Hofacker, Wilhelm - Am Karfreitag (Erste Predigt).

Hofacker, Wilhelm - Am Karfreitag (Erste Predigt).

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Erkenntnis und der Weisheit Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege (Röm. 11,33)! So meine Lieben, müssen wir heute ausrufen, wenn wir uns vor den Abgrund der göttlichen Liebe stellen, der an dem heutigen Tag sich geöffnet hat. Der, der bei dem Vater Herrlichkeit hatte, ehe der Welt Grund gelegt war, der mit Licht und mit Himmelsglorie umgeben war, und dem die Engel und Fürstentümer und Gewalten zu Füßen liegen, der Sohn der Liebe sinkt in den Tod. Er ist zum Fluch gemacht, der Allerunwerteste, der Allerverachtetste, unter tausend Todesschmerzen neigt er das Haupt und verscheidet. Und aus diesem Tode sprießt uns das Leben, aus seinem Blut ergrünt unser Heil, aus seiner Schmach und Verachtung ersteht unsere ewige Herrlichkeit. Ja von dem Hügel, auf welchem er gerungen und gearbeitet, strömen nun die reichen Gießbäche einer freien Gnade, eines göttlichen Trostes, eines seligen Himmelsfriedens, und kein noch so entfernter, unbekannter Winkel der Erde soll sein, wo die große Tat seines Versöhnungstodes nicht verkündigt und gepriesen werde.

Was können wir anders, als in die Worte Pauli ausbrechen: O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Wahrheit und der Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind seine Gerichte, und unerforschlich seine Wege! Was können wir anders als niederfallen und anbeten, was können wir anders als einstimmen in den Lobgesang der himmlischen Heerscharen, die da singen: Das Lamm, das erwürgt ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob (Offenb. Joh. 5,12.). Und darin wollen wir uns nicht lässig finden lassen; kommet, wir wollen den letzten Vers aus dem 135sten Lied anstimmen: Du dessen Augen flossen.

Freund der Menschenkinder,
Hier liegen wir gebückt;
Wie hoch hat uns, die Sünder,
Wie hoch Dein Tod beglückt!
Dich ehre unser Glaube,
Anbetung sei Dein Dank!
Hör ihn, vernimm vom Staube
Den schwachen Lobgesang.

Text: Leidensgeschichte.
Aber der Übeltäter einer, die da gehenkt waren, lästerte ihn und sprach: bist du Christus, so hilf dir selbst und uns. Da antwortete der andere, strafte ihn, und sprach: und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Und zwar wir sind billig darinnen, denn wir empfahen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt. Und sprach zu Jesu: HErr! gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst. Und Jesus sprach zu ihm: wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein (Luk. 23,39-43.)!
Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis an die neunte Stunde. Und die Sonne verlor ihren Schein. Und um die neunte Stunde rief Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? Das ist: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und etliche die dabei stunden, da sie das hörten, sprachen sie: siehe, er ruft dem Elias (Luk. 23,44.45. Matth. 27,45-47. Mark. 15,33-35.).
Danach als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, dass die Schrift erfüllt würde, spricht er: mich dürstet. Da stund ein Gefäß voll Essig; und bald lief einer unter ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig, und steckte ihn auf ein Rohr von Ysopen und tränkte ihn. Die andern aber sprachen: halt, lasst sehen, ob Elias komme und ihm helfe (Joh. 19,28.29. Matth. 27,48.49. Mark. 15,36.).
Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: es ist vollbracht! Und rief abermal laut und sprach: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände. Und als er das gesagt, neigte er das Haupt und verschied (Joh. 19,29. Luk. 23,46. Matth. 27,50. Mark. 15,37.).
Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke, von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf, und stunden auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung, und kamen in die heilige Stadt und erschienen Vielen (Matth. 27,51-53. Mark. 15,38. Luk. 23,45.).
Aber der Hauptmann, der dabei stund gegen ihm über, und die bei ihm waren, und bewahrten Jesum, da sie sahen das Erdbeben und dass er mit solchem Geschrei verschied, erschraken sie sehr, und preisten Gott und sprachen: wahrlich dieser ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen! Und alles Volk, das dabei war, und zusah, da sie sahen, was da geschah, schlugen sie an ihre Brust und wandten wieder um (Matth. 27,54. Mark. 15,39. Luk. 23,47.48.).

