Hofacker, Wilhelm - Am Ostermontag.
Text: Joh. 20,11-18.
Maria aber stand vor dem Grabe und weinte draußen. Als sie nun weinte, guckte sie in das Grab, und sieht zween Engel in weißen Kleidern sitzen, einen zu den Häupten, und den andern zu den Füßen, da sie den Leichnam Jesu hingelegt hatten. Und dieselbigen sprachen zu ihr: Weib, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Und als sie das sagte, wandte sie sich zurück, und sieht Jesum stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Weib, was weinst du? wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo hast du ihn hingelegt? so will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm: Rabbuni! das heißt Meister. Spricht Jesus zu ihr: rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater; gehe aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Maria Magdalena kommt und verkündigt den Jüngern: ich habe den HErrn gesehen, und solches hat er zu mir gesagt.
Einer der freudenreichsten Tage, den je die Sonne über der Erde heraufgeführt hatte, war der Welt mit jenem Ostermorgen angebrochen, an welchem Christus als der Fürst des Lebens die Riegel des Todes zerbrach, und mit Himmelsglorie umgeben dort in Josephs Garten aus der finstern Gruft hervortrat. Luther hat wohl recht, wenn er in jenem mächtigen Siegeslied alle Welt zum freudigen Lob und Preis dieses Wunders der Herrlichkeit Gottes auffordert, indem er den Freudenpsalm anstimmt:
Christ lag in Todesbanden,
Für unsere Sünd' gegeben;
Der ist wieder erstanden,
Und hat uns bracht das Leben,
Des wir sollen fröhlich sein,
Gott loben, und dankbar sein,
Und singen: Halleluja, Halleluja.
Wunderbarer Weise jedoch wurde dieser allgemeine Freudentag für die ganze Welt gerade von denjenigen, die er am nächsten anging, mit Wehmut, mit Trauer und mit Tränen begrüßt. Maria aber stand vor dem Grabe und weinte draußen, erzählt unsere heutige Textgeschichte, und wie es ihr erging, so erging es allen Jüngern und Jüngerinnen, so lange die Schuppen noch nicht von ihren Augen gefallen, so lange ihr Blick noch nicht geschärft worden war, hindurchzuschauen in das Geheimnis seines Todes und seiner Auferstehung. Noch war ihr Haupt in den Trauerflor der Trostlosigkeit gehüllt, noch war ihnen mit dem HErrn ein ganzer Himmel voll Seligkeit in das nächtliche Grab der Hoffnungslosigkeit hinabgesunken, noch waren sie der Meinung, den herbsten und bittersten Verlust betrauern zu müssen, sie glaubten Christum und mit Ihm Alles verloren zu haben.
Meine Lieben! das, was die Jünger erfuhren in jenen Tagen der Angst und der Schrecken, ja selber noch am Ostermorgen in Josephs Garten, das hat sich seither in der Christenheit auf mannigfache Weise wiederholt. Ja, wenn man den großen Garten der Kirche Christi durchwandelt, so findet man allenthalben eben solche geknickte Pflanzen, wie wir sie dort am Grabe Christi erblicken. Auch ein Freudentag, wie der gestrige, kann sie nicht aus ihrer innerlichen Trauer und Wehmut reißen; ja, vielleicht haben sie dem traurigsten aller Gedanken sich hingegeben, als hätten sie den HErrn, den ihre Seele lieb hatte, selber verloren, und sie wissen nicht, wie sie Ihn wieder finden sollen. Für solche Seelen ist nun unser Evangelium gerade, wie eigens gemacht; denn es zeigt uns die Treue dessen, der gerade die Blöden und Verzagten am liebsten aufsucht, der die Verschüchterten mit der zartesten Hand anfasst, das glimmende Tocht nicht auslöscht, das zerstoßene Rohr nicht zerbricht, sondern die Schwachen zu lebendiger Kraft und Freude zurückführt.
So wird uns Maria ein lehrreiches Bild derjenigen Seelen, die da glauben den HErrn verloren zu haben, aber so glücklich sind, Ihn wieder zu finden.
I.
