Huhn, August Ferdinand - Predigten über die Heiligen Zehn Gebote - Predigt über das neunte und zehnte Gebot.
So wir sagen, wir haben keine Sünde, spricht Johannes, so verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. Merkt wohl, es heißt: so wir sagen, wir haben keine Sünde. Das heißt mit anderen Worten: wenn wir unser angeerbtes Verderben leugnen, wenn wir es nicht Wort haben wollen, dass tief in uns die Quelle aller Ungerechtigkeit ist, dass wir von Gott abgefallene und tief gesunkene Geschöpfe, unfähig, untüchtig und ohnmächtig zu allem Guten und geneigt zu allem Bösen, und daher vor Gott ein Gräuel sind. Das ist die Sünde. Wenn wir das leugnen, sagt Johannes, dann sind wir sehr elende und gefährliche Leute, elend, indem wir uns selbst betrügen, gefährlich, indem wir damit auch Andere verführen. Die Wahrheit ist dann nicht in uns, sondern wir dienen der Lüge und dem Vater der Lügen. Die Lehre von der Sünde oder vom natürlichen Verderben des Menschen ist eine Grundwahrheit, die durch das ganze Wort Gottes geht und ohne die nichts von Christo und seinem Erlösungswerke verstanden werden kann.
Nun hat es aber schon zu allen Zeiten solche Leute gegeben und gibt heute noch gar viele, die dem lieben Gott geradezu ins Angesicht lügen und sagen, dass das, was Er von der Sünde in seinem Worte sage, nicht wahr sei. Diese Leute wollen es besser wissen, als Er. Gott sagt: des Menschen Dichten und Trachten ist böse von Jugend auf. Sie aber sagen: das ist nicht wahr; wir sind ganz gut, wir haben nur einige Sünden, einige Leidenschaften, einige Fehler, einige Schwächen. Paulus sagt: ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes. Diese Leute aber sagen: das ist unvernünftig; wir können alles Gute aus uns selbst, wenn wir nur wollen. Wir wollen es ja, darum müssen wir es auch können. Seht, gegen solche Leute, welche die Sünde oder das natürliche Verderben ihres Herzens leugnen, gegen solche und überhaupt gegen Alle, die sich selbst noch irgendwie für gut halten, gegen solche sind die beiden letzten Gebote (das neunte und zehnte) in unserem Katechismus gestellt. Sie sind, sagt unser teurer Luther, nicht für die bösen Buben in der Welt, sondern eben für die Frömmsten gestellt, die da wollen gelobt sein, redliche und aufrichtige Leute heißen.
Wir, meine Freunde, wollen an diesem neunten und zehnten Gebote heute, unter Gottes Beistande, zu erkennen suchen:
I. dass wir Sünde haben, und
II. wie wir allein von der Sünde loskommen können.
Doch hört zuvor das Gebot des Herrn selbst:
2 Mos. 20, 17 und 18.
Das neunte Gebot: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
Luthers Erklärung:
Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten nicht mit List nach seinem Erbe oder Hause stehen, noch mit einem Scheine des Rechten an uns bringen, sondern ihm, dasselbe zu behalten, förderlich und dienstlich sein.
Das zehnte Gebot:
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh, oder Alles, was sein ist.
Luthers Erklärung:
Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten sein Weib, Gesinde oder Vieh nicht abspannen, abdringen oder abwendig machen, sondern dieselbigen anhalten, dass sie bleiben und tun, was sie schuldig sind.
I.
