Huhn, August Ferdinand - Predigten über die Heiligen Zehn Gebote - II. Zweite Predigt über das erste Gebot.
Herr Gott! die Furcht vor Dir ist aller Weisheit Anfang. Dich fürchten, das ist unsere Seligkeit! O so lass uns heute Alle vor Dein Angesicht treten mit heiliger, kindlicher Scheu, mit tiefer Beugung vor Deiner Majestät, Du drei Mal heiliger Gott! Siehe, wir haben uns unterwunden, zu reden von Dir, wiewohl wir Staub und Asche sind. Gib denn aus Gnaden, dass unser Reden und Denken vor Dir ein heiliges, wahres, Dir wohlgefälliges sei. Heilige Du selbst jedes Wort und jeden Gedanken. Ach, Herr, gib uns Deinen Geist, gib Gnade, dass wir aus Deinem Worte heute und immerdar lernen Dich fürchten über alle Dinge. Du weißt ja, wie das uns Not tut. Du weißt ja, wie noch so gar nicht Deine Furcht unsere Herzen regieret. Du weißt, wie wir täglich von Dir abfallen, täglich Dich durch unsere Sünden kränken, täglich in fleischliche Sicherheit, in Unglauben und Verzagtheit verfallen. O erbarme Dich über uns, Du treues Mittlerherz, und lehre uns arme Sünder, wie wir Gott fürchten sollen über alle Dinge.
Herr Jesu! sei Du mit uns in dieser Stunde. Amen.
Die Worte des Herrn im ersten Gebote haben wir letzthin hier betrachtet, versammelte Christen, doch können wir damit die Betrachtung über das erste Gebot noch nicht schließen.
Das Gebot ist so groß, so wichtig, so viel umfassend, dass wir wenigstens die Hauptstücke, die darin noch liegen und die in unserem Katechismus angeführt sind, näher in Erwägung ziehen müssen. Und so lasst uns denn heute, unter Gottes Beistande, das erste Hauptstück im ersten Gebote vor uns nehmen. Dieses handelt, wie Ihr Alle wisst, von der Furcht Gottes.
Doch lasst mich zuvor das Gebot mit unserer lutherischen Katechismus-Erklärung Euch noch ein Mal vorlesen. 2 Mos. 20,2 und 3. „Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Luthers Erklärung:
Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.
„Wir sollen Gott fürchten über alle Dinge,“ das ist das erste wesentliche Stück des ersten Gebotes, das wir in dieser Stunde näher betrachten.
Wir sollen Gott fürchten über alle Dinge. Haben wir uns schon einmal Rechenschaft darüber gegeben, was dies eigentlich heißt. Seht, ich will es Euch mit wenig Worten sagen. Gott über alle Dinge fürchten, das heißt nicht nur, Gott mehr fürchten, als alle Dinge, sondern es heißt (das merkt wohl): kein Ding, wie furchtbar es auch sei, nichts, auch gar nichts fürchten, nur Gott allein fürchten. An dieser Erklärung haben wir genug. Behaltet sie nur recht und denkt alle Tage ernstlich darüber nach und Ihr werdet bald inne werden, wie es um das Halten des ersten Gebotes, wie es um Eure Gottesfurcht steht. Doch damit nun auch ein Jeder behalte, verstehe, erkenne und sich selbst prüfe, so lasst uns zusehen, warum wir kein Ding außer Gott, warum wir Gott über alle Dinge fürchten sollen.
1.
