Herbst, