Hofacker, Wilhelm - Am Sonntag Exaudi.

Hofacker, Wilhelm - Am Sonntag Exaudi.

Text: Joh. 7, 33-39.
Da sprach Jesus zu ihnen: ich bin noch eine kleine Zeit bei euch, und dann gehe ich hin zu Dem, der mich gesandt hat. Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und da ich bin könnt ihr nicht hinkommen. Da sprachen die Juden unter einander: wo will dieser hingehen, dass wir Ihn nicht finden sollen? Will Er unter die Griechen gehen, die hin und her zerstreut liegen, und die Griechen lehren? Was ist das für eine Rede, dass Er sagt: ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich bin, da könnt ihr nicht hinkommen? Aber am letzten Tage des Festes, der am herrlichsten war, trat Jesus auf, rief und sprach: wen da dürstet der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt: von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geiste, welchen empfangen sollten die an ihn glaubten; denn der Heilige Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht verklärt.

Wie unser HErr Jesus Christus in Knechtsgestalt einherwandelte, aber doch zugleich sagen konnte: „ich bin ein König, ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen“, so hat auch das Wort, das Er der Welt verkündigt hat, bis auf den heutigen Tag ein göttliches und königliches Gepräge. Zwar auf der einen Seite geht auch das Wort Christi, wie Er selber, einher in Knechtsgebärden; es hat keine weltliche Gestalt noch Schöne; wer deswegen keinen Sinn und kein Auge hat für seinen inneren Adel, kommt leicht dazu, es zu verachten, gering zu schätzen, wohl gar zu verunglimpfen; denn es trägt seinen Schatz in einem irdenen Gefäße. Aber auf der andern Seite spricht es doch zugleich ein angeborenes und göttlich bestätigtes Recht an, königlich zu gebieten und zu befehlen. Das Wort Jesu Christi kommt an dein Herz heran, nicht gleichsam demütig flehend um Schonung und Duldung; nein, es nimmt Herrschaft in Anspruch, und zwar Alleinherrschaft. Es will nicht einer von den vielen Sternen menschlicher Weisheit und Erkenntnis sein, die am nächtlichen Himmel der gefallenen Menschheit funkeln; nein, es will das Reich allein inne haben, wie auch die Sonne allein die Königin des Himmels ist und alle andere Lichter und Sterne erbleichen macht. Deswegen fordert es von dir Anerkennung und Unterwerfung, und zwar unbedingte und gänzliche Unterwerfung. Es spricht entweder oder! entweder du beugst dich mir und erkennst meine Herrschaft, und lässt mein Zepter ein gerades, ein richtiges, ein ungebogenes Zepter sein; und dann neige ich mich zu dir und reiche dir den Schlüssel zu den Schatzkammern des Heils Gottes; oder aber du steifst deinen Nacken, du bist reich und satt in eigener Weisheit, und verbittest dir meinen segnenden Einfluss, nun, so siehe zu, wie du zurechtkommst, und klage nicht, wenn du hungern und darben musst, da du doch durch mich reich und selig in deinem Gott sein könntest! Entweder du ergibst dich mir ganz und ungeteilt, auf dass ich dich kröne mit Gnade und Barmherzigkeit; oder du verschließt dich mir in deines Herzens Härtigkeit und gehst dafür auch leer aus an Trost und Frieden und seliger Hoffnung. Ein Drittes gibt es nicht. Darum sorge, dass du das gute Teil erwählst und das Eine, was Not ist, ergreifst, auf dass es nicht von dir genommen werde in Ewigkeit. So spricht das Wort Gottes. Und wer will auftreten und behaupten, dass es nicht ein Recht habe, also zu sprechen? Ist es nicht das Wort des höchsten Mundes? Ist es nicht gleichsam der sichtbare Stellvertreter des unsichtbaren Gottes? Ist es nicht der Großbotschafter des Königs aller Könige, des HErrn aller Herren, und kann deswegen auch im Namen seines HErrn demütige Unterwerfung und Gehorsam unbedingt fordern von allen Menschenkindern, von Hohen und Niederen, von Gebildeten und Ungebildeten? Wie ernst, wie eindringlich, wie entscheidend. das Wort des HErrn mit den Menschenkindern zu reden wisse, davon gibt. unser heutiges Evangelium einen deutlichen Beweis.