Zu den herrlichsten und großartigsten Schauspielen, die ein Menschenauge hienieden betrachten und genießen darf, gehört ein schöner und majestätischer Sonnenuntergang. Was die sichtbare Schöpfung Glanzvolles, Erhabenes und Ergreifendes hat, das zeigt sie in diesem Schauspiel einem sinnigen Beobachter wie im Mittelpunkt; und unwillkürlich wird deswegen auch ein denkender Geist dadurch zum Staunen, zur Bewunderung, zur Freude, zur Anbetung mit fortgerissen. Etwas Ähnliches haben wir soeben vernommen aus dem Gebiet der geistigen Welt. Der, der schon im Alten Bunde (Mal. 4,2.) die Sonne der Gerechtigkeit genannt, der von einem Zacharias als der Aufgang aus der Höhe (Luk. 1,78.) verkündigt wurde, ja der, der sich selber das Licht, die Sonne der Welt nannte, der sinkt in den Tod hinab wie eine untergehende Sonne, Er nimmt Abschied von der Welt, die Er mit Seinem wunderbaren Gnadenglanz erleuchtet; Sein Augenlicht, das nur Friede und Barmherzigkeit gestrahlt hatte, umhüllt sich mit Dämmerschatten, und Sein Haupt, das die Herrlichkeit des Eingebornen vom Vater voll Gnade und Wahrheit (Joh. 1,14.) verkündigt hatte, neigt sich zur Brust, und das Angesicht, das den Stempel einer himmlischen Unschuld und Heiligkeit getragen hatte, legt sich in Todesfurchen. O es ist wehmütig und ergreifend, diesem großartigen Sonnenuntergang zuzuschauen, und zu sehen, wie auf so helle und glanzvoll erleuchtete Tage ein so dunkles mitternächtliches Ende hereingebrochen ist.

Aber siehe, auch im Scheiden ist Christus, die ewige Lebenssonne, noch anbetungswürdig; auch im Untergang offenbart sie ihre Herrlichkeit; und wenn auch ihr Angesicht blutrot gefärbt ist, doch erkennt man an ihr die alte Sonne voll Gnade und Wahrheit. Kommt! wir wollen den Hügel Golgatha besteigen und dort einem Sonnenuntergang zusehen, wie die Welt, seitdem sie in ihrer Achse rollt, noch keinen gesehen. Dort lasst uns sinnend und nachdenkend verweilen, dort ihre letzten Strahlen in unser Herz fassen, und gewiss - wir werden von dieser Anschauung nicht leer zurückkommen, sondern einen Lebenseindruck mit nach Hause nehmen, in dessen Kraft wir glaubend, hoffend, liebend weiter kommen, bis die Sonne dort vor uns niedersinkt und drüben aufgeht in ungetrübtem und ungeschmälertem Strahlenglanz in des Vaters Reich.

Wir betrachten den großartigen Sonnenuntergang des Lebens Christi auf Golgatha.

I.

