Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - IX. Die bleibende Gemeinschaft mit dem Herrn.

Jacoby, Carl Johann Hermann - Der erste Brief des Apostels Johannes in Predigten ausgelegt - IX. Die bleibende Gemeinschaft mit dem Herrn.

1. Joh. 2,24-29.
Was ihr nun gehört habt von Anfang, das bleibe bei euch. So bei euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so werdet ihr auch bei dem Sohne und Vater bleiben. Und das ist die Verheißung, die er uns verheißen hat, das ewige Leben. Solches habe ich euch geschrieben von denen, die euch verführen. Und die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt bei euch, und bedürft nicht, dass euch jemand lehre, sondern wie euch die Salbung allerlei lehrt, so ist es wahr und ist keine Lüge; und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt bei demselbigen. Und nun, Kindlein, bleibt bei ihm, auf dass, wann er offenbart wird, dass wir Freudigkeit haben und nicht zu Schanden werden vor ihm in seiner Zukunft. So ihr wisst, dass er gerecht ist, so erkennt auch, dass, wer recht tut, der ist von ihm geboren.

Es zieht sich durch die Geschichte der Menschheit die Klage hindurch, dass unser Leben ein stetes Sterben in sich schließe. Und in der Tat, wohin wir unser Auge richten, überall finden wir eine Bestätigung dafür, dass diese Klage nur zu sehr begründet ist. Mit jedem Jahre verwandelt sich der Schauplatz unsers Daseins und Wirkens. Je älter wir werden, je mehr sich der Zeitraum ausdehnt, den wir durchschritten, desto mehr unausgefüllte Lücken, desto mehr unersetzliche Verluste zeigen sich dem in die Vergangenheit zurückschauenden Auge. Wie viele haben diese Erde verlassen, die wir mit innigster Liebe umfassten und stets umfassen werden! Hier Vater und Mutter, unserer Kindheit treuste Pfleger, vielleicht auch durch Gottes Gnade unserer Jugend Hüter und gereiften Alters nie sich versagende Berater und Tröster, dort teure Freunde, die mit uns hofften, strebten, wirkten, deren Vorbild uns stärkte, deren freundlicher Zuspruch in schwerer Stunde uns aufrecht hielt. Und so mancher unter uns hat in das Dunkel des Grabes senken müssen, was ihm ein teuerstes auf Erden war, und es schien ihm, dass die Sonne seines Lebens zur Rüste gegangen sei. Und, wenn es wahr ist, dass das Leben in unserm Leben die Liebe ist, so ist es auch wahr, dass das Scheiden derer, die wir lieben, für uns ein Sterben bedeutet1).

Aber ein Sterben birgt auch unser Leben in sich infolge der Wandlungen, denen die Kräfte unsers Leibes und unsers Geistes unterworfen sind. Wohl zeigt die Entwicklung unsers Lebens bis zum gereiften Alter das Bild einer aufsteigenden Linie, die Rüstigkeit und Leistungsfähigkeit unsers Körpers erscheint in stetem Wachstum begriffen, die Vermögen unsers Geistes entfalten sich immer reicher und kräftiger, wir wandeln siegesgewiss unsere Bahn. Aber haben wir die Mittagshöhe erreicht, so steigen wir bergab. Wir mögen uns eine kürzere oder längere Zeit darüber täuschen, denn langsam, kaum bemerkbar erfolgt der Abstieg, und die einen durften noch auf der Höhe weilen, während die andern schon niederwärts sich wenden mussten. Aber schließlich müssen es sich alle bekennen, dass die körperlichen Kräfte sinken, der Widerstand gegen die Mächte, welche sie bedrohen, geringer wird, und die angestrengte Arbeit sich belastend auf die Schultern legt. Und auch das geistige Leben verliert seine Spannkraft, die Frische des Gefühls schwindet, die Entschlossenheit des Handelns weicht, der Tätigkeitsdrang erlischt. Noch, bevor wir dem Tode anheimfallen, spüren wir seine Macht.

Wir können es nicht leugnen, das Menschenleben schließt ein Sterben in sich.