Betrachtet daher mit mir

des HErrn Ernst und des HErrn Freundlichkeit in Seiner dringenden Aufforderung an uns, das Eine, was Not ist, zu suchen und zu ergreifen.

Christus redet in unserem Texte als Einer, der Gewalt hat. In Seinem heiligen Ernst, wie in Seiner einladenden Freundlichkeit, in Seinem Drohen und Strafen, in Seinem Locken und Ermahnen steht Er gleich groß vor unsern Seelen; und es wird deswegen gewiss nicht ohne mannigfaltigen Segen für unser Herz sein, wenn wir Ihn nach. diesen beiden Seiten näher ins Auge fassen, und die heiligen Strahlen Seiner holdseligen Gnade sowohl als Seiner richtenden Wahrheit in. unsere Herzen eindringen lassen.

I.

1) Der Heiland befand sich, als er unsere heutigen Textes-Worte sprach, auf dem Laubhüttenfest zu Jerusalem. Die großen Taten, die Er verrichtete, die mächtigen eindringlichen Reden, die Er an das versammelte Volk hielt, brachten eine große Gärung hervor unter der aus allen Teilen des Landes zusammengeströmten Menge. Die Einen fielen ihm zu und sprachen: Wenn der Messias kommen wird, wird er wohl auch mehr Taten tun, denn dieser tut? Ein anderer Teil wurde unwillig und sprach: Nein! Er verführt das Volk: wie kann Er die Schrift, so Er sie doch nicht gelernt hat? Die Pharisäer und Schriftgelehrten aber lauerten auf Ihn und gingen schon damit um, ihre Mordplane wider Ihn zu fassen und ihre geheimen Schlingen Ihm zu legen. Jesus aber erkannte wohl im Geist, dass noch kurze Zeit Ihm zugemessen sei: darum erhob Er auch Seine Stimme wie eine Posaune, um noch zur Buße zu rufen, wer Ohren habe zu hören, und mit Ernst Jeden, der sein Herz nicht verstockt hätte, zu bitten, dass er doch bedenken möchte, was zu seinem Frieden dient. Aus diesem Drang Seiner suchenden Liebe stammt denn auch das ernste Wort des HErrn, das am Anfang unseres heutigen Evangeliums steht: „Ich bin noch eine kleine Zeit bei euch; dann gehe ich hin zu Dem, der mich gesandt hat.“ Benutzt, will Er sagen, benutzt die kurze Frist, die ich noch unter euch bin! Eilt und schafft, dass ihr selig werdet, ringt danach, dass ihr durch die enge Pforte eindringt! Denn wahrlich! es ist noch um ein Kleines, so ist die große durch mich euch gewordene Gnadenzeit vorüber; die Stunde des Heils ist dann abgelaufen: ist sie unbenutzt vorübergegangen, so ist. sie verloren; ist sie zerronnen, so ist sie zerronnen; und euch bleibt dann nichts als das Nachsehen, das Nachsuchen, das Nachweinen.