Erstens also: wir haben Sünde, unser ganzes Herz ist verdorben, wir sind abgefallene und tief gesunkene Geschöpfe, untüchtig zum Guten und geneigt zu allem Bösen. Das können wir nicht leugnen, wir müssen es bekennen, wenn wir das neunte und zehnte Gebot in uns erwägen, welches heißt: du sollst nicht begehren, du sollst dich nicht gelüsten lassen. Ja die ganze, arge Welt, die in uns wohnt, muss uns dieses Wort zum Bewusstsein bringen, wenn wir es nur recht bedenken. Begehren und Lust haben soll der Mensch allerdings. Speise und Trank, und was zur täglichen Nahrung und Notdurft des Leibes und Lebens gehört, begehren, ist natürlich, ist recht, ist von Gott geordnet. Ja, der Herr gebietet uns selbst, dass wir darum bitten sollen. Aber es lebt der Mensch nicht vom Brote allein, sondern von einem jeglichen Worte, das aus dem Munde Gottes geht. Das, was in uns wünschen und verlangen und sich sehnen, das, was in uns begehren und wollen, und Lust und Freude empfinden kann, dies Vermögen, das hat der Schöpfer nicht in uns gepflanzt, dass wir damit des Nächsten Haus, oder Weib, oder Knecht, oder Alles, was sein ist, begehren sollen; auch nicht dass wenn wir des Morgens aufwachen, unsere Gedanken gleich und nur auf das gehen, was wir essen, was wir trinken, was wir verdienen und erwerben werden. Auch darum hat Er uns jenes Vermögen nicht gegeben, dass wir am Sonntage nur darauf sinnen, wie werden wir uns vergnügen? und wie Jene im Evangelio, an unserem Acker, an unserem Ochsen und an unseren Weibern und an allem möglichen anderen irdischen Spielwerke mehr Lust haben und danach mehr verlangen, als nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. Doch das brauche ich Euch, meine Freunde, nicht erst zu sagen. Ihr wisst ja wohl Alle, dass der Schöpfer uns unser Begehrungsvermögen zu was Besserem gegeben hat. Ihr wisst es, dass der lebendige Gott uns nach seinem Ebenbilde schuf, und dass Er uns einen Trieb in die Brust pflanzte, nach Ihm zu verlangen, Ihn zu suchen, Ihn zu begehren. Ja, diesen Trieb, dies Verlangen, dies Sehnen nach Ihm grub Er so tief und mit solcher Flammenschrift in uns, dass unser Herz ruhelos sein und nicht eher Ruhe, Frieden und Freude haben sollte, als bis es Ihn, den lebendigen Gott, ergriffen, bis es nur an Ihm seine Lust und seine volle Genüge gefunden. Kein Silber und Gold, keine Edelsteine, keine Erdenlust und Erdenfreude, keine Kunst und keine Wissenschaft, kein Thron und keine Herrschaft, keine Welt und kein Himmel mit allem seinem Heere sollte das innerste Verlangen und Sehnen des Menschenherzens befriedigen. Arm und elend sollte das Menschen Herz mitten im Besitze aller dieser Dinge sein ohne Ihn, den lebendigen Gott, das höchste Gut. Alles andere, welchen Namen es auch habe, unwert sollte es der Mensch seines Begehrens achten. Die ganze Welt, mit Allem, was sie ist und hat, sollte uns auch nicht einen Tropfen Lebenswasser für unser dürstendes Herz geben. Nach dem Allergrößten, Allerhöchsten, nach dem Unaussprechlichen, Ewigen, nach Ihm allein, unserem Herrn und Gott, sollen wir dürsten. Er allein wollte uns erquicken und Ruhe geben für unsere Seelen. Solche Liebe wollte uns Gott erzeigen. Das war sein Wille, als Er den Menschen schuf zu Seinem Bilde. Und das ist noch heute sein Wille. Das ist die Liebe, die Er uns noch heute erzeigen will. Dazu machte Er unser Herz so, dass es wünschen und seufzen, dass es verlangen und sich sehnen kann. Das, das sollen wir begehren: wir sollen Gott über alle Dinge lieben. Das sollen wir. Aber wie ist es? Was begehren wir in der Tat? Rufen wir alle Tage mit David: Wie ein Hirsch schreit nach frischem Wasser, so dürstet meine Seele nach Gott, nach dem lebendigen Gott? Nein, das tun wir nicht; das halten die Meisten, die sich Christen nennen, noch für eine Überspannung, für Schwärmerei, für unvernünftiges Christentum. Ich will Euch zeigen, was man tut, was man begehrt und wonach einem gelüstet. Doch nein, ich habe es nicht nötig, denn sonst müsste ich Euch heute noch einmal vor Augen führen die sündlichen Gedanken und Lüste und Begierden, die wir gegen Gott und alle seine Gebote vom Ersten bis zum Letzten in unserem Herzen hegen. Sollte ich dies heute noch einmal tun müssen, dann wäre voraus zu setzen, dass Ihr das ganze Jahr hindurch die Predigten über die Gebote vergebens gehört. Das will und darf ich aber nicht voraussetzen, weil die täglichen Versündigungen Euch gewiss lebhaft genug an das Gesagte erinnern müssen. Wenn also auch jemand sagen wollte, das und das habe ich nicht getan, so fragte Dich doch das neunte und zehnte Gebot: hast Du es auch nicht begehrt? Sagt mir denn also einmal: warum taten wir heute noch die und die Sünde; warum gelüstete uns gegen Gottes Gebot; warum begehrten wir nicht nach dem Guten, denn das ist Gott, weil Niemand und nichts Anderes gut ist, denn der alleinige Gott? Warum taten wir das? Hat Gott uns zum Bösen versucht? Kam aus den Dingen dieser Welt die Lust in das Herz?, kam aus dem Blute, aus den Sinnen, aus dem Temperamente die sündliche Begierde in die Seele? O, ich weiß, dass so Manche sich und ihre Sünden damit entschuldigen: dies und dies ist mein Fehler, das ist meine Schwachheit; aber mein unglückliches Temperament reizt mich dazu; im Übrigen bin ich doch reines Herzens. So redet man. Sagt, meine Freunde, ist das nicht die gröbste Heuchelei und der schnödeste Selbstbetrug, den es nur geben kann? Ist das nicht Gotteslästerung?
Ich will Euch das näher erklären. Ein jeglicher, sagt die Schrift, wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird. Wenn es Dir nun z. B. auf der Seele brennt, Deinem Nächsten einen bösen Leumund anzuhängen, wenn Du neidest und scheel auf ihn siehst, sage, woher kommt dies Brennen? Kommt es von dem abwesenden Nächsten, oder kommt es nicht aus der Hölle des Hasses und der Mordgedanken in Deinem eigenen Herzen? Oder wenn Du nach Deines Nächsten Gut begehrst, wenn Du hier vergeudest und dort kargst, setzt das ein ganz reines, unschuldiges, oder setzt das nicht vielmehr ein diebisches Herz voraus? Und wenn Dich nach des Nächsten Weib gelüstet, wenn Du unreinen und ehebrecherischen Bildern Dich hingibst; ist das so zufällig, ist das so eine bloße sinnliche Schwäche, oder wohnt da nicht vielmehr der Ehebruch selbst tief in Deinem Herzen? Du sähest nicht mit unreinen Augen, wenn Dein Herz, wenn Dein ganzer Mensch nicht unrein wäre. Und wenn Du Worte des Hasses und Zornes aussprichst, wenn Du hartherzig gegen Deinen Nächsten bist, wenn Du die Pflichten der Liebe versäumst, für den Nächsten nicht beten willst und magst, kommt das Alles so von ungefähr, oder hat das nicht seinen Grund in Deinem ganzen Wesen?
Und wenn Du nach Ehre vor der Welt jagst, wenn Du nur immer Dich selbst hören möchtest, wenn Du eine Beleidigung und Schmähung nicht vergessen kannst, wenn Du bei jedem Falle, wo es sich um das Mein und Dein handelt, nichts entbehren, nichts fahren lassen kannst, ist da nicht Dein ganzes Herz und Wesen im schnödesten Götzendienste? Denn ein solcher ist doch die Vergötterung des eigenen Ichs. Und wenn Du alles Andere mehr fürchtest und liebst, als den lebendigen Gott, und auf dies und das hundert Mal mehr vertraust, als auf das Gebet zu Ihm, wenn Du auch eine Stunde nur nicht vermagst, nach Gott allein zu begehren, ja zur Zeit wohl gar einen Ekel vor seinem Worte und vor Allem hast, was Dich an Ihn erinnert, setzt das etwas Anderes voraus, als Feindschaft, ich sage Feindschaft gegen Gott? Wer das leugnet, der müsste leugnen, dass der Strom eine Quelle und dass die Wirkung eine Ursache habe. Aus dem Herzen, spricht der Herr, aus dem Herzen kommen alle arge Gedanken. Wäre Dein Herz rein, so könntest Du nichts Unreines begehren, Du könntest nicht sündigen. Es gäbe kein Sündenmeer, wenn es nicht eine tiefe, tiefe Quelle derselben gäbe. Es würde nicht unserer Sünden mehr geben, als Haare auf unserem Haupte, wenn es nicht eben ein Haupt gäbe, aus dem sie immer wieder von Neuem hervorwüchsen. Mit Einem Worte: es gäbe keine Sünden, wenn es nicht Eine Sünde gäbe. Und so wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns.
Seht, das war es, was ich Euch bei dem Gebote, du sollst nicht begehren! zum Bewusstsein bringen wollte. Und das ist wichtig; wichtiger, als Mancher denken möchte. Denn es hängt von der Erkenntnis dieser Wahrheit unsere Erlösung, unser ganzes Heil und unsere Seligkeit ab. Das werdet Ihr jetzt im zweiten Punkte unserer Betrachtung sehen, wo ich Euch zeigen will: wie wir allein erlöst werden und von der Sünde loskommen können.
II.
Hätten wir es bloß mit einzelnen Sünden zu tun, wären wir im Übrigen gut und hätten diesen und jenen Fehler, diese und jene Schwäche, dies und das Gebrechen bloß, wie Einige meinen, dann brauchten wir freilich kein Evangelium; dann wäre Gott ganz unnützerweise Mensch geworden und hätte ganz unnützerweise sich martern und kreuzigen lassen; dann hätten wir am Gesetze oder an den sogenannten Moral-Predigten genug; dann wäre es ganz recht, den Menschen zu sagen: ihr seid Alle Gottes liebe Kinder, ihr seid Alle von Natur gut. Wenn ihr auch freilich keine Engel seid, so seid ihr doch gut. Nun, strebt nur, so viel als möglich, noch besser, noch vollkommener zu werden, tut noch das und das, und vermeidet noch das und das, zuletzt werdet ihr sein wie Gott. Seht, das wäre ganz recht, wenn es sich so mit uns verhielte. Und das ist auch gar Vielen noch ganz recht; solche Predigten wollen sie hören. Daher sie denn auch, da sie immer nur von einzelnen Sünden reden, aber von dem tiefen Verderben ihres Herzens und ihres ganzen Menschen nichts wissen wollen, Christum für einen bloßen Sittenlehrer, für den größten Moral-Prediger und dergleichen halten. Aber von Ihm, als von dem Lamme Gottes, dass der Welt Sünde trägt, mögen sie nichts hören. Das heißt freilich nichts anderes, als Ihm gerade seine größte Ehre, das heißt, Ihm sein einziges und höchstes Verdienst absprechen, das heißt, Christum verleugnen und aus Ihm einen Moses (nein, das ist es nicht einmal, denn diese Leute nehmen es mit dem Gesetze gar nicht so genau), das heißt, aus Christo einen Sündendiener machen.