Aber, Geliebte, dennoch mitten in dieser Welt des Vergehens ist den Christen eine unvergängliche Herrlichkeit bereitet, mitten in dieser Welt der Veränderlichkeit und des Wechsels ist uns ein bleibendes Gut gewährt, mitten in dieser Welt des Todes genießen wir die Fülle ewigen Lebens. Es bleibt uns die Gemeinschaft mit unserm Gott und Heiland. Himmel und Erde mögen vergehen, sie bleibt; alle mögen uns verlassen, sie bleibt; die Rüstigkeit und Gesundheit unsers Körpers, die Frische und Lebhaftigkeit unsers Geistes, sie mögen schwinden, die Gemeinschaft mit unserm Gott und Heiland bleibt. Das ist der herrliche, unendlich reiche Trost, den uns heute der Apostel Johannes darbietet. Ihm folgend, lasst uns

Die bleibende Gemeinschaft mit dem Herrn zum Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung wählen.

Wir vergegenwärtigen uns den sichern Grund, auf dem sie ruht; die beseligende Kraft, die sie in sich schließt, die heilige Frucht, die aus ihr erwächst.

1.

Unsre bleibende Gemeinschaft mit dem Herrn ruht auf sicherem Grunde. Er selbst hat sich uns geoffenbart. Unser Gott und Vater hat uns sein Angesicht gezeigt, sein innerstes Wesen, seine unendliche Liebe, uns in seinem eingebornen Sohne Jesu Christo vollkommen enthüllt. Wer ihn sieht, sieht den Vater, sein Wort ist Gottes Wort, sein Werk ist Gottes Werk. Und sein Wort und Werk ist durch die von ihm berufenen Apostel und durch apostolische Männer, die sich an sie anschlossen, verkündet, sein heiliges Lebensbild von ihnen gezeichnet worden. So ist durch ihr Wort die Gemeinde Jesu Christi gegründet worden. Und dies Wort ist nicht verklungen, sondern redet noch zu uns in der neutestamentlichen Schrift, welche die apostolische Predigt enthält. Sie ist der untrügliche Maßstab, an dem wir alle Verkündigung des Evangeliums prüfen; sie ist der Quell, aus dem wir schöpfen, um volle Gewissheit der ewigen Wahrheit zu gewinnen. Wir hören in ihr die Predigt der Apostel, wir sitzen zu ihren Füßen und lauschen ihrer Rede.

Und wir spüren es, sie besigt dieselbe Kraft, die ihr einwohnte, als sie zuerst vernommen wurde. Der leuchtende Glanz, der das Bild des Gottes- und Menschensohnes umfließt, das sie gezeichnet haben, spiegelt sich in unserer Seele, und wir erkennen und bekennen mit Luther:

Das ew'ge Licht geht da herein,
Gibt der Welt ein neuen Schein,
Es leucht wohl mitten in der Nacht
Und uns des Lichtes Kinder macht.

Wir werden es inne, hier und hier allein liegen die Wurzeln unserer Kraft, hier ist die Stätte der Versöhnung und der Erlösung, hier ist Anfang, Mitte und Ziel für unsere Wiedergeburt, Erneuerung und Heiligung, hier finden wir ewigen, himmlischen Frieden. Aber im Wort der Apostel wird uns nicht nur das Bild Jesu Christi vor Augen gestellt, es wird uns auch sein Lebenswerk gedeutet. Wir erblicken in ihm aller Weissagung Erfüllung, aller göttlichen Offenbarung letztes Wort, des Heilsratschlusses Gottes Vollendung und rufen mit dem Apostel: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ (Röm. 11, 33). Aber das Wort Gottes in neutestamentlicher Schrift zeichnet nicht nur das Bild des Heilandes und deutet sein Werk, es ist nicht nur Zeuge der Wahrheit und Wegweiser zu ihr, es ist auch das Werkzeug, durch welches Gottes Gnade unser Heil, unsere Wiedergeburt und Bekehrung, unsere Erneuerung und Heiligung vollbringt. Es ist Gnadenmittel. Durch das Wort Gottes in neutestamentlicher Schrift und durch jegliche Predigt des Evangeliums, die ihr folgt, redet Gott selbst zu uns. Das Wort Gottes ist eine geweihte Stätte, über welche geschrieben ist: „Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, da du auf stehest, ist ein heiliges Land“ (2. Mos. 3,5). Hier finden wir Gemeinschaft mit unserm Gott.

