Heuser, Wilhelm - Der Kämmerer, ein lehrreich Vorbild göttlicher Seelenführung.
Predigt
von
W. Heuser.
evang.-luther. Pfarrer in Wupperfeld.
Die mannichfaltigen Wege, auf welchen Gott Netze spannt, um Seelen zu sich zu ziehen, lassen sich freilich nicht zählen, und die verschiedene Weise, wie er hie und dort dem Einen und Andern den Weltdienst verleidet, die Sünden verbittert, seine Liebe eindrückt, und ihn zu seinem seligen Umgang gewöhnt, läßt sich nicht überblicken. Im Gewöhnlichen laufen diese Wege allerdings nach der Richtschnur jenes Wortes, das einst Paulus und Barnabas Apostelgesch. 14, 22. den Jüngern sagten: „daß wir durch Trübsal müssen in das Reich Gottes gehn.“ Ach, wir sind ja im Stande, den Dingen dieser Welt mit einer Liebe anzuhangen, welche das Herz ganz und gar von dem lebendigen Gott abzieht; wir können ja so heftig von diesen buntfarbigen „wasserlosen Wolken“ eingenommen, gefesselt, befriedigt, bezaubert werden, daß sie der einzige Gegenstand sind, um welchen sich, als um ihre Achse, alle unsre Sorgen und Ueberlegungen drehen ihre Bilder drängen sich uns unwillkührlich vor die Gedanken, und fliegen selbst dann störend dazwischen, wenn wir uns absichtlich und mühsam auf Höheres und Besseres richten. Daran mag man es merken, daß oftmals bittre Wege eingeschlagen werden müssen, wenn das Herz diese magnetische Kraft überwinden und seine nichtigen Abgötter fahren lassen will, und es risse sich das Herz vielleicht nimmer von ihnen los, wenn die Hand Gottes nicht zuvorkäme und den Abgott vom Herzen risse. Das bezeugen Alle, die durch trübe Schickungen von dem Unbestand, der Trostlosigkeit und dem Truge der sichtbaren Dinge überführt werden mußten, um nun auf den Trümmern zusammengebrochener, irdischer Bauten „das Theil zu erwählen, das nicht soll von ihnen genommen werden.“ Sammlen wir die Aussprüche derselben: darin werden sie alle übereinkommen, daß sie gestehn: wir suchten Jahre lang unser Theil in dieser Welt, wir saßen wie die Träumenden um „die löcherichten Brunnen“ herum und tanzten in sorglosem Leichtsinn um goldne Kälber, aber da - und nun weichen ihre Bekenntnisse von einander ab. Der Eine zeigt aufs Krankenbett und spricht: das war die Stätte, wo ich die Gesundheit der Seele erlangte; da ich anfing, die Hinfälligkeit meines Lebens zu fühlen, da lernte ich auch das Eine, das Noth ist, erkennen und suchen. - Der Zweite nennt dir die Kränkungen, die er erduldet, die Verkennungen, die er erfahren. Da er die Achtung, womit man ihm früher entgegenkam, und das Zutrauen, das man ihm gewährte, verlor, da wandte das zerrissene Herz zu seinem Gott sich hin und in ihm fand es seinen Frieden, seine Ruhe, sein unzerstörbares Glück. - Der Dritte frohlockt über die Bedrängnisse, die er ertrug. Verluste kamen auf Verluste, eine schwere Last der Sorgen wälzte sich auf seine Brust. Da triebs ihn, sie hinzuwerfen in den Schooß des himmlischen Sorgers, und in das ausgeschüttete Herz senkte sich der Trost Israels hinab. - Der Vierte weiset auf die Grabhügel seines Gatten, seiner Kinder; ach, da ihm sein Liebstes auf Erden genommen war, da lehnte er sich an das mütterliche Herz seines Gottes und breitete seine Hände hinauf zu den lichten Sternen, und wollte und mußte seiner theuersten Hoffnungen gewiß werden. - Und fünf und sechs und hundert solcher Wege, auf denen der Herr sich den Seelen nahet, die in der Entfernung von ihm leben, könnte ich Euch nennen; bald durch Leiden, bald durch Lieben sucht er uns für sein Reich zu gewinnen. Am heilsamsten aber ist es, unter diesen äußern Verschiedenheiten das Eine ins Auge zu fassen, was bei allen diesen Heimsuchungen Gottes wiederkehrt, das, was ihr gemeinschaftlicher Bestand ist, ihr innres eigentliches Wesen. Darüber soll uns heute die Geschichte des Kämmerers Unterweisung geben.