1) In Tränen gebadet sehen wir heute Maria Magdalena am Grabe des HErrn stehen, dem bittersten Schmerz-Gefühl überlassen. Kein Trost, kein Lichtstrahl ist in ihrem Innern; nur Tränen entquellen ihren Augen, womit sie den großen Toten beweint, der ihre Hoffnung, ihr Friede, ihr Ein und Alles gewesen war. Es ist nicht das erste Mal, dass uns die evangelische Geschichte der Maria Magdalena tränenbenetztes Antlitz zeigt. Bereits geraume Zeit zuvor begegnet sie uns einmal in Simons, des Pharisäers, Haus in der traurigsten Gemüts-Verfassung (Luk. 7,37 ff.). Ihr Gewissen war damals aufgewacht, ihre Schuld wurde ihr durch ein innerliches Gericht vor die Augen gerückt, die Schwere und die Menge ihrer Sünden wurden ihr aufgedeckt, ihre Seele befindet sich am Rande der Verzweiflung. Da wirft sie sich bei jenem Gastmahl in stummer Reue dem HErrn zu Füßen, benetzt sie mit den Tränen einer aufrichtigen und heißen Buße, und sucht Trost und Hilfe bei dem, der der letzte Hort ihrer Hoffnung ist. Sie flehte nicht umsonst; „sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin im Frieden,“ das war das Trost-Wort, das ihr aus dem Munde Christi zu Teil wurde. Der Sturm ihres angefochtenen Gemüts legte sich, der Friede Gottes kehrte ein, die Vergebung ihrer Sünden wurde ihr zur Gewissheit, und zum Dank für die an ihr bewiesene Gnade und Barmherzigkeit verpfändete sie ihre Seele an den, der sie vom Tode gerettet hatte. Von nun an gehörte sie Ihm an ganz und ungeteilt, sie folgte Ihm, sie diente Ihm, und als das seligste auf Erden erschien ihr nun, ihr Leben zu verzehren in der Anhänglichkeit an Ihn, in treuem, beständigem Glauben an Ihn. Aber wehe! was hatte sich mit dem HErrn, den ihre Seele lieb hatte, zugetragen? Unerwartet hatte dieser Mann ein Ende genommen, und zwar ein Ende mit Schrecken. Er war als ein von Gott und Menschen Verlassener der Arglist seiner Feinde erlegen, und keine Hand war aus den Wolken gefahren, um seine Ehre zu retten, und seine Sache zu verteidigen. Er, auf dem allein ihr Glaube und Hoffnung ruhte, lag unter den Toten. Kein Wunder, dass das Gebäude ihres Glückes, ihres Friedens, ihrer Hoffnung zertrümmert lag; denn der trostvolle Glaube an die Vergebung ihrer Sünden, die Zuversicht, dass sie bei Gott in Gnade stehe, hatte nur auf der Person und auf dem Wort dieses Mannes beruht. Mit diesem Manne musste sie stehen und fallen. Und darum hatte sich ihrer Seele Verzagtheit bemächtigt, sie musste sich ja zurufen: durch den Tod dieses Mannes bist du die trostloseste, die elendeste, die hoffnungsloseste unter allen Menschen geworden; dein Heil, deine Seligkeit, alles liegt mit Ihm begraben in seiner Todesgruft. Unter ihr bahnlos, und vor ihr hoffnungslos lag ihr Leben vor ihrem Blicke da.
2) Meine Lieben, uns Seelsorgern begegnen nicht selten auf unsern Wanderungen durch die Gemeinde Seelen, die, wenn nicht in der nämlichen, doch in ganz ähnlicher Gemütsstimmung sich befinden, wie dort Maria Magdalena in Josephs Garten. Überhaupt gibt es der Zweifelnden, der Angefochtenen, der Bekümmerten, der Leidtragenden bei weitem mehr, als wir gewöhnlich ahnen und voraussetzen. Denn Manche, die eine ruhige, vielleicht heitere Außenseite darbieten, verschließen die Zweifel, die sie quälen, die Sorgen, die sie drücken, die Gewissenswunden, die sie schmerzen, in ihr Inneres; sie scheuen sich, jemand etwas davon zu entdecken, obgleich sie sich dadurch eines der kräftigsten Mittel begeben, ihres Kummers los zu werden. Gehen wir auf die Ursachen zurück, die denselben in ihrem Gemüte erzeugen, so sind es entweder ungünstige äußere Verhältnisse, unter denen sie seufzen; das vielgestaltige Heer der Sorgen hat sie etwa umzingelt, Verluste haben sie etwa betroffen, geliebte Tote haben sie zu beweinen, und ihre Freude und ihre Hoffnung ist damit zu Grabe gesunken; oder aber es sind innerliche Anliegen, die sie darniederbeugen; da gibt es etwa solche, die, wie Maria Magdalena beim HErrn Frieden und Ruhe für ihre Seele gefunden, in Ihm den HErrn der Herrlichkeit erkannt haben. O wie waren sie da so selig, wie hätten sie da willig ihre Augen ausgerissen, und Ihm das Liebste dargebracht, wenn Er es verlangt hätte; wie war ihr Herz so voll Lob und Dank, wie leicht seine Last, wie sanft sein Joch. Jetzt ists anders geworden, sie sind aus einem sprossenden Geistesfrühling in einen frostigen Winter zurückversetzt, sie müssen die Trägheit ihres Herzens, die Schwäche ihres Willens, die natürliche Unlust an Gott und göttlichen Dingen aufs Neue schmerzlich empfinden, und nun zweifeln sie, ob überhaupt je einmal Christus ihrer Seele sich angenommen, und sein Heil ihnen geoffenbart habe.
Oder da sind solche, die mit Macht aus den Ketten und Banden der Finsternis sich losgewunden haben, und in den Dienst Jesu Christi hinübergetreten sind, wie freuten sie sich, die Seile zu zerreißen, an denen bisher die Welt sie gegängelt und geleitet hatte, und als solche, die der Sohn Gottes frei gemacht hatte, in die Schranken der Nachfolge Christi eingetreten zu sein; aber ach, die alten Triebe und Begierden, die sie längst unter dem Kreuze begraben zu haben wähnten, wachen wieder auf, und stellen sich aufs Neue auf den Plan, die Welt, die ihnen gekreuzigt war, gewinnt für sie wieder einen neuen Reiz, ihr Verkehr mit ihr wird aufs Neue eine Versuchung und Fallstrick für sie; die Liebe zum HErrn wird schwächer, die Freude an Gott verdüstert, - und siehe, nun kommen sie sich vor als zweimal erstorbene Menschen, die den Weg des Lebens gewusst und gegangen, aber nun zur Todesstraße zurückgelenkt haben. In solchen schweren Zeiten wähnt man, der HErr sei für uns tot, wir seien aus seiner Gnade gefallen, Er habe sein Angesicht vor uns verborgen, und unser auf ewig vergessen; und der einzige Notruf, der uns noch übrig bleibt, ist das Wort Pauli: ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes (Röm. 7,24.)!
II.
1) Jedoch, wenn wir zu unserer Textgeschichte zurückkehren, so gewahren wir an Maria Magdalena trotz der Trostlosigkeit, die sich ihrer bemächtigt hat, trotz der Trauer, in die sie versunken ist, dennoch Spuren des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung, überhaupt des geistlichen Lebens, die es uns unwiderleglich verbürgen, dass sie auch unter den Stürmen, die über sie gingen, eine Jüngerin des HErrn, ein Kind der Gnade bleibe; dass der Himmel ihres Gemüts zwar verdüstert und verdunkelt, nicht aber zertrümmert werden, und zerrinnen konnte. Schon das, dass sie um den Heiland weinte, und mit Inbrunst ihn suchte, zeigte deutlich, dass das Band der Anhänglichkeit, das sie an ihn knüpfte, nicht abgerissen sei. Ferner, dass sie beim Anblick der Engel in der Gruft nicht erschrak, noch aus ihrer inneren Schwermut herausgerissen wurde, ist Beweis genug, dass der Grundsatz des Psalmisten noch in ihrer Seele oben anstand: wenn ich nur Dich habe, dann frage ich nicht nach Himmel und Erde (Psalm 73,25.). Dass sie sagte zu ihnen: sie haben meinen Herrn weggetragen, zeigte nur zu deutlich an, dass der Gestorbene auch noch im Tode ihr Herr, der König ihres Herzens geblieben sei, und dass sie von Ihm nicht mehr loskommen konnte. Ja endlich, dass sie um jeden Preis den nach ihrer Meinung gestohlenen Leichnam des HErrn herbeigeschafft wissen wollte, deutete an, dass sogar auch ihre Hoffnung nicht ganz erloschen war; so lange sie noch den Leichnam vor sich sah, glomm immer noch im Hintergrund ihrer Seele, ihr selbst unbewusst, das Fünklein der Hoffnung und seliger Ahnung: Er könne doch noch wiederbelebt werden, weswegen sie gerade darüber so betrübt war, dass die Feinde ihn weggetragen haben; kurz, wir sehen, so tief auch es mit ihr herabgekommen war im geistlichen Leben, so glimmend das Töchtlein ihres Glaubens war, so war es doch noch vorhanden, es war noch nicht erloschen, und bereits war Derjenige in der Nähe, der ihre Glaubenslampe aufs Neue mit dem Öl des Geistes füllen, und zu einer hellen Flamme anzünden konnte.