Darum wollen wir bei dem Worte Gottes bleiben, es gern hören und lernen, wir wollen uns in dasselbe versenken, es soll die Speise werden, die den geistigen Menschen in uns nährt; es soll der Same werden, der, hineingepflanzt in unser Inneres, ein neues Leben in uns erzeugt; es soll der Wegweiser werden, dem wir auf der Pilgerschaft durch diese Welt folgen. Mit dem Psalmisten wollen wir sprechen: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (Ps. 119, 105). Und die Mahnung des Apostels Johannes, die heute an uns ergeht, wollen wir beherzigen: „Was ihr nun gehört habt von Anfang, das bleibe bei euch. So bei euch bleibt, was ihr von Anfang gehört habt, so werdet ihr auch bei dem Vater und Sohne bleiben.“

Siehe da den sichern Grund, auf dem unsere bleibende Gemeinschaft mit dem Vater ruht. Sie ist nicht gegründet auf die Gedanken menschlicher Weisheit, die so trügerisch ist und so oft in die Irre führt, nicht gegründet auf schwankende Gefühle, die, gleich den Meeresfluten, dem Wechsel von Flut und Ebbe, von Hoffen und Verzagen, von Fülle und Leere, unterworfen sind, sie ist gegründet auf das Wort Gottes, das wir im Glauben aufgenommen haben und festhalten, in dem unser Erkennen die Wahrheit, unser Wollen die Kraft, den Weg der Gerechtigkeit zu gehen, unser Fühlen Frieden und Seligkeit findet.

2.

Unsre bleibende Gemeinschaft mit dem Herrn, der das ewige Leben und die ewige Liebe ist, schließt die Kraft ewigen Lebens in sich. „Das ist die Verheißung, die er uns verheißen hat, das ewige Leben.“ O eine köstliche Verheißung! Mitten in einer Welt der Vergänglichkeit und des Todes dürfen wir uns des Besitzes ewigen Lebens getrösten. Unser äußerer Mensch schwindet dahin und wird in der rastlosen Arbeit des irdischen Daseins aufgezehrt; so manche Gefühle, Neigungen und Bestrebungen, die sich durch den Zusammenhang mit diesem zeitlichen Leben in uns gebildet haben, werden zerstört, je mehr sich dieser Zusammenhang lockert, aber wir tragen einen innerlichen Menschen in uns, der von Tage zu Tage erneuert wird. Alle Trübsal, die uns trifft, alles Kreuz, das sich auf unsere Schultern legt, Schmerzen, unter denen unser Herz blutet, Kummer, der uns niederbeugt, alles, was die natürliche Lebenskraft lähmt, es vermag die Entwicklung des ewigen Lebens der Kinder Gottes nicht zurückzuhalten, Gottes Gnade verwandelt es gleichsam in milden Regen und warmen Sonnenschein, unter deren Einfluss sich der verborgene Mensch in uns aufrichtet und wächst, Blüten und Früchte trägt. Es wächst in uns der Glaube, dass wir hier keine bleibende Stadt haben, sondern die zukünftige suchen (Heb. 13,14), sehnsuchtsvoll heben sich die Flügel unserer Seele und schwingen sich zu dem himmlischen Jerusalem empor, da wir Gott und den Heiland vollkommener schauen und mit allen wieder vereinigt werden sollen, mit denen wir hier Hand in Hand wandelten. Es wächst in uns die Liebe zu den Brüdern, heller wird das Auge, milder der Sinn, weiter das Herz, hilfreicher die Hand. Je mehr wir die Macht der Sünde in und über uns erkennen, je mehr wir uns selbst richten, desto bereiter werden wir zum Verzeihen, desto lieber verzichten wir darauf, zu richten, je mehr wir uns bewusst werden, dass wir als Glieder am Leibe Jesu Christi ein jeder mit eigentümlicher Gabe ausgerüstet und zu eigentümlicher Aufgabe für den Bau des Reiches Gottes berufen sind, der eine durch diese, der andre durch jene Erkenntnis der himmlischen Geheimnisse ausgezeichnet, aber ein jeder nur mit beschränktem Blick in den Ratschluss Gottes hineinschauend, desto geneigter und williger werden wir, in den Unterschieden der Erkenntnis der himmlischen und heiligen Wahrheit nicht trennende Mauern, sondern Spieglungen des ewigen Lichts zu erkennen. Und je umfassender die Betrachtung aller Leiden wird, die auf unseren Brüdern lasten, aller in das Verderben führenden Irrgänge, auf denen so viele unter ihnen dahin gehen, dem Abgrund entgegen, desto eifriger strecken wir unsere Hand aus, zu helfen und zu retten. Es wächst in uns der Glaube und | die Liebe. Und wo Glaube und Liebe, da ist auch Seligkeit und ewiges Leben. Unglaube ist auch Unseligkeit. Ein armer, elender Mensch, der nur dies vergängliche Erdenleben kennt und sein nennt, das ihm doch unter den Händen zerrinnt. Glaube und Seligkeit sind ebenso unzertrennlich miteinander verbunden wie Unglaube und Unseligkeit. Und nicht minder steht Liebe und Seligkeit in unlöslichem Zusammenhange. In der Liebe entfalten sich alle Kräfte unseres Gemüts; wenn die Liebe das Herz erfüllt, erwachen alle Keime des innersten Lebens, es weht Frühlingsodem, und Sommerwärme erquickt. Aber in der Lieblosigkeit, in der Selbstsucht, erstarrt das Herz, verengt sich der Sinn, es weichen Freude und Friede, Bitterkeit, Hass und Neid erheben das Haupt, wir spüren die Macht des Todes. Unglaube und Selbstsucht sind Todesmächte, Glaube und Liebe beseligende Lebensmächte.