Text: Apostelg. 8, 26-39.
Diesen Auftritt aus der ersten apostolischen Zeit bringe ich darum vor Eure Betrachtung, weil er höchst geeignet ist, die Feier des eben zurückgelegten Pfingstfestes in der Kürze zu wiederholen; er soll uns als ein Nachklang des Pfingstfestes willkommen seyn. Die wechselnde Mannichfaltigkeit und die unverrückte Ordnung, in der der Geist Gottes wirkt; die Verschiedenheit der Leitungen und das Eine Ziel; die nach einander wirksamen Mittel und ihre zusammenstimmende Arbeit; die vielfältigsten Anregungen und die Eine und dieselbe Wahrheit, die in die Seele hineinleuchtet und sie durchstrahlt: dieses Alles wird uns in der vorgelesenen Geschichte so anschaulich vorgeführt, daß sie uns als ein Spiegelbild von diesem Allem gelten darf. Ich bitte Euch denn, sie so mit mir zu betrachten, daß wir darin:
Ein lehrreich Vorbild göttlicher Seelenführung
finden.
Dieses wollen wir in den vier Hauptpunkten der Geschichte erkennen: in der göttlichen Veranstaltung, die dabei unverkennbar ist, in der innerlichen Zubereitung, die dadurch erfolgt, in dem wachsenden Fortgang, womit sie sich entwickelt, und in dem seligen Ausgang, den sie nimmt.
I.
Die Geschichte, die sich mit diesem Hofmann der äthiopischen Königin Candaces zutrug, wird uns recht vollständig, d. h, in ihrem stillen Keimen und in ihren ersten Anfängen mitgetheilt. Diese verstecken sich sonst allerdings dem Auge des Beobachters; hier aber liegt das ganze Gewebe aufgedeckt vor uns; wir sehen in die geheime Werkstatt hinein, wo die Fäden angeknüpft werden, und durch was für eine Hand. Was sich hier uns aufschließt, das finden wir aber bei allen Seelenführungen: göttliche Veranstaltung; sie ist das Erste, was bei der Bekehrung eines Menschen zu preisen ist; wir hätten darum allein schon vollkommen recht, sie eine göttliche Führung zu nennen. Wir hören hier von einem gar vornehmen Staatsmann, der aus weiter Ferne gen Jerusalem gekommen, um im Tempel anzubeten, und der nun, nach vollbrachtem Dienste, seine Heimreise ins Mohrenland antritt. Aber über den Mann wachet - er weiß es nicht - ein höheres Auge. Während er in Jerusalem die Anstalten zu seiner Rückreise trifft und es überlegt, welche Straße er doch wohl nehmen solle nach Gaza, die westliche, welche gewöhnlich von den Karawanen bezogen wurde, und auf der er viel Gesellschaft finden wird, oder die südliche, welche über Bethlehem durchs Gebirge Juda, und dann durch eine öde Sandsteppe führte, die einsame und stille, hier „die Wüste“ genannt: da bekommt droben in Samaria der Apostel Philippus durch einen Engel des Herrn den Befehl, sich aufzumachen und auf die Straße zu ziehen, die von Jerusalem gen Gaza führt, und zwar nicht auf die meistbetretene, sondern auf die einsame, die wüste. Er bricht auf. Hatte er bis dahin als Menschenfischer in Samaria mit vielem Segen seine Angel geworfen, so wußte ers, die neue Ladung führe ihn einem neuen, reichen Seelenzug entgegen. Er lagert sich an den Weg und wartet auf seine Beute. So wohl und trefflich ist Alles eingerichtet. Wer ist's nun, der diese Einleitung getroffen und die Faden angeknüpft hat? „Du hältst mich,“ rühmt Assaph zu seinem Gott hinauf, „bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rath!“ „Du hältst mich bei meiner rechten Hand!