Und wir, meine Lieben! haben wir etwas Anderes zu erwarten, wenn wir die Zeit unserer Heimsuchung nicht wahrnehmen und bedenken wollen, was zu unserem Frieden dient? „Das Leben ist kurz, seine Aufgabe groß,“ hat ein alter heidnischer Weltweiser gesagt, und der Sohn Gottes sagt Ja und Amen dazu. Unser Herz soll erneuert und dieser Geist soll wiedergeboren werden; die Vergebung der Sünden soll von uns erfleht, unser Glaube in Christo gewurzelt und gegründet werden, die sündlichen Glieder, die auf Erden sind, sollen getötet, die Augenlust und Fleischeslust ausgezogen werden. Die tausenderlei Pflichten unseres irdischen und himmlischen Berufes sollen geübt, die tausenderlei Versuchungen der Welt zur Sünde unter unsere Füße getreten werden; die Früchte der wahren Gottseligkeit sollen an unserem Lebensbaum zur Reife gebracht, unsere Heiligung, ohne die Niemand den HErrn schaut, vollendet werden in der Furcht Gottes: kurz, unser ganzer Mensch nach Leib, Seele und Geist soll erneuert und geheiligt werden durch und durch, auf dass wir einen reichlichen Eingang erlangen in das Reich unseres HErrn und Heilandes Jesu Christi. Wahrlich, das ist keine kleine Aufgabe, die gelöst, das ist kein geringes Ziel, das erreicht werden soll! Und doch eilt unsere Zeit vorbei im Sturmesflug; doch sind unsere Tage nur einer Hand breit; doch, ehe wir es uns versehen, fällt die Krone unseres Lebens ab und wir stehen da entblättert und entwurzelt. Bereitet oder nicht bereitet müssen wir vor unsern Richter treten, um zu ernten, was wir gesät, um einzuheimsen, was wir gepflanzt haben; denn es bleibt bei dem unveränderlichen Ratschluss: Was der Mensch sät, das wird er ernten (Gal. 6, 7.); Preis und Ehre und unvergängliches Wesen denen, die mit Geduld in guten Werken getrachtet haben nach dem ewigen Leben, Trübsal aber und Angst allen den Seelen, die die Wahrheit aufgehalten haben in Ungerechtigkeit; denn vor Gott ist kein Ansehen der Person (Röm. 2, 9-11.). Und wenn uns dann das Heil Gottes so nahe oder eigentlich noch viel näher gewesen ist, als dem Volk Israel; wenn wir hören durften die Stimme Seines Mundes und vernehmen durften die Stimme Seiner Einladung; wenn wir schauen durften den Reichtum Seiner Gnade und schmecken durften die Freundlichkeit Seiner suchenden Liebe; und wir haben solche teure Gnade gering geachtet, wir sind solchen Einladungen aus dem Wege gegangen in unseres Herzens Blindheit und Unverstand; wir haben solche Anerbietungen mit Füßen getreten um schnöden und vergänglichen Gewinns, um der Dinge dieser Welt willen: sagt an, welche Verantwortung häufen wir da auf den Tag des Gerichts? welche Todesschuld wälzen wir auf unser Gewissen auf die Zeit, da der Ruf Gottes an uns ergeht: Deine Gnadenfrist ist abgelaufen; tue Rechnung von deinem Haushalt vor Dem, der da recht richtet! Und mit dieser edlen kurzen Gnadenzeit gehen so Viele unter uns um, wie wenn sie gar nichts auf sich hätte: Lage, Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte werden von ihnen hinaus geschleudert, wie wenn sie Millionen von Jahren zu vergeuden hätten. Und wenn sie zurückblicken auf ihre Lebenszeit, vielleicht schon nahe am Grabe, vielleicht schon stark gemahnt an den morschen Bestand ihrer zerbrechlichen Hütte; was gewahren sie? Da liegt ein Brachfeld vor ihnen ausgebreitet, das Disteln und Dornen getragen: zwar hie und da sind auch einzelne Halme, bessere Entschlüsse und Vorsätze aufgeschossen; aber ganze Strecken ihres Lebensgebietes sind vom Unkraut überwuchert; die Pflugschar der Buße hat niemals tiefere Furchen gezogen, der Tau und der Regen der göttlichen Gnade konnte niemals die starre Eisrinde ihres Gemüts durchbrechen. Die Vögel des Himmels haben den Samen des göttlichen Worts wieder davon getragen und die Erntezeit ist vor der Türe; statt dass sie ihre Garben bringen, konnten sie nur mit Mühe etliche Halme zusammenraffen, und auch diese sind ärmlich und traurig genug, um damit nie einen Eingang zu erlangen in die himmlischen Scheunen. Ach dass sie hören möchten die Stimme Jesu Christi, die vielleicht zum legten Male an sie ertönt: Du bist noch eine kleine sie Weile auf Erden: eile, errette deine Seele. Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten (Eph. 5, 14.)!

