Hofacker, Wilhelm - Am dritten Sonntage des Advents.
Text: Jes. 40, 1-8.
Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott; redet mit Jerusalem freundlich, und prediget ihr, daß ihre Ritterschaft ein Ende hat, denn ihre Missethat ist vergeben; denn sie hat Zwiefältiges empfangen Von der Hand des HErrn, um alle ihre Sünde, es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem HErrn den Weg, machet auf dem Gefilde eine ebene Bahn unserm Gott. Alle Thäler sollen erhöhest werden, und alle Berge und Hügel sollen geniedriget werden, und was ungleich ist, soll eben, und was höckricht ist, soll schlecht werden: denn die Herrlichkeit des HErrn soll geoffenbaret werden; und alles Fleisch mit einander wird sehen, daß des HErrn Mund redet. Es spricht eine Stimme: Predige! Und er sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Heu, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Heu verdorret, die Blume verwelket; denn des HErrn Geist bläset darein. Ja, das Volk ist das Heu. Das Heu verdorret, die Blume verwelket; aber das Wort unsers Gottes bleibet ewiglich.
In den verlesenen Worten ist ein Laut aus längst vergangener Zeit zu unfern Ohren gedrungen. Die Hallen des alten Bundes haben in ihnen sich vor uns aufgeschlossen, um ein seliges Wort der Gnade und Wahrheit, das der Väter Herz ehemals erquickt und erfreut hat, zu uns herüberzusenden und auch unser Gemüth noch dritthalbtausend Jahren zur nämlichen Freude und zum nämlichen Frieden zu stimmen. Jesajas heißt der theure Gottesmann, dessen Mund so theure, so evangelische Worte entflossen sind, und dessen großartigem Sehergeiste so helle Blicke in das Reich der Gnade und Wahrheit aufgethan wurden. Wie ein Adler zur Sonne emporsteigt, und mit gewaltigem Flügelschlag zu immer höheren Luftregionen sich aufschwingt, und dann ruhig im Himmelsblau sich wiegend herabschaut auf der Menschen Länder, die vor seinen Blicken, obgleich durch scheidende Grenzen und Ströme getrennt, dennoch friedlich neben einander liegen, indem auch die höchsten, schroff abgrenzenden Gebirge nur wie kleine Wellen erscheinen auf dem großen Länderocean; - so hat sich der große Schergeist eines Jesajas im kühnen Adlerflug zu den Sonnenhöhen der ewigen Gnade und Barmherzigkeit aufgeschwungen, und vor seinem Blick fallen nun die Grenzen, die den alten und den neuen Bund theilend von einander scheiden, in nichts zusammen, der Zaun des Gesetzes ist vor seinen Augen abgethan, und sein Herz ergeht sich nun freudetrunken in den sonnenhellen Fluren der in Christo erschienenen Gnade und Wahrheit. Darum klingen auch seine Worte in unserer sonntägigen Abendlection so neutestamentlich, so evangelisch, daß man wähnte, sie seien dem neuen Bunde entsprossen, und haben Inhalt und Farbe aus diesem entlehnt. Wie an der Pforte des neuen Bundes ein Engel stand und jenen Hirten zurief: „Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren soll“: so steht Jesajas hier, sieben Jahrhunderte vorher, als ein Engel des Friedens vor uns und spricht: „Tröstet, tröstet mein Volk.“ Wie wir in den Tagen des Menschensohnes einen Johannes den Täufer als Herold dem kommenden Könige des Himmelreichs voranschreiten sehen, so sprach schon 700 Jahre früher Jesajas: „Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste, bereitet dem HErrn den Weg,“ - und wie im höchsten Glanz der Sohneswürde Jesus auftrat und sprach: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“ (Matth. 24, 35.), so frohlocket Jesajas schon zum Voraus tiefem Könige der Wahrheit entgegen: „Alles Fleisch ist Heu - alle seine Herrlichkeit wie eine Blume auf dem Felde; aber das Heu verdorret und die Blume verwelket, nur des HErrn Wort bleibet in Ewigkeit.“ So ähnlich, so gleichförmig lautet die Sprache des alten und des neuen Bundes. Und warum das? Darum, weil sie aus einem Quell entflossen sind, weil sie aus einem Geiste stammen. Und deßwegen dürfen wir im Blick aus den alten wie den neuen Bund sprechen:
Wort aus Gottes Munde,
Wort vom Friedensbunde!