“ Alles, was sich mit mir begiebt, das Schmerzlichste und das Allererfreulichste, das Kleinste und das Größte, ob ich dieses Weges ziehen muß oder eines andern, und daß mir dort Spur und Weg verzäunt, und durch hohe Mauern unüberwindlicher Schwierigkeiten verbaut ward, und daß hier auf einmal eine Bahn sich öffnet, wo das Thal gefüllt und das Höckrige eben gemacht war, und daß mir dort die überlegteste Berechnung zu Schanden wurde, da mir hier ein unvorgesehenes Ereigniß voranhalf - das liegt nicht in meiner Anordnung und Kraft, siehe! das ist die leitende Gotteshand, die über unserm Leben waltet, und alles füget und unsre Wege richtet. Wir rufen: Zufall! weil wir Kiesen verborgenen Zusammenhang nicht kennen; o, wir sollten es nie vergessen, von wem die Kette, Glied an Glied, geflochten wird, die sich durch unsre Tage windet, und daß „auch kein Sperling ohne den Willen unseres himmlischen Vaters vom Dache fällt und daß auch die Haare unsres Hauptes gezählt sind!“ Du hältst mich bei meiner rechten Hand. - „Du leitest mich nach deinem Rath.“ Was wollte Assaph mit diesen einfachen Worten ausdrücken? Daß eine jede dieser Fügungen eine höhere Abzweckung habe, daß jede göttliche Schickung eine Leitung der Seele nach Gottes Rath sey, daß alles hinaufstrebe, ein Pfingsten in dein Leben zu bringen, daß Gott deine Seele suche in allem, was dir in den Weg tritt, mag es nun als ein dunkler Schatten dich umhüllen, oder als ein heller Glücksschimmer vor dir glänzen, mag es der Untergang deiner Entwürfe oder der Aufgang deiner Hoffnungen seyn, mag es als ein lockend Vorbild gottseligen Sinnes und Friedens sich an dich drangen, mag es als ein schauervoll Exempel, wohin die Gottvergessenheit und der Leichtsinn führen, dich erschüttern, oder als ein dräuend Warnungszeichen, dir die Augen mit Schrecken öffnen über die Abgrundstiefen, an deren Rande du wanktest: überall Gottes Wink zu Ihm! „Du leitest mich nach deinem Rath.“ Jegliche Schickung ein Bote Gottes an dein Herz, jeglich Begegniß ein Engel des Herrn, der einen Philippus an deine Seite ruft mit der bittenden Stimme: „Eile und errette deine Seele!“ O würden dir die Augen geöffnet, wie Gehasi, du sähest sie noch jetzt auf allen deinen Wegen gelagert, diese Diener Gottes bemühet, dich zu dem himmlischen Zoar zu bringen. O hättest du Davids Glauben, du sähest es, wie der Herr Alles zu solchen „seinen Engeln macht, die Winde, wie es Ps. 104. heißt, und die Feuerflammen zu seinen Dienern;“ es wäre dir kein Zweifel, wenn blühende Ortschaften vor dir zu schaurigen Brandstätten werden, daß dann auf dem Schutte Philippus für dich eine Kanzel findet, um gerade dir zuzurufen: „meint ihr, daß diese vor allen Sünder gewesen, dieweil sie das erlitten haben? Ich sage nein! sondern, so ihr euch nicht bessert, werdet ihr also auch umkommen;“ es wäre dir das Allergewisseste, wenn eine verheerende Krankheit dunkle Todesflügel über viele Länderstrecken ausspannt und sie immer weiter und immer näher dehnet, daß das ein Herold Gottes ist an das ganze Geschlecht dieser Zeit, und insonderheit auch an dich, daß du ernstlich Buße thust und „geschickt werdest mit heiligem Wandel und gottseligem Wesen, und würdig werdest zu stehen vor des Menschensohn;“ es wäre dir unwiderleglich, es stände dir auf allen deinen Wegen und Stegen vor Augen: Alles, was ich erfahre und dulde, ist zu einem heiligen Zwecke verordnet, daß meiner Seele Heil widerfahre! Ach, warum erkennen und bedenken das nicht Alle? Auf, schicke dich Israel, und begegne deinem Gott!
II.