Nach dem, was man in unserer Zeit so gewöhnlich von Gott und Gottesfurcht denkt, da mag es wohl sehr auffallend und befremdend klingen, wenn ich sage. Gott ist wirklich das am meisten zu fürchtende Wesen, es gibt kein Ding, das mehr gefürchtet werden soll. Das unbekehrte Menschenherz, welches den wahren, lebendigen Gott nicht erkennt, das denkt und stellt sich seinen Gott vor, wie es ihm gerade recht und bequem ist. „Das Ernste, das Strenge, das zu fürchtende in Gott, das ist einem unbequem; da macht man denn in sinnlicher Weichlichkeit seinen eigenen Gott und beschwichtigt mit dem Gedanken an eine weichherzige Väterlichkeit Gottes sein Gewissen.“ Oder man verwechselt, wie die Heiden tun, die Dinge und Geschöpfe mit ihrem Urheber und Schöpfer. Nach solchem selbst gemachten Begriffe von Gott also, da mag einen das wohl sehr befremden, wenn es heißt: Gott selbst ist das über alle Dinge zu fürchtende Wesen. Dem bekehrten Menschen aber, der sich keinen Gott nach seiner Einbildung und Bequemlichkeit macht, sondern nur nach Erkenntnis des wahren Gottes trachtet, nur aus dem Worte Gottes seine Vorstellungen und Begriffe von Gottes Wesen nimmt, dem wird unsere Antwort wohl gleich einleuchten. Denn so heißt es ja im Worte Gottes: „Alle Welt fürchte den Herrn, und vor Ihm scheue sich Alles, was auf dem Erdboden wohnt. Denn so wer spricht, so geschieht es, und so er gebeut, so steht es da.“ Und so spricht der Heiland: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, (also vor den Furchtbarsten auf Erden), die Seele aber nicht töten können; fürchtet euch aber vor dem, der Leib und Seele verderben mag in die Hölle.“ „Unser Gott ist ein verzehrend Feuer. Und es ist schrecklich in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Solches und ähnliches steht von Gott überall in der heiligen Schrift. Sollte ich Euch nun die Notwendigkeit der Furcht vor Gott erst noch beweisen? Nein, die Wahrheit des göttlichen Wortes braucht nicht bewiesen zu werden; Ihr habet den Beweis in Euch. Merkt doch nur auf die eigenen Gedanken, die sich unter einander verklagen und entschuldigen; nur zum näheren Verständnisse des göttlichen Wortes möchte ich Euch verhelfen.
Es gibt viele furchtbare Dinge, Dinge, vor denen dem Menschen schon bei dem Gedanken an sie graut. Denkt Euch z. B. lebendig vom Feuer verzehrt, lebendig von Wasser oder Erde verschüttet zu werden, denkt Euch hingerafft zu werden von der Pest, zermalmt zu werden vom Blitz, oder unter Mörderhand seinen Geist aufgeben, oder von einer lähmenden Krankheit auf das Siechbett hingestreckt zu werden, einen Sinn nach dem anderen verlieren und doch nicht sterben zu können, und was des Furchtbaren es noch mehr geben kann. Nun, wer wollte es dem Menschen, dieser Kreatur aus Staub und Asche, verdenken, wenn er sich vor solchen Dingen fürchtet? Du fliehest z. B. vor der Feuerflamme. Warum? Nun, eben weil sie mich zu verzehren droht, sagst Du. Solltest Du Dich aber vor dem Herrn, Deinem Gott, nicht noch mehr fürchten? ist nicht auch er ein verzehrend Feuer? Oder sage: woher hat denn das Feuer seine brennende und verzehrende Kraft? Kann es auch brennen und verzehren, wenn Gott, der Herr, es nicht brennen und verzehren heißt? Und woher hat denn Alles, was wir furchtbar nennen, seine Furchtbarkeit? Hat es dieselbe nicht aus Ihm, dem lebendigen, allmächtigen Gott? Er winkt, er will es, und hier zermalmt und zerstört der Blitz Alles, dort muss er kraftlos vorüberziehen und darf auch dem kleinsten Würmchen nicht schaden. Er will es, und hier rafft der Würgengel hin die Kräftigsten und Gesundesten, die sicher waren in ihrer Gesundheit, und dort darf er das schwächste Gefäß nicht berühren. Gott will es, und es muss Feuer und Wind und Meer gehorchen, es muss der Tod gehorchen und seine Beute wiedergeben, es muss die Hölle gehorchen und ihren Raub fahren lassen. Begreifen wir es nun, dass alle Dinge, wie furchtbar sie auch an sich scheinen, nicht furchtbar sind durch sich, sondern dass sie ihre ganze Furchtbarkeit nur haben aus Ihm, dem lebendigen Gott? Verstehen wir es nun, dass die Furchtbarkeit aller furchtbaren Dinge, die nur genannt werden mögen, in Gott und ganz allein in Gott konzentriert ist? Merken wir nun, was die Schrift meint, wenn sie sagt: es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen? Ja, nur in Ihm, dem Herrn unserm Gott, und nicht in irgend einem Dinge, nicht in irgend einer Kreatur, sondern nur in Ihm, dem lebendigen, allmächtigen Gott allein: da lasst uns suchen Alles, was wir wirklich zu fürchten haben; den, den lasst Euer Schrecken sein!
Seht, das verlangt das erste Gebot zunächst, wenn es uns befiehlt, dass wir Gott fürchten sollen über alle Dinge. Wer ihn nicht so fürchtet, der kennt und hat den wahrhaftigen Gott noch gar nicht. Und nun sagt Euch selbst, meine Freunde, wie es mit Eurer Gottesfurcht in dieser Beziehung steht? Wenn ihr irgend etwas Furchtbares seht oder hört, oder wenn es Euch selbst begegnet, zuckt Euch dann auch gleich der Gedanke an Den durch die Seele, der Leib und Seele verderben kann in die Hölle? ist Euer erstes Gefühl, Euer erster Seufzer, Euer erstes Wort dabei, ist es ein Seufzer und Wort zu Ihm, dem lebendigen und allmächtigen Gott? Beugt Ihr Euch auf der Stelle vor seiner Allmacht und Majestät, und erkennt Ihr seine furchtbare Rechte, die strafen und niederschlagen und töten kann in jedem Augenblicke? Oder ist es nicht so, dass man sich in seiner Furcht vor diesem und jenem, was man sieht und hört und erfährt, nur zu oft gar nicht zu fassen weiß? Der ganze Sinn starrt auf das, was sich ereignet, hin, als ob das der zu fürchtende Gott wäre; oder man sucht durch dies und das, das Furchtbare zu mildern, als ob man damit die Quelle der Furchtbarkeit verstopfen könnte; oder man sucht sich mit dem und dem zu helfen, als ob man damit dem entgehen könnte, von dem doch Alles kommt, Glück und Unglück, Reichtum und Armut, Leben und Tod. Kurz, man denkt an alles andere eher, man sinnt auf alle möglichen Ursachen, man sucht sich auf alle Weise den natürlichen Zusammenhang zu erklären, aber das Furchtbare allein auf Gott beziehen, auf der Stelle sich vor Ihm demütigen, seine Allmacht erkennen und sich vor Ihm scheuen, das will, das mag man nicht. Im Gegenteil glauben gar Manche noch Wunder, wie klug und weise sie seien, wenn sie bei solchen furchtbaren Vorkommenheiten den lebendigen Gott nicht nötig haben. Sie sind gleich mit ihrer Weisheit fertig, sie wissen Alles gleich aus natürlichen Ursachen herzuleiten. Aber bei aller ihrer Weisheit zittert und bebt doch ihr Herz, wenn ihnen selbst einmal etwas Furchtbares begegnet. Seht, das ist die Folge, wenn der Mensch den lebendigen Gott nicht über alle Dinge fürchtet, dass er nämlich alles Andere, er mag wollen oder nicht, fürchten muss, dass sein Herz täglich zerrissen wird von Furcht der Kreaturen. Was wollet Ihr nun lieber: alle Tage etwas Anderes fürchten und von dieser Furcht Euer Leben lang gequält werden und zuletzt bei aller Furcht und Sorge doch dem Schrecklichsten in die Hände fallen? oder wollet Ihr alle Tage nur den Einen fürchten und in dieser Furcht Friede und Freude haben und zulegt von aller Not befreiet sein? Wollet Ihr das Letztere, wohlan, so reißt Euch los von den falschen Götzen: gebt ihn auf, den frechen Unglauben und die heidnische Blindheit der Welt, gebt sie auf, jene sinnliche Weichlichkeit, die sich ihren Gott nach ihrer Bequemlichkeit schafft und das böse Gewissen damit beschwichtigt; dringt ein in die wahre Erkenntnis unseres Gottes, des Allmächtigen, der ein verzehrend Feuer ist und Leib und Seele verderben kann in die Hölle. Lernt es glauben und erkennen, was in Gott wahrhaftig ist, dann werdet Ihr auch lernen, Ihn fürchten über alle Dinge und in dieser Furcht froh und frei werden von aller anderen Furcht. Darum, meine Lieben, sage ich:
II.