Seele, Seele, es ist Zeit;
Tod ist nah' und Ewigkeit!

Dies ist ein Wort, das auch die Toten wecken und den Verstocktesten erschüttern sollte.

2) Wir sind jedoch mit der ernsten Aufforderung des HErrn zu suchen und zu ergreifen das Eine, was Not tut, noch nicht ganz zu Ende. An jene Erinnerung nämlich, dass Er noch kurze Zeit bei ihnen sein werde, schloss Er die bedenkliche Warnung und Drohung an: „Ihr werdet mich suchen und nicht finden, und wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.“ Eine bedenkliche und furchtbar ernste Äußerung! Anderswo sagt der Heiland: „Sucht, so werdet ihr finden; denn wer da sucht, der findet“; hier ruft der Heiland mit heiliger Richterstimme aus: „Ihr werdet mich suchen und nicht finden; und wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen!“ Sie deuteten es auf eine Reise, die Er zu den unter die Heiden zerstreuten Juden machen werde; Er aber deutete es auf Seinen Hingang zum Vater, nach welchem für Viele in Israel die Gnadentüre zugeschlossen und trotz ihres Anpochens nicht mehr geöffnet würde. Denn es gibt auch ein Suchen, das zu spät kommt, dem kein Frieden mehr zu Teil wird; ein Suchen, wie es beim reichen Mann zum Vorschein kam, der noch in der Ewigkeit Linderung und Milderung seiner Qual suchte, aber nicht mehr erlangen konnte; ein Suchen, wie es nach dem Zeugnis der Schrift bei Esau der Fall war, der sein Erstgeburtsrecht um einen Spottpreis verkauft, und von dem der Apostel spricht: Wisst, da er den Segen ererben wollte, ist er verworfen; denn er fand keinen Raum zur Buße, wiewohl er sie mit Tränen suchte (Hebr. 12, 17.). Wer Ohren hat zu hören, der höre doch das herzdurchbohrende, zermalmende, niederschmetternde Wort: Es gibt ein Suchen, wo es zu spät ist, wo kein Finden, keine Erhörung darauf folgt.