Nun, meine Freunde, ich habe es Euch gesagt und wir wissen es jetzt, womit wir es zu tun haben. Wir wissen es, wie unser Herz und unser ganzer Mensch von Natur aussieht und was in ihm wohnt. Wenn ich nun vor Euch hintreten und Euch sagen würde: das und das sind Eure Sünden, das und das müsst Ihr ablegen, das und das habt Ihr zu unterlassen, das und das müsst Ihr tun, was würde es Euch helfen? Antwort: nichts. Einige würden es sich wohl sagen lassen und allenfalls gestehen, das ist Alles sehr wahr, was er da sagt; aber sie würden hingehen und morgen tun, wie sie gestern getan haben. Andere würden sagen, das ist zu streng, der fordert zu viel! und sie hätten ganz Recht; denn was kann man von einem armen, totkranken und ganz ohnmächtigen Sünder fordern? Noch Andere würden es vielleicht versuchen, dies zu tun und jenes zu lassen; aber was würden sie (wenn anders sie sich nicht selbst schmeicheln und lobhudeln), was würden sie für Entdeckung machen? Antwort: dass es nicht geht, dass es, je mehr man versucht, desto schlimmer wird, dass alle Tage neue Sünden hinzu kommen. Wer das nicht glauben will der probiere doch einmal nur, das erste Gebot aus eigener Vernunft und Kraft zu halten. Wir wollen einmal sehen, wie weit er kommen wird. Seht, so misslich sähe es aus, wenn ich Euch das Gesetz nur zu dem Zwecke predigte, dass Ihr Euch aus dem Gesetze nun auf eigene Hand bessern sollt. Nein, meine Freunde, aus dem Gesetz soll Erkenntnis der Sünde, also nicht auf der speziellen Begehrungs- und Unterlassungssünden, sondern vor Allem Erkenntnis unseres durch und durch verderbten Herzens und Wesens kommen. Darum habe ich Euch die Versündigungen und Übertretungen gegen jedes einzelne Gebot Gottes vorgehalten, nicht dass wir bei diesen Ausbrüchen stehen bleiben, sondern dass wir aus ihnen sehen und erkennen lernen, wie unser ganzes Wesen und unser ganzes Herz ist, und was Alles in ihm wohnt. Kurz, darum predige ich das Gesetz, damit Ihr Eure Sünde, Euer Verderben, Eure gänzliche Ohnmacht und Untüchtigkeit zum Guten sehen und erkennen und fühlen, damit Ihr es verstehen lernt, dass durch des Gesetzes Werke kein Fleisch vor Gott gerecht wird; damit Ihr mit Paulus beten und seufzen und schreien lernt: ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Tode dieses Leibes! damit Ihr zu Christo kommt.
Wenn die Predigt des Gesetzes nun solches in Euch gewirkt hat; wenn Ihr Euer Verderben, Eure Ohnmacht und Eure gänzliche Untüchtigkeit so recht gefühlt habt; wenn Ihr es erst so recht gründlich erkennt, dass alle Belehrung und alle Besserung nur Flickwerk, nur Lüge und Heuchelei ist, wenn nicht das ganze Herz, der ganze inwendige Mensch anders, wenn er nicht umgewandelt, wenn er nicht neu wird, seht, dann werdet Ihr auch verstehen die Antwort auf die Frage: wie komme ich los von der in mir wohnenden Sünde? Also: wie komme ich los von der Sünde? Nun, doch wahrhaftig nicht indem ich das alte Kleid mit einem neuen Lappen flicke; indem ich an dem ganz verfaulten Baume allerhand hübsche Früchte anbinde, wie man es etwa beim Weihnachtsbaume tut; oder indem ich den Moder und Graus in der Totengruft meines Herzens recht hübsch anmale und übertünche; oder indem ich das Kaufhaus und die Mördergrube meines Herzens von außen so schmücke, dass alle Welt es für ein Bethaus hält. Nein, nein, nichts von Allem dem; das ist vor dem Herrn ein Gräuel. Aber das wollten die Pharisäer zu Jesu Zeit, und das wollen die Leute, die nicht von ihrem verderbten Herzen hören