Fürchte Gott über alle Dinge und Du brauchst kein Ding, nichts, auch gar nichts zu fürchten. Diese Wahrheit werdet Ihr aus dem oben Gesagten begreifen. Hast Du es nämlich erkannt, mein Christ, wie alles Furchtbare, sei es in Menschenhand oder in irgend einem Dinge, sein Furchtbares nur aus dem lebendigen Gotte hat, und hast Du Ihn den lebendigen Gott, für Dich: was kann Dir schaden, wer kann wider Dich sein, vor wem sollte Dir grauen, auch wenn Dir der Leib getötet würde? Sieh einmal auf Deinen Heiland, da er vor Pilatus stand und dieser drohend rief: Weißt du nicht das ich Macht habe, dich zu töten, und Macht habe, dich loszugeben? Was antwortete Jesus da? „Du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht von Oben gegeben wäre.“ Ist aber nun irgend einem Menschen oder Dinge Macht gegeben über Dich von Oben, von dem Gott, den Du für Dich hast, wovor willst Du Dich dann fürchten? Müssen Dir da nicht alle Dinge, ja selbst Tod und Teufel, zum Besten dienen? O selig, wer Gott über alle Dinge fürchtet! Er kann mit seinem Heilande vor seinen Henkern stehen und zagt nicht; er kann mit Stephanus einen Steinregen über sich kommen sehen und sieht dabei doch nur den Himmel offen; er kann mit einem Paulus durch gute und böse Gerüchte, durch Verfolgung und Lästerung gehen und sich doch dabei in den Herrn freuen; er braucht weder Hunger noch Blöße, weder Fährlichkeit noch Schwert, noch sonst irgend ein Ding zu fürchten; er fürchtet den lebendigen Gott und darum ist er froh und frei. Doch wer Ihn, den Herrn, nicht fürchtet, der hat Tausend Dinge zu fürchten. Heute quält ihn der Gedanke an seine Armut, an seinen Mangel; morgen fürchtet er sich vor Krankheit; dann wieder fürchtet er, dass er seine Gönner verlieren möchte, und so bald das, bald jenes; sein Leben ist ein jämmerlich und peinlich Ding, er schleppt daran, als an einer Last. Wie kläglich hören wir darum auch heutzutage die seufzen und weinen, welche sich vor der Welt fürchten. Kommt eine schlimme Nachricht, so erschrecken sie; tritt ungünstiges Wetter ein, so quälen sie sich damit ab; kommt die Nacht, so schaffen sie sich Gespenster, um sich damit zu ängstigen; verlieren sie Geld, so schreien sie ihrem Gotte nach, und er rollt doch davon; sterben ihnen die Versorger, so gebärden sie sich, als wenn Gott im Himmel keine Augen und keine Ohren und kein Vaterherz mehr hätte. Dabei aber fahren sie fort, in den Tag hinein zu leben, und fragen höchstens insofern nach Gott, als sie sich über seine Ungerechtigkeit beklagen, als wenn sie ihm etwas zuvor gegeben hätten, das er ihnen wieder vergelten müsse. Aber nach seinen Geboten sehen sie sich nicht um; weil sie Gott nicht fürchten, so achten sie nicht auf seine Gebote und haben auch nichts von dem Segen, den sie verheißen. O, meine Lieben! wendet Eure Herzen von solcher Gottlosigkeit der Welt, die nur Furcht und Qual dem Menschen bringt. Denkt täglich daran: nur wer Gott über alle Dinge fürchtet, braucht kein Ding zu fürchten.