1)

Die Lebenssonne geht auf Golgatha unter. Das Heil der Welt sinkt in den Tod. Aber ein Blick nach ihr überzeugt uns, dass sie es auch im Scheiden noch nicht verlernt hat, gar milde und freundliche Strahlen auf verfinsterte Sünderherzen zu werfen, ja sogar noch am Kreuz hängend ein totes und erstorbenes Sünderherz so mit ihrem Glutstrahl zu durchdringen, dass ein finstrer, dem Tode verfallener Sünder in ein Kind des Lichts und in einen Bürger des himmlischen Reiches umgewandelt wurde. Darauf weist uns der heutige Passionsabschnitt hin; davon überzeugt uns der Vorgang mit dem Schächer. Segen- und Leben-spendend war der Heiland durch die Welt gegangen; tröstend und erquickend hatte er der Sünder sich angenommen und seine Huld und Barmherzigkeit ihnen zugewendet; ungetröstet und unerquickt hat er keinen von sich gelassen; aber hier beim Sonnenuntergang seines Lebens hat er alle Strahlen seines Wesens wie in einem Brennpunkt zusammengefasst und auf Ein Sünderherz hingelenkt, so dass an ihm ein Wunder seiner rettenden, seiner erneuernden, seiner beseligenden Liebesmacht zu Stande kam, so dass auf diesem erstorbenen, verwilderten Herzensfeld noch Blüten der Buße, des Glaubens, der Hoffnung sprossten, die von der Rettung dieses Sünders zeugen. Den unwürdigsten, den verwerflichsten Sünder hat er sich hierzu auserlesen, einen Sünder, der nicht wert war, dass ihn die irdische, geschweige denn die geistige und ewige Lebenssonne bescheine, einen Verworfenen, der um seiner Missetaten willen den Tod verdient, das Leben verwirkt hatte, und der nun mit ihm der nämlichen furchtbaren Strafe des Kreuzes verfallen war. Wir wissen nicht, ob und wie lange dieser Mann etwas von Christo gehört hatte, wir wissen nicht, ob und wie viele gute Samenkörner der Wahrheit von früher in seiner Seele noch übrig waren; wir wissen auch nicht, ob er schon im Kerker und im Gefängnis, oder jetzt erst am Kreuze Buße getan und den Weg des Lebens eingeschlagen habe, - alle jene Doppelfälle sind möglich;- aber das wissen wir aus seinen eigenen Reden, dass er, von der Hoheit Jesu Christi aufs Tiefste ergriffen, von seiner Unschuld und Heiligkeit aufs Bündigste überzeugt, von seiner Milde und Güte aufs Kräftigste angezogen, im Schiffbruch des eigenen Verdienstes, den er erlitten, das Kreuz Christi mit kräftigem Glaubensarme umfasst, und daran mit der ganzen Inbrunst seines Geistes sich festgeklammert hat; das wissen wir, dass er von dem Licht, das aus Christo ihm entgegenströmte, willig und gern sich richten, die Finsternis seines Herzens sich aufdecken und den Weg des Heils sich zeigen ließ; wir wissen nur, dass die Welt vor seinem Blick in ein Nichts verschwamm, und er sein Auge nach Dem aufschlug, der, wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also erhöht werden musste, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Joh. 3,14.15.). Und so wird er denn von Jesu Christo, der untergehenden Gnadensonne, auf eine Weise beschienen und bestrahlt, dass seine Seele mit Freude, Friede und Wonne, sein schmachtender Geist mit himmlischer Hoffnung, und sein sterbendes Haupt mit Gnade und Barmherzigkeit gekrönt wurde. Wahrlich, heute wirst du mit mir im Paradies sein. Das war der große und herrliche Abschiedsgruß, den der HErr des Himmels und der Erde in Kraft der göttlichen Machtvollkommenheit ihm zurief, die Er vom Vater empfangen hatte; das war der große Adelsbrief, den der Heiland mit seiner durchbohrten Hand ihm noch ausfertigte, und mit welchem Er ihm die geöffnete Pforte des Paradieses wies. Das waren die heiligen Testamentsworte, mit welchen der scheidende Erlöser auch diesen tiefgefallenen Menschen zum Erben aller himmlischen Güter, ja zum Miterben seiner eigenen Herrlichkeit einzusetzen für gut fand. Und wir wahrhaftig können nun nichts mehr hinzusehen als:

Kommt, Sünder, und freut euch der süßesten Reden,
Denn sie sind wahrlich der Schlüssel zum Eden.