wollen, die heutigen Pharisäer noch. Ihr wollt das nicht; nicht wahr, meine Freunde? Nun, was tun wir denn, dass wir selig werden? Wie kommen wir los von der Sünde? Nicht anders, gar nicht anders, als dass Ihr von Neuem, ganz von Neuem geboren werdet; gar nicht anders, als dass Ihr umkehrt und werdet wie die Kinder. Es geht nun einmal nicht anders, denn unser ganzer alter Mensch, vom Kopfe bis zum Fuße, von innen und außen, taugt nichts, gar nichts. Nichts Gutes ist an ihm. - Aber wie ist denn das möglich, dass man von Neuem geboren werden kann? Ja, es muss schon möglich sein, denn der Herr sagt es. Er sagt nicht, bessert Euch, bessert Euch; nein, Er sagt, Ihr müsst von Neuem geboren, Ihr müsst Kinder werden. Es ist nichts anderes zu machen: wir müssen unser ganzes, altes Wesen, unser ganzes vergangenes Leben wegwerfen, etwa wie Paulus (und Ihr wisst, Paulus hatte sich sehr viele Verdienste, Gerechtigkeiten und gute Werke gesammelt), aber er achtete das Alles für Schaden. Also nicht ein Stück, nicht einen Flicken, nicht ein gutes Werk, gar nichts dürfen wir aus dem alten Leben zurückbehalten, auf nichts dergleichen bauen, an nichts dergleichen anknüpfen wollen, Wir müssen ganz kleine Kinder, wir müssen Schüler werden, die ganz von vorn anfangen. Und wenn wir uns zu der größten Aufklärung und Gelehrsamkeit emporgeschwungen haben, so müssen wir uns zu Jesu Kreuz zurückbuchstabieren; und wenn wir eine ganze Menge Verdienste und gute Werke und Tugenden und Heiligkeiten uns gesammelt haben, so müssen wir mit Paulus das Alles für Kot achten; und wenn wir im zwanzigsten Jahre zur Erkenntnis kommen, so müssen wir sagen: ich habe zwanzig Jahre in der Sünde und ohne den Heiland gelebt; und wenn uns das im dreißigsten und vierzigsten und fünfzigsten Jahre oder gleichviel wann, passiert, so müssen wir sagen: zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahre sind vergebens gewesen, ich will ein neuer Mensch werden, ich will von Neuem geboren werden. Seht, wer das so recht von Herzen sagen und tun kann, der hat Geschmack an der Sache; das ist ein Herz ohne Falsch; dem kann geholfen werden.
Aber wie? Können wir denn selbst machen, dass wir von Neuem geboren werden? Können wir uns denn selbst umschaffen und umwandeln? Ich habe es schon so oft versucht, so zu sein und so zu sein; ich habe so oft versucht, ein anderes Wesen anzunehmen; ich habe schon so oft probiert, mein Herz zu gewissen Gesinnungen, zum Glauben, zur Liebe, zur Sanftmut und Demut zu zwingen, aber es ist mir immer nicht gelungen, ich bin doch immer der Alte geblieben. Ich möchte aber doch so gern ein ganz neuer Mensch werden; wie mache ich es nun? Ach, dass Ihr mir doch Alle so kommen möchtet! Ich versichere Euch, dass es für den Seelsorger kein angenehmeres Geschäft gibt, als auf solche bange Sorgen des Herzens zu antworten.
Aber was werde ich Euch antworten? Glaubt Ihr, ich werde Euch nun eine lange Moral-Predigt halten und anfangen, Euch nun zu strafen und zu richten? Dann wäre ich Christi Diener nicht; denn Christus hat keinem armen Sünder eine unbarmherzige Moral-Predigt gehalten. Nein, meine Lieben, kommt und fragt nur erst als arme Sünder: wie mache ich es? Und derselbe Johannes, der einen Tag vorher die Leute noch ihr Otterngezüchte und Heuchler! nannte, derselbe Johannes zeigt Euch mit seinem Finger auf das Lamm Gottes, welches der Welt Sünde trägt. Und dieses Lamm Gottes, Jesus, spricht zu Euch: weine nicht, sei getrost, mein Sohn, meine Tochter!