III.
Und nun drittens: fürchte Gott über alle Dinge, sonst bist Du ein Übertreter aller seiner Gebote. Woraus kam die erste Übertretung, die erste Sünde? Daraus kam sie, dass die Furcht vor Gott und vor dem, was Er gedroht, aus dem Herzen des Menschen schwand. Die Furcht vor Gott, die wusste der Satan dem Menschen zuerst heraus zu reißen. Und das ist noch heute die trübe Quelle aller Sünden und Übertretung. Wo ist die heilige Scheu, die bei dem Namen Gottes und Jesu schon das Herz erfüllen sollte? Verkehrt ist sie zum leichtsinnigsten und schnödesten Missbrauche des Namens Gottes bei Hunderten und Hunderten, ja sogar zum Fluch und zum Meineide. Wo ist die Ehrfurcht vor Gottes Wort und seinem heiligen Evangelium? Verkehrt ist sie in freche Verachtung bei Hunderten. Wo ist die Heiligung des Feiertages? Verkehrt ist der Tag des Herrn zum Sündentage bei Hunderten. Und jene Ehrfurcht, die der Herr gegen Vater und Mutter gebietet? Man klagt, dass sie jetzt seltener geworden. Bedenken diejenigen Eltern aber auch, welche darüber klagen, was denn die Kinder an ihnen sehen? Sehen sie nicht so oft nur Laune und Willkür, Wollust und frechen Unglauben und unverantwortliche Schwäche und sinnliche Weichlichkeit? Ziehen und strafen diese Eltern denn auch im Namen Gottes? gehen sie auch mit ihren Kindern zusammen ins Gotteshaus? beten sie denn auch zu Hause mit ihnen? Wo soll der Gehorsam gegen Vater und Mutter herkommen, wenn die Kinder an Vater und Mutter keine Gottesfurcht sehen? oder wenn das, was der eine Teil aufbaut, der andere Teil durch seine Gottlosigkeit, durch seine Kirchenverachtung und durch sein böses Beispiel niederreißt? Und jenes Wort des Joseph: „Wie sollt' ich ein solch Übel tun und wider den Herrn, meinen Gott, sündigen!“ dringt es heute noch lebenswarm aus jeder jugendlichen Brust hervor, wenn die Lügenbilder der Sünde und Versuchung sich ihr nahen? Ganz anders lautet oft die Rede der Jugend heutzutage: Sie meint mit manchem Erwachsenen und Alten: man könne nicht sogleich fromm werden, man müsse die süßen Früchte der Welt erst kosten. Dieses Gelüsten nach den süßen Früchten der Welt bringt denn auch gar Manche „dahin, dass sie, da sie Gott nicht fürchten, auch Vater und Mutter verachten, das Gotteshaus nicht betreten, „das Wort Gottes für veraltet und unnütz halten, sich gegen Vorgesetzte und Obrigkeit auflehnen und so mit Gewalt Gottes Strafgericht vom Himmel herunterziehen.“
Denn ohne Gottesfurcht ist kein wahrer Friede im Lande, kein wahrer Segen im Hause. Wo die Gottesfurcht nicht ist, da wird kein Wort des Herrn gehalten, da wird jedes Gebot übertreten. Seht nun, warum unser Katechismus-Vater, Luther, bei jedem Gebote zuerst sagt: wir sollen Gott fürchten.