2)

Durch die Begnadigung des Schächers wollte offenbar der Heiland seiner Sünderliebe die Krone der Vollendung aufsetzen, und die Weisheit Gottes hat es gewiss aus wohlbedachtem Rat so gefügt, dass der Sohn der ewigen Liebe auch sterbend noch eine Großtat seiner überschwänglichen Gnade und Barmherzigkeit vollstrecken könne, die als der strahlendste Stein im Diadem seiner Versöhnersherrlichkeit glänzt. Nun darf ja auch der am Tiefsten Gefallene an eine Rettung, der am Weitesten Verirrte an eine Wiederbringung, der am Meisten Befleckte an eine Reinigung, der am Schwersten Verschuldete an eine Erlösung, der am Festesten Gefesselte an eine Befreiung glauben. Die Gnadenpforte ist aufgeschlossen, und wenn sie auch zu eng und zu schmal ist, als dass ein unbußfertiger Sünder den Eingang erzwingen könnte, so ist sie doch nicht so eng und so schmal, dass nicht ein nach Gnade dürstender, sich selbst verdammender, auf Christum blickender Sünder durchbrechen könnte zum Frieden mit Gott, zur Gemeinschaft mit dem Sohn der Liebe und zur Hoffnung eines unvergänglichen Lebens. Und diese Freudenbotschaft darf heute am großen Erlösungstage der Menschheit verkündigt, dieses Evangelium darf heute von dem Amt, das die Versöhnung predigt, angeboten, und die herrlichen und wunderbaren Friedensstrahlen, mit denen die Sonne der ewigen Erbarmung von der Welt Abschied genommen hat, dürfen angepriesen und angerühmt werden. Es sind betagte Sünder unter uns, wollt ihr euch nicht sonnen am Abend eures Lebens im Strahl der untergehenden Lebenssonne? Es sind erstorbene Sünder unter uns, wollt ihr euch nicht erwärmen und beleben und erneuern lassen durch den, der auch sterbend noch die Glut von seiner Erbarmung geoffenbart hat? Es sind gefangene und gefesselte Geister unter uns, wollt ihr euch nicht überwinden und übermannen lassen von Dem, der auch die Starken zum Raub, und die große Menge zur Beute erhalten soll (Jes. 53,12.). O macht ihm die Freude am Tage seiner Schmerzen und seiner Leiden, dass Er auch nach euch seine Erlöser-Hand ausrecke, dass Er auch euch aus dem Staub der Sünde zur Freiheit, und aus dem Tod zum Leben emporhebe, und auch an euch vornämlich Jesus Christus erzeigte alle Geduld und alle Barmherzigkeit zum Exempel denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben (1. Tim. 1,16.).

So sendet Christus, die ewige Geistessonne, auch sterbend noch die wärmsten und die freundlichsten Strahlen aus.

II.

1)