Evangelium!
Quelle wahrer Freuden,
Trost in allem Leiden,
Unser höchster Ruhm!
Gotteskraft,
Die Glauben schafft!
Frohe Botschaft, uns zum Leben
Selbst von Gott gegeben!
Von der Herrlichkeit des Wortes Gottes handelt auch unsere Abendlection, und wir werden unsere dießmalige Betrachtung nicht besser heiligen können, als wenn wir geradezu bei diesen Gedanken länger stehen bleiben und mit einander betrachten die Herrlichkeit des Wortes der Wahrheit. Sie besteht
- in dem unversiegbaren Troste, den es darreicht;
- in der bahnbrechenden Gewalt, die ihm verliehen ist;
- in der ewigen Jugend, mit welcher es alle Zeit und alle Geschlechter überdauert.
I.
1) Die Herrlichkeit des Wortes der Wahrheit offenbaret sich vor allen Dingen durch den unversiegbaren Trost, den es darreicht. Schon im alten Bunde war es Aufgabe des Wortes der Wahrheit, die Betrübten zu trösten, die Verwundeten zu heilen, die Bekümmerten zu erquicken, die Müden zu laben. „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott, redet mit Jerusalem freundlich.“ Diese Aufforderung ergieng vom obersten Thron im Himmel an alle Propheten, und in diesem Berufe bestand ein Haupttheil des Amts, das sie in Israel zu übernehmen und zu führen hatten. Nicht bloß mit dem Hammer des Gesetzes die felsenharten Herzen zu zerschmeißen, nicht bloß mit dem Donner der göttlichen Gerichte die Verächter und Gottlosen aus dem Todesschlafe zu wecken, war ihre Aufgabe; nein, auch trösten sollten sie die Traurigen, und freundlich reden mit denen, die bekümmerten und zerschlagenen Herzens waren. Und ach, wie Viele gab es dieser Art im Volke Israel, namentlich in den Zeiten des Verfalls und der allgemeinen Versunkenheit; wie Viele trauerten in der Stille über des Volks Sünden und ihre eigenen Sünden; wie Viele schmachteten nach einem Troste aus dem unversiegbaren Quell der göttlichen Wahrheit und Gnade; wie Viele lagen darniedergestreckt unter dem schweren Gerichte des rächenden Arms Jehovah's, der ihre und ihrer Väter Missethat heimsuchte bis in's dritte und vierte Glied, und sein huldreich Angesicht hinter den schwarzen Gewitterwolken seines Zornes verborgen hatte. Für sie war es wohl ein seliger Himmelslaut, wenn sie den obersten Kabinetsbefehl an alle Propheten und Diener des HErrn ergehen hörten: „Tröstet, tröstet mein Volk.“ Für sie war es recht ein frohes Morgenlicht, das die Dunkelheit ihrer traurigen Trostlosigkeit durchzuckte, wenn es hieß: „Redet mit Jerusalem freundlich.“ Schon das, daß der Heilige in Israel in Gnaden an sie denke; schon das, daß ihr Schmerz und ihre Trauer Ihm nicht verborgen und verhüllt sei; schon das, daß er Friedensgedanken über ihnen habe, und aus seiner Fülle mit Trost und mit Erquickung ihre Herzen laben wolle, schon das war Balsam für ihre Herzen, schon das war Oel in ihre Gewissenswunden, schon das war Wasser des Lebens für ihre vertrockneten Lippen.