Halten wir uns also, meine Freunde, ja nicht für Täter des Wortes, ehe wir uns darüber Rechenschaft gegeben, ob wir denn Gott auch wirklich über alle Dinge fürchten, ja, ob wir einmal auch recht erkennen, was das heißt. Denn wahrlich, damit ist Gottes Gebot noch nicht erfüllt, dass wir dieses tun und jenes lassen. Frage Dich doch einmal, mein Christ, aus welcher Rücksicht, mit welcher Gesinnung und Absicht tust Du dies und lässt Du jenes? Du wirst keinen töten, denn das ist ein Verbrechen vor aller Welt; alle Welt verdammet Dich, wenn Du solche Sünde begehest. Aber im eigenen Hause, wo Du Dich gehen lassen kannst, wie Du willst, da bei jeder Gelegenheit auffahren und zürnen, Deine Untergebenen rücksichtslos behandeln, Neid und Hass und Unversöhnlichkeit Tage, Wochen und Jahre lang mit Dir herumtragen, das tust Du ohne weiteres. Sage nun: was ist Dein Halten der Gebote, was ist Dein Christentum? Ja, Du kannst vielleicht vor der Welt die Freundlichkeit und Zuvorkommenheit, die Wohltätigkeit, die Sanftmut und Demut selbst sein, warum? weil man Dich dafür lobt. Zu Hause lässt Du Dich aber so ganz in Deiner Unfreundlichkeit und Trägheit, in Deiner Selbstsucht, in Laune und Willkür gehen; da willst Du keine Last tragen, da willst Du nichts dulden, weil Du da eben vollkommene Macht und Gewalt hast und Niemand sich unterstehen darf, Dich zu tadeln. Sage: was ist es da mit Deiner Liebe? Oder Du, Du wirst Dich hüten, das Eigentum Anderer anzurühren! Du weißt, in welchen Ruf das Stehlen und Betrügen bringt, ja Du hältst es selbst für einen Gräuel. Aber am Tage des Herrn Dich Deines Geldgewinnes zu begeben, am Tage des Herrn das Hantieren und irdisches Sinnen und Trachten einzustellen, das hältst Du für überflüssig, weil eben hundert Andere es auch tun, die doch eben nicht im Rufe Sabbatschänder stehen. Oder Du möchtest Keinem einen Schimpf und Spott ins Gesicht sagen, Du fürchtest, das es Dir üble Folgen bringen könnte; aber hinter dem Rücken zu reden, zu richten, zu schmähen über Deinen Nächsten, das tust Du ohne weiteres; denn da kann Dir der Geschmähte eben nichts anhaben und hundert Andere tun es auch. Ich bitte Euch, m. Fr., geht doch einmal so nach den zehn Geboten Euer Tun und Lassen durch und sagt es Euch doch ganz aufrichtig, was Eurem Tun und Lassen eigentlich jedes Mal zum Grunde liege. „Erschrecken werden wir, wenn wir sehen, wie viel Heuchelei, wie viel Lügengeist, wie viel Eigennutz und Selbstsucht aller Art uns zum Tun und Lassen treibt, und wie wenig dagegen wahre redliche Gottesfurcht die Triebfeder unseres Denkens und Handelns ist.“ Und ihr wisst ja, was nicht daraus hervorgeht, was es auch sei - das ist Sünde; denn Gott sieht das Herz und nur das Herz an. Wollte aber jemand dennoch mit jenem Jünglinge im Evangelium sprechen: das Alles habe ich gehalten von meiner Jugend auf; wollte Jemand sich steifen auf seine Gottesfurcht, dass er sie stets im Herzen getragen, dem lege ich die Frage vor: erschrickst Du auch schon vor jedem unreinen Gedanken, vor jedem Sündenbilde, vor jeder bösen Lust, die sich in deinem Herzen regt, auch ohne dass sie Jemand kennt und ahnt und weiß? Nicht wahr? Vieles ist in Dir gewesen, manches hast Du gedacht, manches mit dir herumgetragen, was Du auch für alles in der Welt nicht einem Menschen sagen könntest. Ja, du erschrickst vielleicht schon bei dem Gedanken, wenn die und die das und das von Dir wüssten: wenn sie an jedem Tage in dein Herz gesehen, was könnten sie von Dir denken? Siehe, davor erschrickst Du, davor fürchtest Du Dich; aber vor dem heiligen, allwissenden Gott, vor dem alle Deine Gedanken bloß und entdeckt liegen, vor Ihm, der das Herz und nur das Herz ansieht, vor dem hast Du jenes Alles, was Du dem Menschen für keinen Preis sagen möchtest, doch gedacht und in Dir herumgetragen, ohne zu erschrecken, ohne Dich zu fürchten. Sage nun, wirst Du Dir noch einbilden, dass Du Dein Leben lang die Gebote gehalten und Gott über alle Dinge gefürchtet hast? Wahrlich! wer von uns aus der Wahrheit ist, der wird bei solcher Selbstprüfung mit Schrecken sagen müssen: ich bin ein Übertreter aller Gebote Gottes, ein elender Sünder bin ich, der täglich, stündlich Gott und die Furcht vor Ihm vergessen und aus den Augen gesetzt hat. Wahrlich! ich habe Ursache, Gottes ganzen Zorn zu fürchten. Aber ach! wie lange sagen wir uns das vielleicht schon? wie lange erkennen wir vielleicht schon den Mangel an Gottesfurcht in uns? Und wie lange wissen wir schon, dass Gott ein strenger, eifriger Gott ist, der die Sünde und Gottvergessenheit nicht ungestraft lassen kann?