3.

Hüten wir uns aber vor dem Irrtum, das Bleiben in der Gemeinschaft mit dem Herrn gewähre uns nur die Fülle freudiger Gefühle, den Reichtum innerer Erquickungen, die uns auf unserer zeitlichen Pilgerschaft begleiten sollen. Nein, eine wertvollere Frucht soll uns aus ihr erwachsen. Unser Gott ist ein heiliger Gott. „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll“, rufen die Seraphim (Jes. 6,3), und ihr Wort klingt in dem Ruf des Sehers des neuen Bundes fort: „Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt“ (Offenb. 4,8). Er hat sich uns in Jesu Christo als die Liebe offenbart, aber als die heilige Liebe. Und deshalb, meine Teuren, wenn wir mit unserm Gott in bleibender Gemeinschaft stehen, wenn wir auf ihn hinschauen als den Quell unsers Lebens, aus dem wir Gnade um Gnade schöpfen, auf den Wegweiser, dem wir folgen, auf den Herrn, dessen unverbrüchlichem Gesetz wir Gehorsam geloben; wenn wir auf ihn schauen in demütiger Beugung und in ernstem Selbstgericht, in kindlichem Vertrauen und in kindlichem Gehorsam, dann wächst aus unserer Gemeinschaft mit Gott die Ähnlichkeit mit ihm hervor. Das göttliche Ebenbild, durch die Sünde entstellt, wird gereinigt und erneuert, die Züge eines Kindes Gottes treten wieder hervor, wir werden neu geboren. Trugen wir bis dahin nur das Gepräge von Kindern der Welt, wie Geburt, Umgebung, Erziehung es uns aufgedrückt hatten, bald unschön, bald edler gestaltet, so zeigen sich nun in uns die heiligen Züge unsers himmlischen Vaters, wie matt und unvollkommen auch immer ihr Bild in uns sein mag. Und aus Gott geboren, wie können wir anders als seinen heiligen Willen erfüllen! Daran erkennen wir, ob wir aus Gott geboren sind, dass wir recht tun, dass wir nicht als Knechte, sondern als freie, dankbare Gotteskinder an seinem Reiche bauen und die Werke des Reiches Gottes, die Werke selbstverleugnender, barmherziger Liebe, die Werke einer Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, vollbringen. Wo Leben, da ist auch Liebe, und, wo Liebe, da ist auch Werk und Tat.

Als selige Gotteskinder, die an ihrer eignen Heiligung und am Bau des Reiches Gottes arbeiten, blicken wir nun aber auch getrost auf den letzten Tag unsers Erdenlebens, auf den großen Augenblick, an dem wir dies zeitliche Dasein verlassen, um in die Ewigkeit einzugehen. So lange wir noch in jugendlichen Jahren H stehen, pflegt der Gedanke an Sterben und Tod nur flüchtig an uns heranzutreten, das irdische Ziel unsers Lebens scheint noch in weiter Ferne zu liegen, des zeitlichen Daseins Lust und Arbeit fesseln uns zu sehr, als dass wir ernster dem Tode in das Angesicht zu schauen geneigt sein könnten. Aber, je älter wir werden, je näher wir dem letzten Lebenstage kommen, desto weniger können wir uns dem Gedanken an unser Scheiden aus dieser Welt entziehen. Wir wissen, der Tod ist unentfliehbar, und wir können mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit berechnen, wie lange wir noch unsere irdische Pilgerfahrt fortzusehen hoffen dürfen. Mit welchen Gefühlen sollen wir ihrem Ziele entgegenschauen? Mit denselben Gefühlen, mit denen die Christenheit der ersten Jahrhunderte die Wiederkunft des Herrn und Heilandes Jesu Christi erwartete. Mit den Gefühlen der Freudigkeit und des Freimuts, mit dem Gefühl der Gewissheit, nicht zu Schanden zu werden vor seinem Gericht.

