christo für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde.“ Aber was mangelt denn noch oder ist rückständig von den Trübsalen Christi? Hat der Herr nicht hinlänglich gelitten? ist noch etwas übrig geblieben, das Paulus leiden musste zu unserer Versöhnung? Das sei ferne! Der Apostel unterscheidet ein doppeltes Leiden Christi: das eine, welches er an seinem eigenen natürlichen Leibe ausgestanden in den Lagen seines Fleisches, da die Strafe auf ihm lag (Jes. 53.), da er ein Fluch für uns ward (Gal. 3.), da er unsere Sünde opferte an seinem Leibe (1 Petri 2.). Von diesem versöhnenden Leiden des Herrn ist auch nicht das Geringste rückständig geblieben. Er hat die Kelter des Zorns allein getreten und bis zu Ende aus. So ist er die Versöhnung geworden für unsere und für der ganzen Welt Sünde. Die Ehre der Genugtuung, der Versöhnung, der Erlösung für andere kommt keinem zu, als Christo allein.
Aber es gibt noch ein anderes Leiden Christi: dasjenige, welches er an seinem geistlichen Leibe, welcher die Gemeinde ist, erduldet, nämlich die Bedrängnisse seiner Gläubigen, davon zuvor schon geredet ist. Dieser Leiden Maß ist nicht voll, so lange noch Heilige übrig sind in der Welt, die um Christi willen leiden müssen. Einer dieser Heiligen war Paulus. Auch er musste das Maß der Leiden füllen Helfen durch das, was er duldete an seinem Fleische oder an seinem Teil. Sein Fleisch bedeutet seine Person, beides, Leib und Seele, nach der menschlichen Schwachheit, die ihr anhaftete, wie sie uns allen anhaftet in dieser Welt. Wir sind noch nicht, was wir sein werden, wir wandeln noch in der Schwachheit, und tragen alle unsere Leiden in dem irdenen Gefäß der Schwachheit. So auch Paulus. Sein Körper, der im Gefängnis und in Fesseln lag, war ein verfallenes Hüttenhaus, und sein Geist, obwohl stark in dem Herrn, war doch wie eine Traube in der Presse, und musste stets mit den Waffen des Geistes gerüstet sein, um nicht den Anfechtungen und Kämpfen zu unterliegen. Aber das war bei aller Schwachheit seine Freude, dass der Kelch, den er trank, der große schöne Leidenskelch Christi war, den er mit der Gemeinde und auch für die Gemeinde trank. Scriver in seinem Seelenschatze schreibt davon: Wenn ein großer See auszuschöpfen wäre, und es hätte ein reicher Herr viele Arbeiter dazu verordnet, und einem jedweden sein Gefäß geben lassen, damit er schöpfen müsse, so arbeiten sie zwar alle, doch diejenigen helfen am meisten zur Ausleerung des Sees, welche die größten Gefäße überkommen haben. Also hat unser Gott eine große Menge Trübsal für seine Kirche verordnet, welche vor dem Ende der Welt muss überwunden werden und überstanden sein; da muss ein jedwedes Mitglied derselben helfen arbeiten, leiden, streiten nach seinem Maß, und nach der Gnade, die es von Gott empfangen hat, damit, wie Christus seine Leiden, die ihm nach Gottes Ratschluss zugemessen waren, vollkommen ausgestanden hat, so dass er am Kreuz ausrufen konnte: Es ist vollbracht! so auch an seinem geistlichen Leibe das bestimmte Maß der Leiden erfüllt werde, bis es auch davon heißt: Es ist geschehen (Offenb. 21,6.). Wer nun viel Gnade, Geist, Mut und Freudigkeit empfangen von Gott, der muss sich nicht befremden lassen, wenn ihm auch viel Kreuz, Trübsal, Anfechtung, Schmach verordnet ist; er darf nicht denken, dass er sich derselben entziehen könne oder wolle; er gehe nur vielmehr mit Paulo frisch daran, und freue sich mit ihm in seinen Leiden, weil solches nicht nur seinen Mitbrüdern zu einem heiligen Exempel der Nachfolge und Aufmunterung in ihrem Glaubenskampf dienet, sondern sie auch allerseits dadurch desto eher zur Ruhe gelangen.“ In diesem Sinne sagt der Apostel, er helfe das Maß der noch rückständigen Leiden Christi anfüllen für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde. Kurz zuvor sagte er: für euch, jetzt sagt er: für die Gemeinde. Nicht bloß die Gemeinde zu Kolossä ist gemeint, sondern die ganze Christenheit, vornehmlich die Christen aus den Heiden. Paulus litt für sie alle. Es war ein Leiden, das nicht sein Privatinteresse anging, sondern die ganze Gemeinde und ihr Bestes betraf. Und solche Leiden, mit Willigkeit, mit Sanftmut, mit Geduld getragen, müssen immer der Gemeinde zum Besten dienen. Es sind Leiden, nicht der Versöhnung, sondern der Heiligung. Nicht nur der Leidende selbst wird geheiligt durch die Trübsal - denn die Trübsal bringt Geduld, Geduld bringt Erfahrung, Erfahrung bringt Hoffnung, Hoffnung lässt nicht zu Schanden werden, - sondern was er leidet, das leidet er auch zum Wohle seiner Brüder in der Welt. Von Pauli Leiden wussten alle damaligen Christen, alle sahen auf ihn hin, und sahen den Glauben, die Liebe, die Geduld, die Sanftmut, die Freudigkeit, womit er litt, sahen an ihm die weltüberwindende Kraft des Evangeliums. Das musste sie fördern und stärken an ihrem inwendigen Menschen, wie es zu aller Zeit die Christenheit gestärkt hat bis auf diesen Tag, und sie stärken wird bis ans Ende der Welt. Hatte nicht also der Apostel Grund, zu sagen: „Ich freue mich in meinen Leiden für euch?“ Aber auch wir haben denselben Grund zur Freude in unserer Trübsal. Lasst uns nicht vergessen, was wir als Christen leiden, das leiden wir als Glieder des Leibes Christi. Da stehen wir zusammen mit allen unsern Brüdern in Christo, und trinken mit einander den Kelch der Gemeinde, und helfen mit einander das Gefäß der Trübsale Christi füllen, bis es voll ist und der Herr spricht: Es ist geschehen, es ist vollbracht! Da werden wir selber stark und stärken auch die Brüder, wenn sie unsern Glauben sehen, unsere Sanftmut, unsere Geduld, und tragen so in aller Weise zur Verklärung, zur Vollendung der Gemeinde bei.