Jedoch, und damit rücken wir zu unserm zweiten Teil vor, kaum hatte der Schächer am Kreuze die wohltätige Wirkung dieser scheidenden Lebenssonne empfunden, als sie in furchtbare Nacht und Dunkelheit sich hüllte und sich unter furchtbarem und grauenvollem Wettergewölk versteckte und verbarg. Es war bereits Mittags zwölf Uhr, da verlor die sichtbare Leuchte am Himmel ihren Schein, die Sonne verhüllte gleichsam ihr Angesicht, um die Leiden und Qualen ihres Schöpfers nicht mit anschauen zu müssen, und nun war eine Finsternis über das ganze Land bis um die neunte Stunde, so dass es selbst den umstehenden Juden unheimlich wurde, dass ihr Gespött und ihr Hohngelächter verstummte und einer nach dem andern verlegen und betroffen sich hinwegschlich. Es wurde um das Kreuz Christi immer stiller und einsamer, so dass der Schauplatz auf einmal sich gewandelt und verändert hatte. Die größte Veränderung war aber in der Seele unsers großen Bürgen und Erlösers selbst vorgegangen. Bisher hatte Er unter all seinem Leiden der tröstenden, der kräftigenden, der stärkenden Nähe seines Vaters sich erfreuen dürfen; bisher hatte ihm bei allem Anprallen der Wasserwogen, die über sein Haupt gingen, doch der Fels nicht gewankt, auf welchem Er stand; ja selbst im Garten Gethsemane, wo der Seelenschmerz ihn übermannen und niederdrücken wollte, war ihm doch der Vatername seines Gottes niemals verdunkelt worden, ja auch im Gebet konnte er fortfahren, bis seine Seele wieder heiter, sein Geist wieder stark und mutig war. Nun aber begannen die Grundfesten seines Sohnes-Verhältnisses zu wanken; nun war Er in die Bäche Belials (Psalm 18,5.) dahin gegeben! Verzagtheit wollte sich seiner bemächtigen, und der Strom der Finsternis war dran, ihn von dem Felsen hinwegzureißen, an dem Er festgeklammert war, um ihn in dem Todesbett der Verzweiflung untergehen zu lassen; höllische Mächte umgaben ihn, Schrecken der Finsternis überfielen ihn. Aus solchem Geist stammte der Weheruf aus der Tiefe: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Seine Seele war in Nacht, sein Geist in die Gewitterschauer des ewigen Gerichts gehüllt, und in vollen und bitteren Zügen musste er schmecken und fühlen, was es heißt, den Becher des Zorns zu leeren bis zur letzten Neige und die Bitterkeit der ewigen Verstoßung zu erfahren bis in die äußerste Hölle. Warum aber glaubt ihr wohl, dass solche Todesschatten über die Seele Christi gegangen, warum glaubt ihr, dass solche Höllenschauer durch seine Glieder gerieselt? warum glaubt ihr, dass seine sonst so klare und lichtvolle Seele mit solchem Trauerflor umwoben wurde?

2)

Die Antwort ist schon längst gegeben: Unser Friede thront in den Schrecken Christi, so sagt ein alter ehrwürdiger Kirchenlehrer.

Auch in unserem Leben fehlt es ja zuweilen nicht an Stunden, wo uns um Trost sehr bange wird, an Augenblicken, wo wir mit David sprechen: ich fürchte mich vor dir, dass mir die Haut schauert (Psalm 119,120.), an Tagen, wo wir mit Zion klagen: der HErr hat mich verlassen, der HErr hat meiner vergessen (Jes. 49,14.). Äußere Not und innere Not recken da ihre Riesenarme gegen uns und wollen uns in den Abgrund der Seelenangst und Verzagtheit schleudern. Wir sind da so niedergeschlagen und traurig, dass auch die festen Heilsfundamente, auf denen bisher unser Glaube ruhte, zu wanken beginnen; es gibt finstere Stunden im Christenleben, wo nicht nur der HErr sein Angesicht verhüllt, wo sogar Satan das seinige enthüllt, wo er uns sichten will, wie man den Weizen sichtet, wo er uns in Unglauben und in Abfall und in allerlei finstere Gedanken mitfortreißen will.

Um solcher Stunden willen wurde Christus in die Tiefen der Gottesverlassenheit getaucht; um solcher Anfechtungen willen gingen die Wellen der Verzagtheit über ihn. Gerade für solche Erfahrungen soll das Kreuz Christi dastehen als der leuchtendste Beweis und als das unerschütterliche Versicherungszeichen, dass der HErr nur auf Augenblicke uns verlassen, dass er nur auf kurze Zeit sein Angesicht vor uns verborgen habe, dass er aber mit ewiger Gnade sich über uns erbarmen werde, und uns weder Tod noch Leben, weder Hohes noch Tiefes, weder Trübsal noch Angst aus Seiner Hand reißen und uns scheiden dürfe von Seiner Liebe. Es ist sehr merkwürdig, dass die Schrift das Leiden Christi am Kreuz so sorgfältig nach Stunden berechnet. Während seines früheren Lebens wird oft ganzer Jahre, ganzer Jahrzehnte mit keiner Silbe gedacht, hier aber heißt es einmal über das andere: nun war es um die dritte, sechste, neunte Stunde. O sei uns willkommen, du süßer und herrlicher Trost, dass auch unsere Anfechtungsleiden nach Stunden, nach Minuten berechnet sind, und dass der, der die Tage der Trübsal verkürzen kann um der Auserwählten willen, auch ihre Stunden verkürzen kann, und dass, wenn auch seine Hilfe verzieht, er dennoch seiner Macht die Zeit vorbehalten hat, wie es heißt:

Wenn die Stunden sich gefunden
Bricht die Hilf' mit Macht herein,
Und dein Grämen zu beschämen
Wird es unversehens sein.

Darum, meine Lieben, wenn es dunkelt in unsrer Seele, wenn es uns lange werden will in Mesechs Hütten und unter Kedars Strengigkeit, wenn von außen oder von innen die Wasser rauschen und an unsern Glaubensgrund schlagen, dann lasst uns eingedenk bleiben, dass der HErr von Gott und Menschen verlassen am Fluchholz gehangen, dass seine Seele zerschmolzen war wie Wachs, und seine Kraft versiegen gegangen war, auf dass Er uns eine gute Hoffnung und einen seligen Trost erwürbe, und auch in den dunkelsten Stunden seine Leuchte uns nicht verlösche, und auch in der schwärzesten Nacht sein heller Tag uns wieder anbreche und der Morgenstern aufgehe in unsern Herzen.

Die untergehende Lebenssonne hat sich also in Nacht und Dunkelheit und in Gewitterwolken eingehüllt.

III.

1)

Doch so hat sie nicht Abschied genommen von der Welt. Nein! und das ist das Dritte, was wir beim Sonnenuntergang auf Golgatha bemerken, sie hat die Gewitterwolken durchbrochen, sie ist noch einmal hervorgetreten in voller Siegesklarheit, sie ist untergetaucht in ungetrübter Herrlichkeit.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Das konnte nicht das letzte Wort sein, das der Welterlöser der Welt zurückließ. So konnte, so durfte der Sohn Gottes nicht sterben, mit Zornesschauern im Innern, mit Weheklagen auf den Lippen konnte er nicht enden. Es musste vorher Friede und Ruhe werden in seinem Innern, und nach dem heißen Schlachttag sollten seine eigenen Lippen noch den Sieg verkündigen, den Er erfochten, der Welt den Gnadenbrief besiegeln, den Er ihr ausgestellt. Dies geschah indem bald nach jenem Hilferuf aus der Tiefe, in welchem sein inneres und äußeres Leiden seinen Höhepunkt erreicht hatte, die Anfechtung wich, und der ringende Geist das Nebelgewölke, das ihn umlagert hatte, durchbrach, und Er, Sieg im Herzen und Sieg auf den Lippen, das große Wort in die nun gerettete, mit seinem Blut versöhnte Welt hineinrief: Es ist vollbracht.

O was musste die Maria fühlen, als sie in diesem Wort die Stimme der Vollendung hörte; o was musste ein Schächer fühlen, dem dieses Siegeswort seine eigene Siegeshoffnung verkündigte; o was mussten die Millionen unsichtbarer Gotteszeugen fühlen, die der Großtat der Liebe Christi zusahen; und wie musste endlich die Hölle beben, als dieser Triumphruf auch durch ihre dunklen Gemächer drang! Es ist vollbracht, so rief der Sohn der ewigen Liebe, und sah nun hinter sich den sauren Erniedrigungslauf von der Krippe zu Bethlehem bis zum Fluchholz, sah hinter sich seine Verleugnung und seine Entbehrungen, seine Armut und seine Niedrigkeit, seine Seelenangst und seine Geißelung, seine Verspottung und seine Verspeiung, seine Gottesverlassenheit und seine Anfechtungen, alles war aufgelöst in Harmonie, in Frieden, in Ruhe, in Triumph und Seligkeit; sein Werk war vollendet, die Missetat vergeben, die Sünde zugesiegelt, die ewige Gerechtigkeit wieder gebracht. Er legte den Hirtenstab nieder, den ihm der Vater eingehändigt hatte, und war nun bereit, das königliche Zepter zu ergreifen, das ihm ewiglich gebührt, und nun rief er mit starker Stimme: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist, und neigte das Haupt und verschied.