Wie lange haben wir uns vielleicht schon herumgeschleppt mit jenem Unfrieden, mit jener Angst und Sorge der Welt, mit jener Furcht vor tausend anderen Dingen, mit jener Zerrissenheit des Herzens, mit jenen Gewissensqualen über unsere Übertretungen, wohl wissend, dass das Alles daher komme, weil wir Gott den Herrn nicht über alle Dinge fürchten!
„Und doch bleibt es immer beim Alten, doch lassen „wir uns täglich gehen, doch können wir alle Tage nur klagen und seufzen, dass wir nicht gewacht, dass wir Gott nicht beständig vor Augen gehabt, dass uns bei unserem Denken, Reden und Tun seine Furcht nicht regiert hat.“
IV.
Christen, woher nehmen wir nun, was uns Not tut? Woraus lernt das irdisch gesinnte und in seiner Sünde und Blindheit so sichere Menschenherz, woraus lernen wir mit unserem verkehrten, Gott immer nur widerstrebenden Willen Gottesfurcht? Wer lehret uns, die wir vor tausend anderen Dingen erschrecken, aber über unser eigenes sündiges Verderben und über das bodenlose Elend unseres Herzens so ruhig und sicher weggehen, als ob es damit gar nichts auf sich hätte, wer lehret uns, Gott über alle Dinge zu fürchten?
Nur ein Mittel gibt es, welches den Sünder herausreißen kann aus seiner Gottlosigkeit; ein Mittel hat Gott den Christen verordnet, aus welchem wir nehmen sollen, was uns Not tut. Wer daraus nicht lernt die Furcht vor Gott, der lernt sie aus keinem Dinge, dem ist nicht zu helfen.