3.
Wenn das ist, könntet ihr sagen, so muss ja ein Christ Sorge tragen, dass er um Christi willen möglichst viel Leiden habe in der Welt. Je mehr Trübsal, desto größer der Segen für die Gemeinde, desto größer die Freude für uns selbst! Doch nein! Der Apostel redet in unserm Text nicht von selbstgewählten Leiden, sondern von solchen, die der Herr uns schickt, die unser Beruf mit sich bringt. Hören wir, was er sagt: Welcher (Gemeinde) Diener ich geworden bin nach dem göttlichen Predigtamt, das mir gegeben ist unter euch.
Christus ist der Herr der Gemeinde, Paulus war ein Knecht oder Diener derselben. „Wer ist Paulus? Wer ist Apollo? Diener sind sie, durch welche ihr seid gläubig geworden.“ (1 Kor. 3.) Als Diener war er tätig, und trug Sorge für alle Gemeinden. Wie war er zu diesem Dienst gekommen? Es war ein göttlicher Dienst. Denn durch Gottes Gnade, der ihn vor und in Damaskus berufen hatte, war ihm sein Predigtamt gegeben. Er war also des gewiss, dass er nicht von Menschen, auch nicht durch Menschen, sondern von Gott selbst berufen sei. Für Predigtamt steht im Grundtexte das Wort „Ökonomie.“ Ein Ökonom oder Haushalter war in damaliger Zeit der erste unter den Dienern eines Herrn, und hatte die Oberaufsicht über das Hauswesen, die Austeilung der Speisen, der Arbeiten, des Lohns. Das über trägt der Apostel auf die Kirche, dies große Haus Gottes, das gegründet war und immer weiter ausgebaut werden sollte zum Heil der Welt. So versteht nun Paulus unter Ökonomie seinen Anteil an der herrlichen Gnaden-Anstalt Gottes, in welcher zur Führung der kirchlichen Haushaltung das Apostelamt und viele andere Ämter gegründet sind. „Ein solches Amt,“ spricht er, „ist mir gegeben unter euch Heiden, und nicht bloß unter euch, sondern vielmehr in euch, dass ich mit meinem Wirken als Apostel sollte in eure Herzen dringen.“ Es handelte sich bei dem Apostel um die Ausrichtung eines Auftrags. Der Auftrag war, das Evangelium, dies von Gott kommende und zu Gott führende Wort, nach der ganzen Fülle seiner Lehren und nach der ganzen Tiefe seines Inhalts in die Menschen zu pflanzen. Und das tat er; er predigte es reichlich, er richtete es vollständig aus. Von Jerusalem an und umher, bis an Illyrien, erfüllte er alles mit dem Evangelium, also einen Landstrich von gegen viertehalb1) hundert deutschen Meilen. - Das also war der Beruf Pauli, den er zu seinem Amte und zugleich zu seinen Leiden empfangen hatte. Denn es hieß auch hier: Willst du Gottes Diener sein, so schicke dich zur Anfechtung. Aber eben darauf beruhte nun auch zum Teil die Freude, die er in seinen Leiden hatte. Es waren Berufs-, es waren Amtsleiden, Törichte Menschen, die sich selbst Martern und Qualen ersinnen und auferlegen! Solche Trübsale schaffen weder andern Segen, noch uns selber Freude. Aber Leiden, die wir finden, ohne dass wir sie gesucht haben, Leiden, die der Herr uns auferlegt, die er an unser Amt knüpft und an unsern Beruf: die sind Dornen aus der Krone des Erlösers, die sind Tropfen aus dem Kelche der Gemeinde, die sind Perlen in dem Kranze der Verklärung, die erfüllen das Herz des Leidtragenden mit Mut und Freudigkeit. Darum bittet den Herrn, nicht, dass er euch Leiden gebe, sondern, dass er euch in euren Leiden die Freude gebe, die Paulus hatte in seinen Leiden.