Meine Lieben! Der Tod ist ein Bote des Schreckens für alle Menschenkinder, die auf dem breiten Weg der Sünde wandeln, nicht Gott vor Augen, nicht das Gewissen als Wegweiser, nicht den Heiland zur Seite haben, denn der Tod führt sie in das Gericht, und wie sollen sie in ihm bestehen! Er ist ein Bote des Schreckens für die Kinder der Welt, die im irdischen Genuss, in vergänglicher Lust, ihr Genüge suchten, die dem Gedanken an Gott und Ewigkeit sorglich aus dem Wege gingen, in denen der innere Mensch des Geistes in tiefen Schlummer gesunken, wenn nicht erstorben war. Und nun entreißt ihnen der Tod alles, woran ihr Herz hing, sie müssen es verlassen, um nie zu ihm zurückzukehren. Und die vollkommenen Güter des Reiches Gottes, zu deren seligem Besitz die scheidenden Kinder Gottes berufen werden, diese Güter, die allein in der geistigen, himmlischen Welt gewonnen werden können, sie haben für die Kinder der Welt keinen Wert und Reiz, sie sind ihnen fremd und können deshalb von ihnen nicht ergriffen werden.

Aber die Kinder Gottes gehen dem Tode mit Freudigkeit und Freimut entgegen; nicht mit krankhafter Sehnsucht, als wäre das Erdenleben von Gott verlassen und nicht auch eine Offenbarungsstätte seiner Herrlichkeit, aber mit der frohen Zuversicht, auf eine höhere Stufe des Lebens in Gott erhoben zu werden. Wir blicken dem Tode nicht mit Furcht entgegen, denn wir wissen, dass unsere Schuld gesühnt und unsere Sünde vergeben ist; nicht mit Furcht, denn wir sind in guter Zuversicht, dass, der in uns angefangen das gute Werk, der wird's auch vollführen bis an den Tag Jesu Christi (Phil. 1,6); nicht mit Furcht, denn auch der Tod kann uns nicht scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn (Röm. 8,38.39). Nicht mit Furcht, aber freilich mit heiligem Ernst. Denn auch die Kinder Gottes werden in ein Gericht eintreten müssen, Rechenschaft ablegen für die Verwaltung der Pfunde, die ihnen anvertraut waren, Rechenschaft für Wort und Werk. Auf wie viele Fragen werden wir dann nicht zu antworten vermögen, wie viele Beschämung wird unserer warten! Und wenn wir als Begnadigte aus dem Gericht hervorgehen werden, es wird uns sein, als seien wir durch eine Feuertaufe hindurchgegangen zu seliger Lebensvollendung. Denn sie ist unser Erbe, sie kann uns nicht genommen werden. Sie ist die himmlische Frucht unserer bleibenden Gemeinschaft mit dem Herrn. Amen.

1)
Ambrosius in der Gedächtnisrede an seinen Bruder Satyrus: „In jenem Leibe, der nun entseelt vor mir liegt, ist das schönere Wirken meines Lebens, so wie in dem Leibe, den ich noch trage, dein reichlicherer Teil lebt.“ Schleiermacher in den Monologen: „Wohl kann ich sagen, dass die Freunde mir nicht starben; ich nahm ihr Leben in mich auf, und ihre Wirkung auf mich geht nirgends unter: mich aber tötet ihr Sterben. Mein Wirken in ihm hat aufgehört, es ist ein Teil des Lebens verloren. Durch Sterben tötet jedes liebende Geschöpf, und wem der Freunde viele gestorben sind, der stirbt zuletzt den Tod von ihrer Hand, wenn ausgestoßen von aller Wirkung auf die, welche seine Welt gewesen, und in sich selbst zurückgedrängt, der Geist sich selbst verzehrt“ (IV. Aussicht).
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