Ferne sei es von mir, euch mit diesem Worte zu erschrecken und verzagt zu machen. Verschüchterte und blöde Seelen in der Gemeinde, die ihr euch selber darüber anklagt, dass ihr nicht fleißig, nicht ernstlich, nicht treu und unablässig genug den HErrn sucht, die ihr vielleicht in eurem Kleinglauben sprechet: Der HErr hat mein vergessen; Er hat Sein Angesicht vor mir verborgen; ich suche ihn, aber Er lässt sich nicht finden; - wisst: den Blöden ist Er hold, und Er ist nahe denen, die Ihn suchen und die Ihn mit Ernst suchen; euch lässt Er gewiss noch das Licht aufgehen mit dem Heil unter Seinen Flügeln, und auch ihr werdet, wie Andreas (Joh. 1, 41.) ausrufen: wir haben den HErrn gefunden! Aber euch soll dieses ernste Wort aus dem Schlummer der Sorglosigkeit wecken, die ihr, wie die Juden in unserem Evangelium, die Zeit eurer Heimsuchung nicht bedenken wollt und in eurem Herzen sprechet: unser HErr kommt noch lange Zeit nicht; es hat noch gute Weile. Vorerst wollen die Betörten das Leben noch recht genießen; vorerst wollen sie ihr Herz guter Dinge sein lassen; vorerst wollen sie kaufen und verkaufen, freien und sich freien lassen, erwerben und hantieren; vorerst trachten sie nach dem Reich dieser Welt und hoffen, dann werde ihnen am Ende noch von selbst zufallen das ewige Leben, denn sie hoffen, es noch an sich zu raffen wie einen Raub, sie hoffen mit ein paar Sterbegebeten und mit dem letzten Abendmahlsgenuss so weit zu kommen als mit einem Leben im Glauben des Sohnes Gottes, als mit einem Wandel in den Fußstapfen des HErrn der Herrlichkeit, als mit einem fruchtbaren Wachstum in der Gnade und Erkenntnis Jesu Christi. O besinnt euch wohl, ob eure Rechnung euch nicht trügen wird! besinnt euch wohl, ob es auch wahr ist, dass ihr noch Raum zur Buße findet! besinnt euch wohl, ob, wenn es bei euch auch noch zum Suchen kommt, euer Suchen gekrönt wird mit einem seligen und freudigen Finden der Perle des ewigen Lebens. Das Suchen habt ihr nicht in eurer Gewalt, das Finden noch viel weniger; denn Gott ists, der Beides in euch wirken muss, das Wollen und das Vollbringen nach Seinem Wohlgefallen. O könnte ich den Vorhang lüften, der die sichtbare Welt scheidet von der unsichtbaren! Da könntet ihr viele unstete und flüchtige Geister sehen, die Ruhe suchen und sie nicht finden können, die Reinigung ihrer Schuld begehren und sie doch nicht erlangen. Sie haben Brandmale in ihrem Gewissen, und weil sie versäumt haben, zur rechten Zeit sie hinwegtilgen zu lassen durch das Blut Jesu Christi und durch den Geist ihres Gottes, so sind sie damit gezeichnet vor Gott und vor den Menschen; denn die Schrift sagt: Weil sie zur rechten Zeit die Ruhe des HErrn nicht gesucht, so habe Er geschworen in Seinem Zorn, sie sollten zu ihrer Ruhe nicht kommen (Hebr. 3, 11.): ihr Wurm stirbt nicht und ihr Feuer verlöscht nicht (Mark. 9, 44.), spricht der HErr, der treue und wahrhaftige Zeuge.

II.

1) Wie ernst, wie dringend ernst, des HErrn Wort uns mahnt, zu suchen und zu ergreifen in guter Zeit das Eine, was Not ist, haben wir mit innerem Beben gesehen. Wie freundlich, wie dringend freundlich es aber zu gleicher Zeit uns einladet, Seiner erbarmungsvollen Gnade uns in die Arme zu werfen, sei nun der zweite Gegenstand unserer Betrachtung.