Seht, da fehlts denn dem Menschen meist an der rechten innern Zubereitung, an der willigen Aufnahme, an Lenksamkeit. Man muß der göttlichen Führung, die ja eine Führung, kein Treiben, kein Zwang ist, folgsam werden, nicht widerstreben. Um ein Exempel bin ich nicht verlegen; sehet doch nur den Kämmerer an! Er ist einer von den Männern, die zu der Zeit, von welcher geweissagt stand: „da will ich auch die Heiden bewegen,“ etwas zu suchen angefangen hatten. Damals fanden sich nämlich gar viele, die des heidnischen Götzendienstes und Greuels herzlich müde, sich von dem Glauben an den Einen lebendigen Gott mächtig angezogen fühlten, den das Volk Gottes bekannte. Die Zerstreuung Israels in so viele Länder der Erde hatte dieser Zahl allenthalben eine große Ausdehnung gegeben. Wenn in der heiligen Schrift von „gottesfürchtigen Männern und Frauen aus dem Heidenthum“ die Rede ist, so werden darunter solche verstanden, die sich dem Glauben an den Einen Gott angeschlossen hatten, ohne sich jedoch den levitischen Gebräuchen zu unterwerfen. Und der einer war auch unser Kämmerer. Sein „Dürsten nach Gott, nach dem lebendigen Gott“ hatte ihn nach Jerusalem geführt. Was denn anders? Eine tiefe Ahnung „von dem Heiligen in Israel“ war seinem Gemüthe aufgegangen. All das Gepränge seines vornehmen Standes hatte nicht vermocht, das Seufzen seiner Seele nach dem unbekannten Gott zu ersticken. All die Macht seines bedeutenden Einflusses konnte das Streben seines Herzens nach Frieden mit Gott nicht stillen. Das Vertrauen, das seine Herrscherin in ihn setzte, da sie ihm die Verwaltung ihrer Schatzkammer übertrug, die Reichthümer, womit sie ihn ehrte, die Auszeichnungen, die ihm, eine nach der andern, wurden, bis er die angesehenste Stufe im Königreich erstieg, gaben ihm kein Genüge. Ach, rief er oft in ernsten und einsamen Augenblicken aus: Eitelkeit aller Eitelkeiten! Was nützet mir dieser Unrath, der ich sterben muß, der ich eines Gottes gewarte, welcher heilig und gerecht ist! Werde ich, wenn ich über die Tausend meiner Gedanken, Worte und Werke vor Gottes Gericht gezogen werde, ein einziges davon rechtfertigen können? Ach, ich erkenne, der lebendige Gott ist, wie jenes Volk ihn bekennt, heilig und gerecht; aber diese Vollkommenheiten, die mich mit Anbetung und Schauer erfüllen, erfüllen mich auch mit Furcht und Bestürzung; jetzt fühle ich, die Huld dieses Gottes ist ein unschätzbares Gut, ist dem eignen Daseyn unendlich vorzuziehn! Wie wahr ist es doch, was ich aus dem Munde eines Königs in den Psalmen gelesen, die dieses Volk singt: „Deine Güte, Herr! ist besser denn Leben.“ Solche Gedanken mögen ihn lange und vielfältig beschäftigt haben, denn wir sehen es, sie werden ihm zu mächtig, sie reißen ihn mit sich fort. O ein gewaltiger Zug mit solch einem brennenden, unbefriedigten Durste der Seele! Er steht vielleicht noch lange an. Der weite Weg, - 150 Meilen, - das unbekannte Land, die fremde Völkerschaft, Sitte und Sprache, die amtliche Verpflichtung, die Fessel der Berufsgeschäfte, der Unwille der Gebieterin, wenn er vor ihr erscheint, Urlaub zu einer Reise zu erbitten, von der er selbst nicht recht zu sagen weiß, warum er sie antrete, nur, daß er etwas suche, - er steht vielleicht lange an; aber können solche Hindernisse eine Seele aufhalten, in der einmal die heilige Sorge erwacht ist um Gott und um den Besitz seiner Gnade und um die Gemeinschaft mit ihm und um ihr ewig Heil? der es Ernst, der es ein großes, das größte, das schwerste Anliegen damit geworden, und die, wenn nicht Salomos Worte, doch Salomos Sinn hat: „ich will meine Augen nicht schlafen lassen, noch meine Augenlieder schlummern?