2) Wie trostvoll, meine Lieben, ist das Beispiel der Maria gerade für diejenigen, die ausrufen müssen: ich habe meinen HErrn verloren, für diejenigen, die einem zerknickten Rohre gleichen, schwach im Glauben, kalt in der Liebe, träg im Eifer für Ihn sind, und, nachdem sie eine schönere Zeit des innern Lebens durchlebt haben, nun sich seiner Gemeinschaft für unwürdig und verlustig achten. Auch bei ihnen ist, obgleich sie oft ihr Herz für ganz erstorben, für ganz tot halten, immer noch ein Funke göttlichen Lebens zurückgeblieben, der unter der Asche glimmt, und wenn sie auch von ihm nichts mehr fühlen, dennoch das verborgene Leben mit Christo in Gott (Kol. 3,3.) bei ihnen nährt und erhält. Schon die Trauer, der sie sich überlassen, schon die Unbehaglichkeit, die sich ihres ganzen Wesens bemächtigt, schon die Vorwürfe, die sie sich machen, die Selbstverdammung, der sie sich unterziehen, ist ja der deutlichste Beweis, dass das Band zwischen dem HErrn und ihnen nicht entzwei geschnitten ist. Sie sind krank, sehr krank am inwendigen Menschen, ihre Klagen über sich selbst, über ihre Kälte, ihre Gleichgültigkeit, sind gegründet, aber das Leben ist nicht erloschen, die Seele ist noch nicht entflohen. Tritt man ihnen mit Trost, mit Verheißungen entgegen, so will das zwar in ihrem blöden, verschüchterten Gemüte nicht sogleich haften; aber sie lauschen doch jedes Wortes, das aus dem Munde des HErrn kommt. Und wenn man ihnen Christum nehmen, wenn man ihnen das Lesen Seines Wortes, das Seufzen ihres Geistes zu ihm, den Kirchenbesuch untersagen, die Unterredung über das Wichtigste, was ihre Seele beschäftigt, verbieten, und ihnen zumuten wollte, sich in den Strudel hineinzustürzen, sich für immer von Ihm loszusagen, zu seinen Feinden überzugehen, gebt nur acht wie schnell das Blatt sich wenden, mit welcher Entschiedenheit sie Christum als ihren HErrn verteidigen, mit welchem Eifer sie gegen solche Zumutungen zeugen, und auch keinen Fuß breit vom Bekenntnis der Wahrheit abweichen würden. Von was aber eben ist dies der klarste und bündigste Beweis? Von nichts anderem, als dass ihre Seele noch mit unsichtbaren Banden des Glaubens vom HErrn gehalten wird, und dass im Hintergrunde ihres Gemüts eine Hoffnung schlummert, die aufs Neue hervorbrechen, und ihren Farbenschmuck entfalten will. Ist über das Samenkorn, das im Schoß der Erde liegt, auch die dichteste Schnee- und Eisdecke hergebreitet, so dass alles wie erstorben scheint, im Samenkorn ist doch ein Lebenskeim, und er dringt hervor, sobald seine Zeit erschienen ist. Hat der Winter ausgeschneit, tritt der schöne Frühling ein, und mit neuem Flor bekleidet sich die Flur.
III.