Am letzten Tag des Festes, das am herrlichsten war, erzählt unser Evangelium, trat Jesus auf und sprach: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ Wenn in irgendeinem Worte Christi die neutestamentliche Gnade und Wahrheit mit aufgedecktem Angesicht uns entgegenleuchtet, so ist es in diesem herrlichen und großartigen Einladungswort, das uns aber umso herrlicher und großartiger erscheinen muss, wenn wir die zeitlichen und örtlichen Verhältnisse uns vergegenwärtigen, unter welchen es ausgesprochen worden ist. Sie entflossen nämlich der Lippe Christi am letzten Tage des Laubhüttenfestes, der der herrlichste und feierlichste war, an dem Tage, an welchem der Priester mit der goldenen Schale in der Hand vom Tempel die hohe Marmortreppe zum Teiche Siloah herunterstieg, und umringt von Priestern und Leviten und von einer großen Volksmenge aus der klaren Quelle Wasser schöpfte. Mit der vollen Schale stieg er wieder hinauf in den Tempelhof, stellte sich daselbst auf eine Erhöhung und goss die Schale mit den Worten des Propheten aus: ich will Wasser gießen auf das Durstige und Lebensströme auf die Dürre (Jes. 44, 3.) indem Er damit auf das Wunder des ehemaligen Pilgergangs durch die Wüste zurückwies, wo der HErr den Dürstenden Wasser gab aus dem Felsen, den Mosis Stab ihnen geöffnet hatte. Diese vorbildliche feierliche Handlung war nun gerade vorüber; in dichten Scharen drängte sich noch das Volk im Tempel und im Tempelhof: da trat Jesus auf eine Erhöhung und indem Ihn jammerte der verlorenen Schafe aus dem Hause Israel, die verschmachtet waren, wie Schafe die in der Irre gehen, ließ Er den Hirtenruf zur unversiegbaren Quelle ertönen und rief: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ Hiermit hat Er sich Seinem Volk als den von Gott verordneten und mit dem Geist ohne Maß gesalbten Heiland und Seligmacher angeboten, bei dem Leben und volle Genüge zu finden sei: hiermit hat Er die Schatzkammern der Erkenntnis und Weisheit, der Gnade und Wahrheit, die in Ihm verborgen liegen, aufgetan und Jedermann, der nach Seinem Heil verlangte, feierlich eingeladen, um zuzugreifen und reich und selig zu werden durch Ihn. Und wie Er dort stand, inmitten Seines Volkes, umringt von Seinen Stammgenossen, so steht Er noch jetzt, seitdem Er erhöht ist zur Rechten der Majestät, inmitten Seiner Gemeinde, und wo das Evangelium erschallt als Botschafter des Friedens und des Lebens, da ertönt zugleich auch Sein gnadenvoller Zuruf: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ Ja auch heute in dieser Versammlung ist Er allgegenwärtig nahe mit Seinem Geist und Seinen Gaben; wo ein Herz ist, das nach Ihm sich sehnt, wo ein Ohr ist, das für Seine Stimme offen steht, das darf jenen Zuruf auch auf sich beziehen, und der trostvollen Überzeugung sich überlassen: auch ich bin gemeint, wenn der HErr den Hirtenruf zur frischen Quelle durch die Welt tönen und das große Einladungswort durch die Gaue der Christenheit dringen lässt: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ In dreifacher Hinsicht aber soll dieses große Einladungswort an unser Herz schlagen.

Erstlich schon um seiner Allgemeinheit willen: „Wen da dürstet“, spricht der HErr: also Alle ohne Ausnahme sind eingeladen, Keiner ist ausgeschlossen, Alle sind Ihm lieb und wert und angenehm. Bei wem nur ein Verlangen nach Licht und Erkenntnis, nach Frieden und Ruhe, nach Vergebung der Sünden und Rechtfertigung des Lebens, nach Heiligung und Reinigung von der Befleckung des Geistes und Fleisches, nach Erlösung und Vollendung des innwendigen Menschen sich regt: Alle sind eingeladen, Gerechte und Ungerechte, Fromme und Gottlose, Anfänger und Geförderte, Kinder in Christo und Männer in Christo, Kranke und Gesunde, Lebende und Sterbende. Sodann wie bereitwillig bietet Er Jedem, der da dürstet, die Heilsgüter Seines Namens an; das Einzige, was Er verlangt, ist: Komme! „Wen da dürstet, der komme zu mir!“ Nichts als Durst brauchen wir mitzubringen. Der HErr ist gleichsam ein großer Kaufmann, der seine Speicher voll hat, und er ruft uns zu: Kommt, es ist Alles bereit! kommt und nehmt, so viel ihr bedürft, und es freut mich, wenn ihr kommt. Der HErr ist also zugänglich für Jedermann; „wer zu mir kommt“, spricht Er anderswo: „den will ich nicht hinausstoßen“ (Joh. 6, 37.). Ja, wie freut sich Sein Herz, wenn ein verlorenes Kind, das nirgends sonst Ruhe und Frieden findet, endlich unmittelbar zu Ihm selber kommt, dürstend und schmachtend zu Seinen Füßen niedersinkt, um sich zu laben und zu erquicken aus Seiner unerschöpflichen Gnadenfülle! Wahrlich, wie der Hirte die verlorenen und wiedergefundenen Schafe auf seine Achseln nimmt und sich freut des Fundes; wallt und brandet Sein Herz voll unendlicher Liebe, wenn eine Seele sich Ihm öffnet, in die Er ausgießen kann die Ströme des ewigen Lebens. Und wie reichlich fließen endlich diese aus Ihm, dem Heilsbrunnen, da Er die ganze Welt einlädt, zu kommen und zu trinken. Die ganze Menschheit darf trinken und doch wird er nicht leer; ganze Geschlechter und Nationen haben schon getrunken und doch fließt er noch fort in unerschöpflicher Fülle: den Kranken bringt er Heilung, den Schmachtenden Erquickung, den Schwachen Stärkung, den Müden Labung und Erneuerung. Und zu Allen, die die löchrigen Brunnen dieser Welt nicht mehr befriedigen, zu einem Jeden, der an den Bächen der Lust, des Besitzes, des Genusses nicht mehr Gefallen findet, kann gesagt werden: kommt herbei und werdet nicht müde zu schöpfen aus der unversiegbaren Quelle.