“ Nein! sie bricht durch! Er bittet um Urlaub und er erlangt ihn. Er erscheint in Jerusalem; bei seiner Gemüthslage ist es ausser allem Streit, er wird geforscht, er wird gefragt, er wird sich zu den Lehrern gesellt haben; er wird, wie einst der zwölfjährige Jesus sprach: „muß ich nicht seyn in dem, was meines Vaters ist?“ in die Kenntniß der großen Gottesdienste eingedrungen seyn, die er im Tempel verrichten sah; er wird der „heimlichen Weisheit“ nachgeforscht haben; o trefflicher Mann! warum trafst du, in deinem eifrigen Fragen und Suchen nach dem Heil Gottes, nicht früher schon einen Philippus, der dein sehnend Herz an dem Opfer Christi gestillt, der dein forschend Auge in den Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit erleuchtet hätte? - Und nun betrachtet ihn auf seinem Rückwege. Derselbe, nach dem Gott aller Hoffnung verlangende, nach Gerechtigkeit vor Ihm dürstende Mann! Warum hat er die stille Straße der belebtern vorgezogen? Keine Frage: Er will auf dem einsamen Wege das Gesehene, Aufgefaßte, Gehörte ungestört überdenken, ernsthaft beherzigen, kräftig in sich fassen, die empfangenen Eindrücke sollen tiefer gründen, stärker wurzeln und ihre völlige Reife erlangen. Trefflicher Mann, wie beschämest du uns, die oft nichts eilfertiger zu thun wissen, als wie wir doch nur bald dessen los werden, was uns ein Stachel im Herzen geworden ist und uns zu beunruhigen anfängt! Und was thut er auf dem Wege. Er lieset im Propheten. Er lieset laut; Philippus hört ja, daß es Jesaias ist; wollte er vielleicht auch seine Dienerschaft unterweisen, oder riß ihn der Adlerflug des begeisterten Sehers mit sich fort, oder wollte er sich das Verständniß erleichtern? Er versteht nicht, was er lieset, aber er ahnet so vieles; jedes Wort schließt ihm geheimnißvolle Tiefen auf, regt nie gekannte Empfindungen an, und bringt eine Welt voll Wunder vor das staunende Auge. Da weckt ihn eine seltsame Frage aus seinem Nachdenken auf. Ein armer Wandersmann hat sich dem langsam dahin fahrenden Wagen genähert, und ruft: „verstehst du auch, was du liesest?“ Rund genug und eckig zugleich ist die Frage, das ist wahr, aber ihn entrüstet sie nicht; „wie, antwortete er demüthig, wie kann ich, so mich nicht Jemand anleitet?“ Er wünscht, daß Philippus das thun möge, und bittet ihn, daß er einsteige und sich zu ihm setze. Was für ein Blicken nach Wahrheit und Licht! Je mehr wir mit dem Manne bekannt werden, und uns in seine Lage versetzen, wie sie doch wahrhaft seyn mußte, desto sprechender werden die Züge; so ist, das gestehen wir, die Gestalt einer Seele, die wir für die Wirkung des Geistes Gottes zubereitet nennen wollen, so bußfertig, so heilsbegierig, so alles dransetzend, so demüthig, so aufrichtig, so achtsam auf jeden Strahl des höhern Lichtes. Nun wohlan, halte ein jeder sein eigen Bild in dem Spiegel dieser Geschichte neben diese Erscheinung, vergleichend, prüfend: bist du der Art? oder gehst du, gleich den übrigen Tausenden, mit leichtem Sinne dahin, gedankenlos und thöricht, ohne höheres Bedürfniß, ohne Erwägung der Sünde, die in dir wohnt, ohne Gefühl deines Elends, nur für den gegenwärtigen Augenblick lebend, und von des Lebens Ernst so wenig wissend und um seine ewigen Angelegenheiten so wenig bekümmert, als der Vogel in der Luft, und die Blume auf dem Felde? Ich will es gar nicht sagen, wie beschämend für die Meisten mitten in der Christenheit das alles ist, was wir Rühmliches an diesem heidnischen Manne finden, und gehe lieber zum
III.