1) So war's ja auch bei der Maria; der HErr, der ihren Gemütszustand von ferne kannte, führte sie stufenweise einer Offenbarung entgegen, von deren Herrlichkeit und Seligkeit sie nichts geahnt hatte. Schwermutskrank weint sie in Josephs Garten, da hört sie ein Geräusch und blickt rückwärts. Ein ihr unbekannter Mann steht vor ihr, sie hält ihn für den Gärtner - dieser Mann ist ihr aber so gleichgültig, dass sie keine Frage, keinen Morgengruß an ihn richtet, sondern in ihren Schmerz versunken, um ihn weiter sich gar nicht bekümmert. Sie steht nur ein paar Schritte von Ihm, ihr Heil ist ihr so nahe, dass sie es mit ihren Händen fassen, mit ihren Augen sehen, mit ihren Ohren vernehmen kann, und sie ahnt nichts davon. - Man möchte ihr zurufen. Maria, schlag' dein Auge auf, - blick' dem ins holdselige Angesicht, der vor dir steht; aber ihre Augen sind gehalten. - Ist das nicht das Bild von so vielen ringenden und trauernden Seelen? - sie haben nur Einen Schritt noch zu gehen, sie stehen hart an der Pforte des Himmelreichs, Christus hat sie gezogen, und sie sind gefolgt, sie stehen unmittelbar vor dem ganzen Reichtum seiner Gnade und Barmherzigkeit, es fehlt nur am Erkennen, am Ergreifen, am Nehmen, und zu dem will es nicht kommen.
2) Was tut der Gärtner, der sie gerne weiter führen möchte? Er fragt sie: Weib, was weinst du? was suchst du? Er tut diese Frage nicht, um zu erfahren erst, warum sie weine, nein? Er will durch diese Frage ihr Gemüt aus seiner Versunkenheit aufrichten, Er will, dass sie sich Ihm gegenüber klar werde, dass sich ihre verworren und dunkel durcheinander wogenden Gefühle ordnen und gestalten, dass sie eben dadurch fähig werde, den Lichtstrahl seiner Offenbarung in sich aufzunehmen.
Wodurch anders kann auch unserer Seele zurecht geholfen werden? - Er weiß unsere Gedanken von ferne, und kommt denselben entgegen. Ehe der Säemann das Saatkorn in die Erde wirft, lässt er die Pflugschar vorausgehen, um dieselbe zuzubereiten. - So bereitet der HErr den Boden unseres Herzens, um ihn für das lebenskräftige Saatkorn seiner Lebens-Offenbarung empfänglich zu machen. Was weinst du? wen suchst du? - das ist seine Frage auch an uns. Ist's nicht der HErr, um den du weinst, und den du suchst? und eben der ist dir nicht ferne, ist dir so nahe, ist der, der, obgleich noch verhüllt, zu deiner Seele redet.
3) Aber auch durch jene Fragen wurde Maria noch nicht zur Freude gestimmt. Immer noch ihre Versunkenheit, immer noch ihr Fragen, wo der Leichnam, wo der Tote sei, kein Gedanke an den Lebendigen. Da denkt der Heiland, es sei des Weinens und Klagens genug, und mit einem Ton, den nur Er seinem Worte verleihen konnte, spricht Er: Maria! Wie wird ihr zu Mute! ists ihr doch, als höre sie himmlische Harmonie; sie traut ihren Augen kaum, - Er ists, und zu Füßen liegt sie dem Heißbeweinten, und nur Eines kann sie stammeln: Rabbuni, mein Meister! Es ist unmöglich, in Worte zu fassen, was Beide in diese beiden Worte hineinlegen; es war eine Sprache, wie sie die Himmlischen sprechen, die in die kürzesten Worte den seligsten Gehalt hineinzulegen wissen. O seliges Magdalenenherz! sie bekam ein neues Bewährungssiegel auf den alten Gnadenbrief. Da stand Er vor ihr, der alte, und doch wieder ein ganz neuer und verklärter; sie suchte einen Leichnam, aber der Lebendige stand vor ihren Augen, und sie erfuhr nun in der Tat: solange Jesus bleibt der HErr, wirds alle Tage herrlicher.