Ja, nun merken wir es, zu Christo müssen wir kommen; der kann es machen. Das wird es nun am Ende auch wohl gewesen sein, warum der liebe David nicht sagte: ich habe mir vorgenommen reines Herzens zu werden; ich habe den festen Entschluss gefasst, ich will mich von nun an moralisch bessern und selbst veredeln; warum er nicht so, sondern so sagte: Herr! schaffe Du in mir ein reines Herz, und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Also das ist es: wir können uns nicht besser machen, wir müssen zu Christo kommen, wir müssen Ihn darum bitten.
Nun gut, wir wollen es tun, wir wollen es glauben. Wir sind wohl auch geneigt, unser ganzes, vergangenes Leben und Wesen wegzuwerfen, wenn wir dafür nur ein neues Herz bekommen und solche Menschen werden, an denen Gott ein Wohlgefallen hat. Aber geht es denn auch mit dem Wegwerfen so leicht? Sollte sich denn wirklich auch gar kein einziges gute Werkchen, kein Verdienstchen, keine einzige Würdigkeit aus früherer Zeit noch an uns vorfinden? Sollten wir denn wirklich gar nichts Liebenswürdiges an uns haben, gar nichts, woran Gott ein Wohlgefallen haben könnte? Diese Gedanken kommen mir immer in die Quere, wenn ich Alles wegwerfen und Christum ergreifen will. Und wenn ich mit ihnen auch noch fertig werde, da ruft es wieder von der anderen Seite: hast du nicht so und so lange gesündigt? Ja, mir wird ganz angst und bange, wenn ich an Alles das zurückdenke, was ich so mein Leben lang gegen Gottes Gebote in Gedanken, Worten und Werken gesündigt habe. Ist das so mit Einem Male weggenommen, vergeben und vergessen? Ich habe so oft schon bei mir gedacht: ach, wenn ich doch wirklich von Neuem geboren, wenn ich doch wirklich noch einmal Kind werden und von vorn anfangen könnte! Aber so wie es nun ist, stehen mir die vergangenen Jahre drohend, schreckend, strafend dazwischen. Es hilft mir nichts. Ich kann ja das Frühere nicht gut machen, ich kann es nicht ungeschehen machen. Es muss also nun wohl beim Alten bleiben. Ich will sehen, was ich tun kann. Wird Gott mir gnädig sein, oder nicht? Ich weiß es nicht. Werd' ich einmal selig, oder nicht? Ich weiß es nicht. Das macht mir Angst! Gewiss, gewiss gehen manche Seelen in dieser Angst und Höllenqual, in diesem Zweifel und Unglauben ihr Leben lang hin. Und daran ist die falsche Lehre schuld, die da immer ruft: bessert euch, bessert euch, seid erst so und so, dann wird Gott euch gnädig sein, dann wird er euch euere Sünden vergeben! Die falsche Lehre, die den Seelen eine Seligkeit vormalt, die Millionen Meilen weit entfernt ist, die sie sich selbst verdienen und erwerben sollen, ich warne Euch im Namen Gottes vor solchem Lügen-Gerede, ich bitte Euch um Euren wahren Heiles willen, glaubt solchen Lügen nicht. Kommt zu Christo, lest das Evangelium, welches in jedem Augenblicke froh, frei, selig macht Alle, die daran glauben. Seht, und aus diesem Evangelium und in Christi Namen sage ich Euch: Ihr könnt noch in diesem Augenblicke die ganze Last Eurer Sünden los werden. Heute, heute noch wird das ganze alte Leben Euch genommen, so dass auch nichts, nichts nachbleibt, was Euch verklagen, was Euch verdammen, was Euch Unruhe machen kann. Das ganze alte Leben, es ist fort, es ist vergeben, es ist vergessen, und wenn Du siebzig, achtzig, neunzig Jahre in der Sünde gelebt hättest, wenn Du es nur los werden willst und wenn Du Christum als Deine Gerechtigkeit ergreifst. Oder glaubest Du, dass der wahrhaftige Gott und das ewige Leben umsonst ein Kind und ein Knabe und ein Jüngling und ein Mann, und heilig und sündenlos bis zu seiner letzten Stunde gewesen? Was heißt denn das: Christus hat für Dich und statt Deiner gelebt und gelitten? Das heißt es: das Christus für Dein ganzes vergangenes Leben, für alle Deine Sünden in Gedanken, Worten und Werken genug getan. Das heißt es: dass Christi Leben an die Stelle Deines Lebens tritt; dass Gott nicht auf Dein vergangenes sündliches Leben, sondern auf Christi heiliges Leben sieht, welches Du Dir dankbar von Ihm schenken lässt und glücklich bist, dass Du nun kein eigenes Leben und kein eigenes Verdienst und kein eigenes Werk mehr hast.