über, zu der bestimmten geschlossenen Entwickelung, in der die göttliche Führung einer erweckten Seele fortschreitet. Der Kämmerer hat das 53ste Capitel des Jesaias vor sich; und da finden wir ihn also mitten in den hohen Geheimnissen des Gottesreichs. Was mochte für Philippus erwünschter seyn, als hier anknüpfen zu können? Er predigt ihm das Evangelium von Jesu. Was mußten das dem Kämmerer für seltsame Worte seyn, von einem „Mann, der, wie ein Schaaf zur Schlachtung geführt, seinen Mund nicht aufgethan, wie ein Lamm vor feinem Scheerer verstummt, und in seiner Niedrigkeit sey er erhoben, und seines Lebens Länge rede keiner aus:“ welche Gegensätze, welche Unbegreiflichkeiten sind das! Philippus klärt ihm das auf, und wie der Schleier sich lichtet, da giebt es, wie wenige Wochen früher in der Gegend von Emmaus, da auch die Schrift geöffnet und in Christo aufgeschlossen wurde, „brennende Herzen.“ Philippus klärt es auf, wer das sey, dieses zur Schlachtung hingeführte Lamm, und was für eine Last es getragen; sagt ihm von dem, der da wohl hätte mögen Freude haben und achtete der Schande nicht, und kleidete sich in die Gestalt des sündlichen Fleisches, und ließ sich mit dem Allerwidrigsten, mit unsrer Sünde beladen; sagt ihm sein liebevolles Thun und sein bittres Leiden, die große Zahlung, die er für der Menschen Leben übernommen, den theuren Preis, den es gekostet, die heftige Arbeit, die wir seiner bis zum Tode betrübten Seele gemacht, das vollgültige Lösegeld, das er dargebracht, und die ewige Versöhnung und den unbeweglichen Frieden, die er gestiftet. Das Geheimniß des Kreuzes hören, mit einem kindlichen Glauben hören, gedrängt von der Ueberzeugung, die die Uebereinstimmung der Jahrhunderte, der Geist der Weissagung und das helle Zeugniß der Propheten aus dem Grabe grauer Vergangenheit erzeugt, - das zum erstenmal hören, die Erniedrigung dessen, der in des Vaters Schooß war und die Herrlichkeit beim Vater hatte und sich selbst dahingab, ein Fluch für uns zu werden am Holze; - zum erstenmal hören: das ist geschehen! - o durchschauert es dich jedesmal, wie oft du es schon vernommen, dein Innerstes zu Anbetung und Dank: was wird dies Evangelium dem geworden seyn, der, nach Versöhnung mit Gott dürstend, es zum erstenmal hört? Auch jetzt wird wiederum, wie immer, „in seiner Niedrigkeit sein Gericht erhaben.“ Das Herz schmilzt. Der Vorhang zerreißt. Die Schuppen fallen. Der Kämmerer fühlt, das heiße Lieben, Segnen, Seligmachen, das sey göttliche Liebe, so könne nur Gott sich einer gefallenen Welt erbarmen und eine ewige Errettung der Sünder ausführen. Dein Name, o Jesu, wird ihm groß! Du wirst ihm vor Augen gemalt in aller Schöne deines hohenpriesterlichen Schmuckes, und wie du vor ihm „einhertrittst, in röthlichen Kleidern, dein Gewand so rothfarb und dein Kleid wie eines Keltertreters,“ da wird auch dieser Mann „dir zur Beute gegeben.“ O wohl ihm, er beuget dir das Knie und auch seine Zunge bekennt, du seyst der Herr, zur Ehre Gottes, des Vaters.„ Er glaubt an deinen Namen. Er ist „wie eins, das Frieden gefunden hat“ in deinem Opfer seine Reinheit, in deinem Kreuz seinen Ruhm, in deiner Genugthuung seine Gerechtigkeit vor Gott! „Was hindert es,“ spricht er, „daß ich mich taufen lasse? Ich glaube, daß Jesus Christus Gottes Sohn ist.“ Und Philippus taufte ihn. - So entwickelt sich hier die göttliche Führung einer aufgeweckten Seele bis zur gläubigen Annahme Jesu Christi, bis zur völligen Uebergabe des ganzen Herzens, dem zum völligen Eigenthum, der sich uns ganz und gar zu eigen gegeben hat mit all seinem wunderbaren Heil. Das aber ist die Geschichte aller Seelenführungen Gottes: Zug des Vaters zum Sohn. Wir werfen noch zwei Blicke zuletzt
IV.