Und jede Seele, die dem Rufe gefolgt ist, die aus Seiner Fülle geschöpft hat Gnade um Gnade, rühmt es dem HErrn nach, was ein frommer Sänger gesungen hat:

Ach mein HErr Jesu! Dein Nahesein
Bringt großen Frieden ins Herz hinein.
Und Dein Gnadenanblick
Macht uns so selig,
Dass Leib und Seele darüber fröhlich
Und dankbar wird.
wüssten es doch alle Leute,
Die Er mit Seinem Blut erkauft,
Wie schad' es ist, dass nicht noch heute
Ihm Alles in die Arme lauft,
Und wie so gut es Jedermann
Noch heute bei Ihm haben kann!1)

2) Aber auch mit dieser Einladung hat sich die Freundlichkeit des HErrn noch nicht erschöpft. Er knüpft noch eine Verheißung an dieselbe an, die unstreitig zum Höchsten und Herrlichsten gehört, was wir im Bibelbuch lesen können: „Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt“, - setzt er hinzu -, „von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen.“ Johannes aber setzt erläuternd hinzu: „Das sagte Er aber von dem Geiste, welchen empfangen sollten, die an Ihn glaubten. Also nicht bloß Befriedigung der edelsten Bedürfnisse für seine eigene Person bekommt derjenige, der dürstend und suchend zu Jesu kommt: nein, das Wasser, das ihm der HErr gibt, wird in ihm selbst ein Brunnen, von dem Ströme des lebendigen Wassers überfließen. Wahrlich! hier stehen wir auf einer Höhe, gegen die so manche andere Verheißungen der Bibel nur wie niedrige Hügel uns erscheinen müssen. Nicht bloß Ruhe und Frieden und Heiligung für sein eigenes Herz soll der Gläubige erlangen, sondern er soll durch Christum zu einem Werkzeug der Gnade geheiligt werden, durch welches auch andere Seelen erquickt, erfreut, gebessert, gewonnen und gerettet werden. Ja, das sollte gerade eine Frucht Seiner Erhöhung und Verklärung, gerade das eine Folge der Ausgießung des Heiligen Geistes sein, dass auch die Glieder an Seinem heiligen Leibe Kanäle Seiner segnenden, Seiner heiligenden und erneuernden Gnade werden, durch welche das Leben, das in Christo ist, auch auf Andere übergeleitet wird.

Seht da, meine Lieben, das ist die biblische Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen auf Erden! Alle, die an Ihn glauben, sollen gesalbt werden mit dem heiligen Geist.