Ist's nicht auch so bei uns, den Kindern des neuen Bundes? Offenbart sich uns die Herrlichkeit des Wortes der Wahrheit nicht auch in unversiegbarem Troste, den es uns darreicht? Wenn wir in Trauer und Betrübniß gehüllt sind, und unser Herz vergeblich nach Trost und Beruhigung ringt, ist's nicht ein mächtiger Lichtstrahl, der durch die Dunkelheit des Innern bricht, wenn das Wort der Wahrheit uns zuflüstert: sei getrost und glaube nur; der HErr kennt dich und deinen Schmerz; deine Tage mit Allem, was sie dir bringen oder nehmen, sind alle auf sein Buch geschrieben, und ohne seinen Willen darf auch kein einziges Haar von deinem Haupte fallen? Oder wenn wir im Tiegel der Trübsal liegen und das Feuer der Läuterung uns zusammenschmelzt, also, daß auch der Glaube schwach und zaghaft werden will, und die Hoffnungslampe nur noch raucht und am Verlöschen ist, und das Wort der Wahrheit tritt vor unsere Seele und flüstert uns zu: „Das kommt vom HErrn, von dem nur gute und vollkommene Gaben herab kommen, bei welchem ist kein Wechsel des Lichts und der Finsterniß, - Er ist's, der Treue und Wahrhaftige; der große Schmelzer, der an deinem Tiegel sitzt, will dich reinigen und läutern in dieser Hitze der Trübsal, auf daß dein Glaube viel köstlicher erfunden werde als das vergängliche Gold, das siebenmal durch's Feuer durchläutert ist,“ - und die Seele kann dieses Wort fassen und gläubig sich darein senken: o so ist der Trübsal der herbste Stachel bereits zerbrochen, und in den Leidenskelch fällt ein Tropfen nach dem andern ewigen, himmlischen Trostes. Oder es wird uns schwer, Christo das Joch der Selbstverleugnung und der Schmach vor der Welt nachzutragen, und es will uns zuweilen zu hart dünken, so daß wir es lieber abschüttelten und der Welt wieder zuliefen, von der wir ausgegangen, wenn wir nicht gehalten wären durch die unsichtbar bewahrende Treue unseres Gottes; aber das Wort der Wahrheit tritt nun in's Mittel und weist uns hin auf die Vollendung, die Christus durch Leiden des Todes und Selbstentäußerung erlangt hat, und zeigt uns, wie auch wir zur Aehnlichkeit und Ebenbildlichkeit feines Wesens nur in der gleichen Schule vollendet werden können, und der Glaube kann sich das zueignen: ist das nicht ein Labetrunk, der in der Wüste uns zu Theil wird, daß wir getröstet und erneuert laufen können, ohne müde zu werden, wandeln können, ohne matt zu werden? Sehet da! in solch tröstender Kraft erweist sich hauptsächlich die Herrlichkeit des Wortes der Wahrheit. Wenn Menschentrost und Welttrost zerrinnt und versiegen geht, wenn Menschengunst und Menschenehre und Menschentheilnahme in der Trübsal zurückweicht und ihr mattes Licht verlöschen läßt, dann gerade geht die Herrlichkeit des Wortes Gottes am hellsten in unserem Herzen auf und verbreitet besänftigendes Licht und milden, himmlischen Trost. Das eben ist ein Vorzug des göttlicher: Wortes, daß es gerade in der Dunkelheit leuchtet und da Helle gibt.
2) Und was für einen Trost gibt es denn? Was ist der Inhalt des Trostes, den wir daraus schöpfen können? Sein Trost ist ein unversiegbarer. Die Welt tröstet auch, sie spricht: die Zeit werde die Wunden heilen; sie spricht: man müsse sich eben schicken lernen in die Umstände. Das sind irdische Trostgründe, wie sie bei Muhamedanern oder Heiden im Gange sind. So aber tröstet das Wort Gottes nicht; es tröstet nicht oberflächlich, sondern von innen heraus. Das Wort Gottes sucht bei uns nicht bloß die Wogen der Trauer und Betrübniß, die das Gemüth des Erdenpilgers überfluthen, wieder abzuleiten, nein, es geht weiter zurück, es geht auf den Mittelpunkt, auf die Quelle alles Jammers und alles Elendes zurück, und sucht diese zu verstopfen; denn ist diese verstopft, dann richtet sich das Gemüth von selbst wieder auf und ersteht aus dem Thränenbade gestärkt und getröstet. Wo aber hat denn alles Elend und aller Jammer seine letzte Wurzel? Was macht denn alles Unglück hienieden recht bitter und schwer? Wodurch wird denn das trauernde Gemüth erst recht mit dem Todesstachel der Verzagtheit gefoltert? Das ist die Sünde, die uns im Spiegel des bösen Gewissens unsere Schuld und unsere Verdammlichkeit entgegenhält und in allem Kreuz und Leiden nur die herben Strafen unserer Uebertretungen schmecken und fühlen läßt. Das ist die Sünde, die uns den freudigen Zugang zum Gott alles Trostes und Friedens raubt, und uns deßwegen zurückscheucht von der einzigen Trostquelle in die einsame Todesstille unseres Jammers und Elends, und uns festschmiedet am Gebirge unserer eigenen Trostlosigkeit. Und darum bietet der HErr den größesten, den unversiegbarsten, den herrlichsten Trost uns an, wenn Er in dem Worte der Wahrheit uns sagen läßt: „saget ihr, daß ihre Ritterschaft ein Ende habe, daß ihre Missethat vergeben sei und sie nun Zwiefältiges empfangen werde von der Hand des HErrn um all ihre Sünde.“ Das ist der evangelische Glaubenstrost, der Glaubenstrost, der selbst mitten in der Trübsal unser Herz aufrecht erhält, ja der selbst mitten im Rachen des Todes unser Inneres nicht verschmachten und verzweifeln läßt. Zu den Trostbedürftigen, den Leidtragenden, den Armen im Geiste tritt das Wort des HErrn und spricht: Siehe, dein Knechtsdienst unter dem Fluch und der Dienstbarkeit des Satans und des Gesetzes hat ein Ende, du darfst die Waffen deines Eigenwirkens und eigener Anstrengung, mit denen du nur in die Luft gestreichet, nicht mehr tragen, denn ein anderer Kriegsheld ist gekommen, und hat für Alle einen Sieg erfochten, und ist auf der blutigen Wahlstatt, auf Golgatha, als Ueberwinder der Sünde und des Todes, des Teufels und der Hölle gefallen und hat Alles vollbracht. Darum ist euch die Missethat vergeben, der Zugang zum Gnadenthron aufgethan, die Pforten des Paradieses aufgeschlossen, und statt Fluch erlangt ihr zwiefältigen Segen, statt Verdammniß zwiefältige Gnade, statt Trauer zwiefältige Freude, statt Tod zwiefältiges Leben. Denn vom Stuhl der ewigen Majestät geht das Wort des Lebens aus: saget ihr, daß ihre Ritterschaft ein Ende habe, daß ihre Missethat vergeben, daß sie Zwiefältiges erhalten werde. Sehet da! dieß ist der Trost der Vergebung der Sünden, der rechte lebendige Glaubenstrost. Offenbart sich hierin nicht die Herrlichkeit des Wortes der Wahrheit? Wo ist ein Trost, wie er hier zu finden? Wo ist eine Lebensluft, wie man sie hier athmet? Wo ein solcher Friedensstrom, wie er hier fließet? Wo eine solche Seelenweide, wie sie hier im üppigsten Grün unsern Blicken sich darstellt?
II.