Siehst Du, darum musst Du alle Tage wegwerfen, was Dein ist, dann schenkt Dir Christus, was Sein ist. Nun können wir über unser vergangenes Leben ruhig sein; nun sind wir in Christo. Und ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu geworden. Nun bekommen wir heute von ihm ein neues Herz, nun fangen wir von vorne an, als neu geborene Kinder; nun wollen wir auch ganz anders denken und tun und leben. Sehr wohl! Aber wie wird es um ein Jahr sein? Werden wir da nicht wieder über hundert und tausend Sünden und über unsere Sünde zu klagen haben? Wird da das verbrachte Jahr nicht wieder wie eine Scheidewand zwischen uns und Gott stehen? Wird es nicht am Ende so jeden Tag bis zum Tode fortgehen?
Ja, ja, so wird es bis zum Tode fortgehen. Und daran könnt Ihr eben merken, dass wir es nicht bloß mit Sünden, sondern dass wir es mit der Sünde, mit einem durch und durch verderbten Herzen zu tun haben, daran, dass wir sündigen werden bis zum Tode. Seht, und darum werdet Ihr Christum und sein Verdienst eben bis zum letzten Atemzuge im Tode nötig haben. Darum ist er auch für uns gestorben, damit wir von unserer Geburt bis zum Tode einen Stellvertreter, einen Bürgen, eine Gerechtigkeit vor Gott hätten. Denn eine andere Gerechtigkeit haben die Sünder vor Gott nicht, als die, die Er uns in seinem Sohne schenkt. Ohne dieses hochzeitliche Kleid wird bekanntermaßen Jeder aus dem Hochzeitssaale hinausgeworfen.
Ihr merkt nun also wohl auch, dass die Bitte, Herr schaffe Du in mir ein reines Herz! alle Tage, bis in den Tod, fortgesetzt werden muss, dass wir also den alten Adam in täglicher Reue und Buße ersäufen und täglich als neue Menschen mit Christo auferstehen müssen. Von dem reinen Herzen und von dem neuen Menschen, den Christus in Euch schafft, werdet Ihr selbst freilich wenig zu sehen bekommen. Und das ist recht gut, damit Ihr Euch nicht überhebt und glaubt, es sei Euer Wert und Verdienst. Darum lässt der Herr zur Zeit seine Gläubigen nichts als Sünden und Sünde an sich sehen. Es ist genug, dass diese Euch vergeben sind und Ihr an Christo eine bessere Gerechtigkeit habt als an Euren Verdiensten und Heiligkeiten. Aber die Welt wird manche Veränderungen an Euch wahrnehmen, und sie wird Euch für diese Eure Belehrung ebenso danken, wie sie Christo dankte für seine Gerechtigkeit. Und das wird so fortgehen bis zuletzt. Denn unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, unser Leben, sich offenbaren wird, dann werden wir auch offenbar werden in Ihm. Nun, zu diesem neuen Leben verhelfe Euch der lebendige Gott und Heiland selber! Amen.