Wie das Salböl vom Haupte Aarons herabfloss auf alle seine Glieder, so fließt von unserem erhöhten Haupte das Salböl des Geistes herab auf alle die Seinen, und hierdurch werden sie tüchtig, Zeugen Seiner Herrlichkeit, Boten Seines Friedens, Lichter in der Welt zu sein unter einem verkehrten und unschlachtigen Geschlecht, und trog der anklebenden Schwachheit und Sündhaftigkeit soll ihre Arbeit nicht vergebens sein in dem HErrn; sondern sie sollen hingehen und Frucht bringen, und ihre Frucht soll bleiben in Ewigkeit.

Ist nicht die Verheißung unseres Textes bereits in eine großartige Erfüllung gegangen? Sind nicht von den Aposteln, die zuerst an den HErrn glaubten, Ströme des lebendigen Wassers geflossen, so dass wir nach 1800 Jahren noch kommen, um aus diesen Wasserströmen der Erkenntnis und Wahrheit zu schöpfen? Wie viele Kirchenlehrer hat die Kirche Christi aufzuweisen, die nicht bloß für ihre Zeit Leuchttürme waren, sondern deren Licht noch in unsere Zeiten herüberscheint! Und wenn nun ein nachdenkender Leser über ihren Büchern sitzt, und das Salböl des Geistes teilt sich seiner Seele mit: sind das nicht Ströme des Geistes, die fort und fort noch von ihnen fließen?

Und wenn uns auf unserem eigenen Pilgerweg ein Mann in Christo, ein Vater in Christo begegnet ist, bei dem wir Rat in mancherlei Anliegen, Aufrichtung unter mancherlei Druck, Zurechtweisung bei mancherlei Verirrung, Stärkung in mancherlei Schwachheit des Glaubens gefunden haben; hat nicht auch in ihm die Gnade Christi Sein Wort zur Wahrheit gemacht: Wer an mich glaubt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen? - Freilich, Mancher wird denken, so weit reicht es bei mir nicht hin; meine Gaben sind zu schwach, meine Erkenntnis zu dürftig, meine Erfahrung zu unvollständig: ist ja doch bei mir oft Alles wie vertrocknet und verschlossen und ich muss seufzen: Wer wird mich erlösen von dem Leibe des Todes? Nun gut, es ist auch nicht nötig, dass du ein solcher Brunnen wirst, aus dem Ströme des lebendigen Wassers in weite Fernen fließen, wenn du nur in deinem einfachen, von Gott dir angewiesenen Kreise als Vater und Mutter, als Nachbar und Freund, als Erzieher und Lehrer das ganz bist, wozu Er dich heiligen und erneuern will! Du kannst doch in deinem Hause, in deiner Familie, in deiner Gemeinde ein Priester Gottes werden; und von einer priesterlichen Seele gehen Ströme des ewigen Lebens aus, auch ohne das Wort: ihr Werk im Glauben, ihre Arbeit in der Liebe, ihre Geduld in der Hoffnung kann nicht vergebens sein; der HErr weiß ihr ein solches Gepräge aufzudrücken, dass sie, wenn auch in stiller Demut und Zurückgezogenheit doch als ein Licht in dem HErrn leuchtet und ihren milden Strahl auch über ihre Umgebungen verbreitet. Alles kommt darauf an, dass du deine Natur durch die verklärte Natur Christi heiligen lässt, und vor Allem fleißig dein priesterliches Recht der Bitte und Fürbitte übest. Wie ein Springbrunnen mit klarem Strahl das Wasser emporsendet und es dann in tausend erfrischenden Tropfen wieder herabgießt, so ist es mit dem Gebete, und so soll es auch mit deinem Gebete werden, wenn du dich durchdringen lässt von der Gnade, die von Ihm ausströmt. Folge nur erst recht Seinem Worte, das als freundlicher Zuruf, aber zugleich als ernster Weckruf heute wieder an dich ergeht: wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ dann wird auch an dir beides wahr werden, was Gott einst dem Abraham verheißen hat: ich will dich segnen und du sollst selbst ein Segen werden (1. Mos. 12, 2.). Amen.

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autoren/h/hofacker_w/hofacker_w_exaudi.txt · Zuletzt geändert: von aj
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