1) Jedoch die Herrlichkeit des Worts der Wahrheit offenbart sich auch in der bahnbrechenden Macht, die ihm vom HErrn verliehen ist. Nicht bei Allen kann das Wort der Wahrheit als Wort des Trostes und der Gnade Gehör finden. Zwar sind wir Alle, wenn wir richtig über unsern innern Zustand nachdenken, des Trostes sehr bedürftig, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil unser Leben von so manchen Trübsalen umgeben ist. Aber dennoch gibt es gar Viele, welche dieses Trostes gar nicht zu bedürfen wähnen; sie sind ruhig und getrost in ihrem Wesen, sie wandeln sicher und sorgenlos ihre Straße; sie hüpfen vielleicht leichtfertig und leichtsinnig durch's Leben, und sind bezaubert von der Lust und Herrlichkeit der Welt. Sie kann und will das Wort Gottes nicht trösten. War es ja doch in Israel auch so; als der HErr erschien auf Erden, da mußte ein Johannes der Täufer vorangehen; er mußte den Weg erst bahnen, damit der süße Trost des Evangeliums in die Herzen hineinfallen könnte. Und dieser Johannes war ein Prediger in der Wüste: er war dies nicht bloß, weil er in der Wüste auftrat und das Volk hinausströmte in die öden Gegenden des israelitischen Landes, um sein Wort zu vernehmen, sondern weil es auch wüste und öde und verwildert aussah in der Menschenwelt, die sich um ihn her drängte. Ja, freilich umgab ihn damals eine Wüste, eine Wüste, in der der Glaube keine Blüthen, die Liebe keine Knospen, die Gottseligkeit keine Früchte trug. Wie herrlich stand darum dieser Prediger da! Die Welt um ihn her war genußsüchtig, er war genügsam und lebte von Heuschrecken und wildem Honig; die Welt um ihn her liebte den Tand und die Eitelkeit, er war zufrieden mit dem Gewand aus Kameelshaaren und seinem ledernen Gürtel; die Welt um ihn her hatte glatte Zungen und Otterngift auf ihren Lippen, er lehrte den Weg des Lebens recht und sagte Jedem die Wahrheit und heuchelte nicht; die Welt um ihn her wußte zu kriechen und sich zu schmiegen und den Mantel nach dem Wind zu hängen, er aber gieng frei heraus mit der Sprache und sagte zu Herodes auch auf die Gefahr der Ungnade hin: du bist der Mann des Todes! - und so leuchtete er herrlich wie ein Leuchtthurm in dunkler und gewitterschwarzer Nacht.
Ist das nicht fort und fort, wie im alten Bund, so noch jetzt die Stellung des Wortes der Wahrheit zu der Welt, in der es auftritt? Ist es nicht fort und fort noch ein Prediger in der Wüste, wo die Ungeheuer der Leidenschaften und Begierden hausen, und die Bestien der Ungerechtigkeit und Sünde auf Raub und Untergang lauern? Die Welt ist gebildet worden, sehr gebildet, vielleicht überbildet, und hat den Ueberwurf des Anstandes über sich hergebreitet: das Wort bleibt bei seinem schlichten und einfachen Rocke, den ihm der Herr der Herrlichkeit schon vor tausend Jahren angelegt hat; die Welt sucht Ränke und macht viele Künste und ladet sich Lob und Ehre auf, nach dem die Ohren jücken: das Wort Gottes bleibt bei seiner geraden und offenen Sprache und nennt fort und fort das Schwarze schwarz und das Weiße weiß. Die Welt ist genußsüchtig geworden und hat nur einen Trieb, die Mittel ihrer Genußsucht zu vermehren, und immer neue Reize und Befriedigung für die veränderliche Vergnügungssucht aufzufinden: das Wort der Wahrheit bleibt bei seinem Anathema Maharam Motha (1 Kor. 16, 22.): wer den Herrn Jesum nicht lieb hat, sondern die Welt lieb hat und was in der Welt ist, der ist verflucht. Die Welt ist weichlich geworden und mag nichts mehr hören von dem Zorn Gottes, von den Strafgerichten seiner rächenden Hände, von den Zuchtruthen, die sein allmächtiger Arm über Einzelne und ganze Länder und Nationen zu schwingen wisse, das Wort Gottes aber behaut bei seiner eisernen Strenge, daß der Zorn Gottes sich offenbare vom Himmel über alles gottlose Wesen und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit aufhalten (Röm. 1, 18.). So, meine Lieben, kämpft das Wort der Wahrheit an gegen eine Welt voll Lüge, voll Eitelkeit, voll Finsterniß und Unglauben; es ist ein zweischneidig Schwert, das durchdringet, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein. Und wer wird wohl als Sieger auf dem Kampfplatz bleiben? Der einzige Mann im kameelshaarenen Rock hat ganz Israel das Maul gestopft, also, daß sie ihm nichts antworten konnten; darum wird sich auch die Herrlichkeit des Wortes Gottes darin offenbaren, daß es alle Lügengewebe menschlicher Kunst und Weisheit zerhaut, und zuletzt als alleiniger Sieger auf der Wahlstatt bleibt. Eben darin offenbart sich seine Herrlichkeit, eben darin zeigt sich seine unüberwindliche Siegesmacht.