Vergessen war das Leid, das sie darniedergebeugt hatte, vergessen die Angst und Not ihrer Seele; es ging ihr, wie der HErr seinen Jüngern vorausgesagt hatte (Joh. 16,20-22.): ihr werdet traurig sein, aber eure Traurigkeit wird in Freude verwandelt werden; ein Weib, wenn sie gebiert, so hat sie Traurigkeit; denn ihre Stunde ist kommen; wenn sie aber geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass der Mensch zur Welt geboren ist. Und ihr habt auch nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll Niemand von euch nehmen. Selige Magdalenen-Seelen, die ihr um den Heiland lange weinet, denen Er aber endlich mit seiner Hilfe und Trost erscheint! Ihr suchtet Ihn, aber ihr suchtet stets nur den Toten! die alten Erinnerungen bemühtet ihr euch anzufrischen, und vermochtet es nicht; es bedurfte neuer Erfahrungen seiner Gnade und Wahrheit, und daran hat Er, der Fürst des Lebens, es nicht fehlen lassen; ihr habt von neuem Ihn erkannt, und eure Seele ist genesen.
IV.
1) Und was ist die Frucht davon? Als Maria inne ward, wer es sei, der mit ihr rede, da offenbarte sich, was sie in der letzten Zeit nur noch traurig in ihrem Innern hatte bergen können; ihr Herz ging über von der Liebe, die sie Ihm, ihrem Erretter aus Sünde und Verderben, auch als sie Ihn tot glaubte, treu bewahrt hatte; ihre unverrückte Anhänglichkeit an den, der ihr Weg, Wahrheit und Leben geworden war, sprach sich ganz und voll aus in dem einen Worte: „Rabbuni,“ das heißt Meister. So brachte sie Ihm ihre Huldigung dar: jetzt da Er zu neuem, himmlischem, ewigem Leben verklärt war, sollte Er erst recht ihr Meister sein, dem sie mit Allem, was sie hatte, sich zu eigen gab. Und Er nimmt sie auch sogleich neu in seinen Dienst; Er gibt ihr den Auftrag: gehe hin zu meinen Brüdern und sage ihnen, ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Sie, die mit Tränen zum Grab gekommen war, durfte jetzt weggehen mit freudeleuchtendem Angesicht; als freudige Zeugin durfte sie die, welche noch trauerten wie sie getrauert hatte, ermuntern, und allen den Brüdern, die noch weinten wie sie geweint hatte, die Tränen von den Augen wischen mit der Freudenbotschaft: ich habe den HErrn gesehen, und Er selbst sendet mich zu euch.
2) Wer selbst schon durch schwere innere Prüfungen hindurchgegangen und mit treuem Suchen zu neuem Besitz seines Meisters gelangt ist, der ist so auch jetzt noch in seinem Dienst der beste Friedensbote für Alle, die nach Ihm wohl auch sich sehnen, aber aus ihrer Trübsal und ihrem Kleinmut sich noch nicht herauszuringen vermögen. Und ein Solcher wird auch selbst nie säumen, das große Heil, das ihm wiederfahren ist, in Wort und Wandel allen denen kund zu tun, die im Leid und in der Anfechtung seine Genossen waren. Denn allen Brüdern, allen Gläubigen, soll die Botschaft, dass der HErr erstanden ist, in die Seele dringen, Er ist ja ihrer aller Meister und HErr, und der, zu welchem Er aufgefahren ist, ist ihrer aller Gott und Vater.
Meine Lieben! es gibt auch unter wirklichen Christen, unter Brüdern und Schwestern, der Angefochtenen, der Bekümmerten, der Leidtragenden so viele: o dass sie auch also Leid tragen und in ihrem Leid den HErrn suchen lernten wie Maria; o dass sie Ihm auch neu huldigten und in seinem Auftrag auch also hingingen in dem Kreis und Beruf, in welchem der Meister Jeden hinstellt und hinsendet, um Ihn den Brüdern zu verkündigen als den Auferstandenen, der nicht bloß für diesen oder jenen, sondern für Alle, die Ihm sich ergeben und Ihm treu bleiben, Leben und unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat.
Sie werden bis in den Himmel hinein
In Ihm vergnügt wie die Kinder sein.
Muss man gleich die Wangen noch manchmal netzen,
Wenn sich das Herz nur an Ihm ergötzen
Und stillen kann.
Er reicht ihnen seine durchgrabene Hand,
Die so viel Treue an sie gewandt,
Dass sie beim Gedächtnis beschämt dastehen,
Und dass ihr Auge muss übergehen
Vor Lob und Dank.
Amen!