auf den seligen Ausgang. Davon brauche ich nur weniges zu sagen. Ich lese: „Philippus ward hinweggerückt vom Geiste des Herrn, und der Kämmerer sah ihn nicht mehr.“ Er hatte den einigen Bischof der Seelen erblickt und wird ihn von nun an nicht aus den Augen lassen, darum mag denn der, der ihm das Auge aufgethan, wieder zu andrer Arbeit eilen. Er hat die lebendige Quelle gefunden, und singt Davids: „der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Er „zog seine Straße fröhlich.“ Ja, wie anders denn? Was mich auch früher an diesem Manne in Verwunderung gesetzt hat, dies wundert mich am allerwenigsten. Wem das Heil Gottes aufgegangen ist, wer seinen Heiland, den Retter und Freund seiner Seele gefunden hat, der siebet eine lichte Bahn vor sich. Er zog seine Straße fröhlich. „Wie können die Hochzeitleute trauern, da der Bräutigam bei ihnen ist?“ Er hat die Liebe, die unglaubliche, die allüberschwängliche Liebe seines Gottes und Herrn erkannt: „ist Gott für uns, wer mag wider uns seyn? der seines eingebornen Sohnes nicht verschonet, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er mit ihm uns nicht alles schenken?“ Der Liebe, die sich für uns hat kreuzigen lassen, darf man wohl vertrauen. Er zog seine Straße fröhlich. O lerne sie fassen, mein Bruder, diese Liebe „erhaben in der Niedrigkeit,“ brennend in den allerheißesten Kämpfen, untersiegelt mit dem Blute Jesu Christi, lerne das sieghafte Vertrauen und die kindliche Hoffnung üben, die auf diese Liebe sich lehnt und nimmer läßt zu Schanden werden, und auch von dir wird es heissen: er ziehet seine Straße fröhlich. „Aber es stehet ja in der Nachfolge Jesu ein ernster Kampf bevor.“ Ja, es ist wahr. Er heißt: Verleugnung deiner selbst und der Welt. Aber wer sie in sich trägt, die überschwengliche Erkenntniß Jesu Christi, um dessen willen Paulus alles für Schaden und Koth erachtet, wer sie kennt, die Macht der Liebe Christi, von der wiederum Paulus sagt: „sie dringet mich;“ wer sie kennt, die Zuflüsse himmlischer Stärkungen, so oft man dem Gnadenstuhle nahet, der mag auch in der Stärke Gottes, seines Heilands, kühnlich zeugen: „ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christum.“ Er ziehet seine Straße fröhlich. „Aber sie ziehet sich vielleicht durch dunkle Thalschluchten hindurch, zu finstern Abgründen hin.“ Aber im dunkeln Thal sind seine Tröstungen Stecken und Stab, und über die Abgründe wölbet er Brücken, und in dem angreifendsten Ringen einer angefochtenen Seele bleibt doch der Brunnen, den das Haus Jacob wider alle Uebertretung hat ewig offen, und seine allgenugsame Versöhnung ein unerschütterlicher Ruhegrund: warum sollte es von seinen Gläubigen nicht heißen: sie ziehen ihre Straße fröhlich? „Aber die Kluft des Todes und die schauervolle Grabeshöhle?“ Wer des Herrn ist, fühlt sich von unsichtbaren Händen gehalten, es umfließet ihn im Sterben das Licht, es durchdringet ihn im Sterben das Vorgefühl einer bessern Welt. Während er, die sein Sterben sehen, durch den Frieden segnet, der sein Herz bewahrt in Christo Jesu, und ihnen den Wunsch erweckt: o daß unser Sterben seyn möchte, wie das dieses Gerechten, winken ihm Engel hinauf in die Gottesstadt, hinauf in das Erbe! Er ziehet seine Straße fröhlich. Amen.
Quelle: http://glaubensstimme.de/doku.php?id=verzeichnisse:quellen:rheinische_missionsgesellschaft_ezadw