2) Jedoch noch eine besondere Aufgabe weist der HErr dem Worte Gottes in der Abendlection an: die Thäler soll es erhöhen, die Hügel soll es erniedrigen; das Ungleiche soll es gerade und das Höckerichte soll es eben machen. Mit diesen vier Fällen sind auch vier Gemüthsbeschaffenheiten angegeben, welche nur das Wort Gottes ändern und in das rechte Geleise bringen kann. - Die Thäler sollen erhöht werden; - hier ist nicht das Thal der Demuth gemeint, in dem ein jeder Christ einhergehen soll; das sind die Thäler des Kleinmuths, der Verzagtheit, der Muthlosigkeit; aus diesen soll das Gemüth herausgehoben und mit Glaubensmuth, mit Freudigkeit, mit Zuversicht zu dem Gott aller Gnade, zu dem Vater aller Barmherzigkeit erfüllt werden, und ach! wie oft schon ist dem Worte Gottes dieser Sieg gelungen! Jener Gichtbrüchige, der zum HErrn gebracht wurde, der befand sich in diesem Thal des Kleinmuths und der Zaghaftigkeit; als er aber aus dem Munde Jesu das Trostwort vernehmen durfte: deine Sünden sind dir vergeben, so wurde dieses Thal erhöht. Jene Sünderin, die zum HErrn kam, die keine Worte für ihre Traurigkeit und ihren Schmerz in der Buße hatte, sondern nur Thränen der Trauer und Wehmuth, ja sie war auch in dem Thal des Kleinmuths und der Zaghaftigkeit, aber dieses Thal wurde erhöhet, es wurde ausgefüllt, als Jesus sprach: sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin im Frieden. Und jener Schächer am Kreuze, der da sprach: ich empfange, was meine Thaten werth sind, und sich zu Jesu wandte mit der Bitte: HErr, gedenke an mich, wenn Du in Dein Reich kommst! der befand sich auch im Thal der Kleinmüthigkeit, aber eben deßwegen wehte ihm der Mund der Wahrheit Himmelslüfte zu, als Er sprach: Heute wirst du mit mir im Paradiese seyn. O wie weiß so das Wort Gottes zu erquicken und zu trösten! Darum ihr, die ihr noch seufzet und ringet nach Vergebung und nach einem Gewissenstrost, ihr, die ihr euer Haupt noch hängen lasset wie Schilf und beim Anblick des Glaubens eurer Brüder sprechet: solchen Glauben möchte auch ich haben, seid unverzagt, eure Trauerthäler sollen ausgefüllt werden, und auch ihr werdet noch eure Kniee in Dank und Anbetung beugen und dem Herrn der Herrlichkeit es zuschwören: In Ihm habe ich Gerechtigkeit und Stärke.
Die zweite bahnbrechende Macht des Wortes Gottes ist abgebildet in dem Worte: die Berge und Hügel sollen geniedriget werden. Damit sind nicht die Berge der Verheißung und des Glaubens gemeint, auf welche sich der Glaube stellen und festen Fuß darauf fassen soll; sondern es sind die Berge des Hochmuths, der Eigenliebe, der Eigengerechtigkeit, der Hoffahrt, des Selbstvertrauens. Diese müssen abgetragen, diese müssen durch das Wort der Wahrheit erniedriget werden. Es kann dieß zuweilen auf einmal geschehen, wie bei jenem Saulus auf dem Wege nach Damascus der Berg seines Trotzes, seines hochfahrenden, schnaubenden Wesens: o wie wurde dieser Berg wie von einem gewaltigen Erdstoß niedergeworfen, so daß Saulus auf den Knieen bebend und zitternd fragte: HErr, was willst Du, daß ich thun soll? - Jener Berg der Eigenliebe und der Hoffahrt kann auch nach und nach abgetragen werden, wie der HErr an einem Joseph bewies, den er durch lange und fortgesetzte Demüthigungen führte, bis sich der Ansatz von Eitelkeit, der sich in seinem Herzen durch die Bevorzugung seines Vaters angelegt hatte, durch die herbe Lauge in der Gefangenschaft und Sklaverei, und endlich noch im Gefängniß losgeschält hatte. Die Wege des HErrn sind nicht gleich; aber alle gehen dahin, daß das Wort der Wahrheit die Berge erniedrige und die Hügel verringere.