2)

Die Sonne des Lebens Christi ist herrlich und siegreich und strahlenreich untergetaucht. Aber eben damit hat sie auch ein freundliches Abendrot über den Tod seiner Gläubigen ausgegossen und ihn zu einem Eingang in die ewige Friedenshütte umgewandelt. Denn

Christ starb am Kreuzesstamme,
Um Sünde zu verdammen,
Nun heißt bei seinen Schafen
Das Sterben ein Entschlafen.

Christus ist ihr Leben und Sterben ist ihr Gewinn; sie kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern und keine Qual rührt sie an. Ja das Abendrot, das Christi Scheiden über ihren Häuptern zurückgelassen, ist ihnen Bürge, dass ein herrliches und himmlisches Morgenrot über ihnen aufgehen werde, wenn sie erwachen nach seinem Bild. Und das geschieht um seines vergossenen Blutes, um seines vollbrachten Werkes, um seines großen Wortes willen: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist. Denn

Dieses Wort heißt ja der Gläubigen Seelen
All' in die Hände des Vaters befehlen.

Auf die äußerlichen Umstände zwar, die den Tod des Menschen zu begleiten pflegen, ist dabei nicht viel zu gehen. Vom sanften oder schweren, vom leichten oder kampfesvollen Ende eines Menschen ist kein bündiger, gültiger Schluss zu machen auf seine Seligkeit oder Unseligkeit. Denn ein gottloser, ein unbußfertiger, ein heuchlerischer Sünder kann ruhig und sanft sterben, ohne ein Glied zu regen, ohne mit einem Finger zu zucken; ja er kann vielleicht von lauter Seligkeit und lauter Himmel träumen, und doch fährt seine finstere Seele abwärts in die dunkelsten Örter. Und eine fromme und gläubige Seele ist oft mit Krankheit und Not und Beschwernis umgeben, und vielleicht mit Bewusstlosigkeit und Fieberträumen umgaukelt, oder sogar in der Schwachheit des Glaubens mit Todesfurcht und innerem Erbangen erfüllt, und doch ist ihr Hingang ein Friedensgang, doch ist ihr Scheiden ein Entschlafen auf Hoffnung seligen Erwachens um des Bundesblutes willen, das auf Golgatha geflossen ist; doch gilt von ihnen, was Simon von sich selbst (Luk. 2,29.) sagt: HErr, nun lässt du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen. Und den meisten seiner aufrichtigen und treuen Kinder pflegt der HErr auch wenn es durch Kampf und Anfechtung gegangen, doch zuletzt auch noch ein ruhiges Abschiedsstündlein zu gewähren, in welchem es wieder licht und hell um sie wird und sie es auch selbst noch ihm nachrühmen dürfen: es ist vollbracht.

Ja, der Friede, der uns an den Sterbe- und Todesbetten wahrer Kinder Gottes anweht, der Friede, der auf ihrem erblassten Angesicht sich spiegelt, der Friede, der sich über ihre entseelte Hülle her verbreitet, er ist ein Siegel darauf, dass selig sind die Toten, die in dem HErrn sterben (Offb. 14,13.), dass sie ruhen dürfen von ihrer Arbeit, und dass, wenn auch der Leib zerstäubt, doch das Leben bleibt, dem Lebensfürsten einverleibt. Christus, ihr Licht und ihr Leben, geht auch in ihnen unter mit Sieg und mit Herrlichkeit.