Gott hat sich in seinem Sohne selbst für uns das hingegeben. Er hat Ihn, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht. Auf Ihn hat Er unsere Krankheit und Strafe gelegt. Was ist das ganze Leben des Sohnes Gottes anders, als ein Abbüßen unserer Sündenschuld? was ist das Leiden und Sterben Christi anders, als ein Tragen der ewigen Strafen unserer Sünde? Ja, an seinem lieben Sohne hat Gott der Herr es aller Welt gezeigt, dass Er ein starker, eifriger Gott ist, ein Rächer alles Bösen, der keine Sünde ungestraft lässt. An seinem lieben Sohne hat Gott es für alle Ewigkeit mit Flammenschrift offenbart, dass Er der Sünde Feind, dass Er ein schrecklicher Gott, dass Er ein verzehrendes Feuer ist. Denn an seinem lieben Sohne hat Er mit unwiderruflicher Gerechtigkeit gestraft die Sünden aller Menschen. Das war der Preis unserer Erlösung, das kostete es, um auch nur eine Menschenseele vom Verderben zu erretten! Solch ein Lösegeld musste für Dich und für mich und für uns Alle gezahlt werden; es musste, sage ich; denn Gott ist ein heiliger und gerechter Gott, und eher müssen Himmel und Erde vergehen, ehe ein Wort vergeht, das im Gesetze geschrieben steht. Eher müssen Himmel und Erde vergehen, ehe auch nur eine Sünde ungestraft und unverdammt bleibet. Gott hat die Sünde gestraft, er hat sie verdammet an seinem lieben Sohne. Begreift Ihr nun, Christen, welch ein Ernst in dem ist, den wir unseren Gott und Herrn nennen? begreift Ihr es nun, dass Gott sich nicht spotten lässt? versteht Ihr nun, was es mit der Furcht vor Gott auf sich habe? Wahrlich, wer bei dem Hinblicke auf den gekreuzigten Christum, auf den um unserer Sünde willen Gekreuzigten, wer da nicht erschrickt vor seiner Sünde, wer da nicht erbebt vor Gottes Zorn, wer da nicht lernt Gott zu fürchten über alle Dinge, der lernt es nirgends, der ist verloren, wie Israel in seiner Unbußfertigkeit und Verstocktheit bis auf den heutigen Tag verloren ist! Ach, Christen, wie „könnten wir, wenn noch ein Funken Wahrheit und Bußfertigkeit in uns ist, wie könnten wir die gekreuzigte Liebe ansehen und nicht niedersinken vor Ihm, dem drei Mal heiligen, dem schrecklichen, aber auch zugleich dem unaussprechlich barmherzigen Gott, dessen Liebe und Erbarmen kein Maß und Ziel hat? Aus Liebe und herzinnigem Erbarmen hat Er sich ja für uns in seinem Sohne gegeben; aus Liebe und Erbarmen für uns Arme, Verlorene, geschieht ja das Alles, was wir auf Gethsemane und Golgatha, was wir an dem blutigen Kreuze sehen und hören.“ Es ist kein anderes Mittel, uns zu erretten, es ist kein anderes Lösegeld. Er, Er selbst, der Heilige und Gerechte, nimmt unsere Schuld und Strafe auf sich, lässt als Menschensohn sein Leben für die Brüder. O welche Tiefe des Reichtums, beide der Gerechtigkeit und des Erbarmens Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Wer hat des Herrn Sinn erkannt und wer ist sein Ratgeber gewesen? Ach, wir können nur dies Eine sagen: sein Sinn und Rat, am Kreuze offenbart, es ist unsere Seligkeit!
Und so lasst uns denn, meine Geliebten, täglich, stündlich, niedersinken vor dem Kreuze Jesu, und da lernen das Eine, was uns Not tut: Gott zu fürchten über alle Dinge. Da, da unter dem Kreuze nur, da hört sie, auf, die Sicherheit und Gottvergessenheit, da hört sie auf, die heuchlerische Frömmigkeit, der Augen- und Lippendienst. Dort, dort unter dem Kreuze nur, da hört sie auf, die selbstgeschaffene Qual der Kreaturenfurcht, da hört sie auf, die knechtische Furcht vor Gott, die als ein unerträgliches Joch auf dem Herzen lastet. Unter dem Kreuze nur, da lernen wir die kindliche, die christliche Gottesfurcht, die froh und frei, die hier schon selig macht, die einzig und allein nur fürchtet, die Liebe Ihres Gottes zu betrüben, die Gnade ihres Herrn zu verlieren. Da nur lernen wir wachen und beten und vor Gottes Augen wandeln. O so lasst uns denn, Geliebte, täglich zum Kreuze Christi kommen, wie wir sind. Dort wird uns immer die Lebensquelle fließen; dort werden uns die Augen über uns selbst und über das Wesen unseres Herrn und Gottes immer aufgehen; dort werden wir aber auch empfangen Gnade um Gnade, und in der Tat und in der Wahrheit lernen: nichts, auch gar nichts, sondern nur Gott allein fürchten über alle Dinge. Dazu gebe denn der Herr selbst Euch Allen seinen Segen. Amen.