Die dritte bahnbrechende Gewalt des Wortes Gottes drückt der Prophet mit den Worten aus: und was höckericht ist, soll eben werden. Es gibt veränderliche Gemüther, deren inneres und äußeres Leben gleichsam wellenförmig sich hinbewegt; das eine Mal sind sie in der Höhe, das andere Mal in der Tiefe, das eine Mal im Himmel, das andere Mal in der Hölle. Sie machen sich mit dieser Veränderungslust selbst viele Schmerzen. Aber das Wort Gottes hat eine ebnende, eine zurechtbringende, eine ausgleichende Gewalt; es soll diese höckerichten Gemüther ebnen: und das vermag es, wie wir z. B. bei Petrus sehen. Wie uneben, wie höckericht war sein innerer Lebensgang; wie stand er so hoch, als er sprach: wenn sich auch Alle an Dir ärgerten, so will ich mich doch nicht an Dir ärgern; und wie stand er wieder so tief, als er hinausgieng und anhub zu weinen. Aber wie hat der HErr dieses Gemüth, das so treu an Ihm hieng, nach und nach in das Geleise hinübergeführt, so daß er für Viele ein Werkzeug ward zur Seligkeit, wie auch der HErr zu ihm sprach: wenn du dich dermaleins bekehrest, so stärke deine Brüder.
Aber der HErr setzt endlich noch hinzu: auch der unebene Weg soll gerade werden; was ungleich, was schlangenförmig gewunden ist, das soll gerade werden. Es gibt versteckte, schlangenförmige Gemüther; wie sie nicht ehrlich und aufrichtig sind gegen die Menschen, so sind sie es auch nicht gegen den HErrn ihren Gott; sie machen versteckte Schlangenwindungen: wie es Wege gibt, die fort und fort im Zickzack sich hinziehen, auf welchen der Wanderer seiner Wanderung nicht froh wird, weil sie auf unnöthige Weise seinen Gang in die Länge ziehen; es sind krumme, falsche und heuchlerische Menschen, bei denen man nie recht weiß, wo man mit ihnen daran ist. Zu diesen schlangenförmigen Gemüthern gehörten zur Zeit Jesu die Pharisäer; und über solche Herzen hat der HErr ausgesprochen: eher werden die Hurer und Zöllner in's Himmelreich kommen, denn ihr schlangen glatten Betrüger. Aber was bei den Menschen unmöglich ist, das ist doch dem HErrn und seinem Worte möglich. Auch solche Gemüther kann das Wort der Wahrheit in das rechte Geleise bringen. Wie das Eisen, wenn es auch noch so krumm gebogen ist, wenn es in's Feuer kommt, durch die Hammerschläge zurecht gebracht werden kann, so können auch solche Gemüther durch den Hammer der Trübsal und das Feuer der Leiden noch gerade gemacht werden. So hat der HErr in der Gluthhölle der Anfechtung schon manches krummgebogene Herz erweicht und es wieder gerad gebogen und zur Aufrichtigkeit vor Ihm zurückgeführt, daß es die Lügenlarve von sich geworfen und vor Ihm in seiner wahren Gestalt sich geoffenbart hat. Und eben darin offenbart sich die Herrlichkeit des Wortes der Wahrheit, das ein Hammer ist, der die Felsen zerschmeißt, und ein Feuer, das die eiskalten Herzen zerschmilzt.