IV.

1)

Die Sonne auf Golgatha ist untergegangen, ihr freundliches Bild ist in die Nacht des Todes hinabgesunken. Ab noch sie ihre segensreiche Wirksamkeit nicht beendigt. Denn wie es Abends zu gehen pflegt, wenn die Sonne untergegangen ist und es dunkel wird auf Erden, so wirds droben um so heller, die Herrlichkeit des Himmels tut sich auf, Stern an Stern entquillt dem Firmament, und während Stille und Ruhe auf Hügeln und Tälern liegt, so strahlt herab ins Erdental eine größere und schönere Welt. So ists auch dort auf Golgatha: im Tode Christi ist eine Menge der strahlendsten und herrlichsten Hoffnungssterne uns aufgegangen. Die Vorgänge, die bei dem wichtigen Ereignis sich zutrugen, sind uns große und wichtige Wahrzeichen. Die Erde erbebte, in ihren Grundfesten erschüttert, denn jetzt eben lag sie in großen und heiligen Geburtswehen. Der Vorhang des Tempels zerriss, denn jetzt eben wurde die Scheidewand hinweggetan, die Heiden und Juden trennte. Die Felsen spalteten sich und das Totenreich kam in Bewegung, denn auch die Totengebeine einer in Sünde erstorbenen Welt sollten sich nun bewegen und, wie Ezechiel (37,7.) sah, zu rauschen beginnen; und ein heidnischer Hauptmann brach in die Worte aus: wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch und Gottes Sohn gewesen; denn die Fülle der Heiden sollte eingehen, und in Christi Tod ihr Leben, in Christi Vollendung ihre Berufung zum Himmelreich feiern. Er war der Herold der Heidenwelt.

2)

Und seht da! Diese Hoffnungssterne, die dem Tode Christi entquollen, stehen noch glänzend über dem Nachtgebiet der ganzen Menschheit, und wenn auch noch Finsternis manche Völker, und Dunkelheit manches Nationen bedeckt, dennoch leuchten sie. Die Heiden werden noch im Licht Christi wandeln, das lange widerstrebende Israel wird endlich sehen, in welchen sie gestochen haben, die Felsengräber so mancher toten und erstorbenen Menschenherzen müssen sich noch öffnen, und die Erde, die das Blut des Sohnes Gottes getrunken hat, auch sie wird noch einmal ihren Staub von den Füßen schütteln und einer Erneuerung und Verklärung entgegen gehen.

Ja von Golgatha aus können wir die Fernsicht in die große Zeit der Erfüllung wagen und mit Johannes, dem Seher, ausrufen: Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde (Offenb. Joh. 21,1.); das Alte ist vergangen, siehe, es ist Alles neu geworden (2. Kor. 5,17.) Am Todestag Christi ist Erde und Himmel versöhnt, Tod und Hölle besiegt; von Golgatha aus ist Himmel und Erde umschlungen, der große Ring der Gottesoffenbarung hat sich geschlossen, und jetzt erst verstehen wir beim Niedergang der Sonne den Morgengruß, den die Engel ihr bei ihrem Aufgang entboten (Luk. 2,4.): Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen.

Meine Lieben! Die Sonne des Lebens Christi ist untergesunken, auch die unsrige wird sinken, früher oder später, schneller oder langsamer. Erwartet auch euren Sonnenuntergang auf keiner andern Stelle als auf Golgatha. O dass ihr auf Golgatha steht, wenn ihr von hinnen müsst! Dass euer Zelt zu den Füßen des Kreuzes Christi ruhe, dass euer Haus auf den Felsen seiner Verheißungen sich gründe! Dort habt ihr die Burg gefunden wider alle Feinde; dort, auf Golgatha, ist eine Burg des Friedens für alle die den Frieden lieben; dort werdet ihr am Ende eures Lebens mit Stephanus sagen dürfen: Ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen; HErr Jesu nimm meinen Geist auf!

Amen.

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