III.
So ist das Wort der Wahrheit belehrend, beruhigend, -stärkend und zurechtweisend. Doch noch eins ist zurück, was unsere Abendlection zur Verherrlichung des Wortes der Wahrheit zum Schlusse noch anführt, was ich nur noch im Vorübergehen kurz berühren und dann eurem weiteren Nachdenken zu Hause überlassen will. Es ist die ewige Jugend des Wortes der Wahrheit. Denn es spricht eine Stimme zum Propheten: predige, -und er sprach: was soll ich predigen? Die Antwort aber war: Alles Fleisch ist wie Heu, und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume. Das Heu verdorret, die Blume verwelket; aber des HErrn Wort bleibet in Ewigkeit. Gibt es etwas, was die Herrlichkeit des Wortes Gottes in helleres Licht stellen könnte, als eben diese seine ewige Jugend? Alles um dasselbe her hat sich verwandelt, Geschlechter sind gekommen und gegangen. Jahrhunderte sind gekommen, Jahrtausende sind gekommen, Völker, Zeiten, Gesetze, Staatsverfassungen fielen wie welke Blätter auf den Boden der Vergänglichkeit. Ein Weiser verdrängt den andern, eine Weisheit die andere. Ein Reich ist gefallen um's andere: die Reiche von Assyrien, von Babylon, von Griechenland, von Rom sind darniedergesunken und mit ihren Trümmern wurden viele Erdtheile bedeckt: das Wort Gottes ist geblieben; aus den Trümmern selbst geht es immer wieder hervor in ewiger Jugendkraft. Sehet die Berge an, die um unsere Stadt her liegen; seit Jahrtausenden stehen sie und alle Frühlinge bedecken sie sich mit frischem Grün, und treiben neue Blüthen und neue Früchte; so tritt auch das Wort Gottes über die vermodernden Gebeine immer wieder in neuem Schmucke hervor. Seine Kraft ist nicht verwelklich, sein Leben ist unvergänglich. Sehet die Quellen und Gesundbrunnen an, zu denen man eilt, um Genesung und Hebung aller Uebel zu holen: sie strömen seit Jahrhunderten und Jahrtausenden in gleichem Gehalt, und haben ihre Kraft noch nicht verloren, sich noch nicht umgewandelt; denn ihr Wasserstrahl kommt aus der Tiefe, die unzugänglich ist den Veränderungen, die die Oberfläche der Erde treffen; so ist das Wort der Wahrheit eine ewig frische und junge Quelle: aus ihr haben getrunken die Väter des alten Bundes, aus ihr die Kämpfer des neuen sich gelabt, und fort und fort ist sie ein Brunnen des Heils aus den Tiefen der Gottheit, die Dürstenden labend, die Verschmachtenden erquickend., Nehmet nur unsere heutige Abendlection. O wie hat sie das trostbedürftige Volk des alten Bundes mit einem unversiegbaren Trost erfüllt, und wie haben wir nun nach dritthalbtausend Jahren diesen Nachmittag aus ihr getrunken, und sind erquickt worden, und siehe, die Kraft derselben ist dieselbe gewesen, wie Gott ewig derselbe ist, wie Christus, der da gestern und heute derselbige, derselbige ist in Ewigkeit. Darum bleibe auch dieses Wort der Wahrheit unsers Herzens Trutz und Stütze, unsere Freude und unser Trost, unsere Kraft und unser Leben, unser Schmuck, unsere Freude und unser Ruhm in Ewigkeit. Wenn wir hienieden noch schauen in einem dunkeln Spiegel, so werden wir es dort schauen von Angesicht zu Angesicht; und wenn wir hienieden der Leuchte folgen, so wird uns drüben aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und des ewigen Lebens. Denn das Heu verdorret, die Blume verwelket, die Herrlichkeit des Menschen vergehet, aber des HErrn Wort bleibet in Ewigkeit. Amen.
Quelle: Hofacker, Wilhelm - Predigten für alle Sonn- und Festtage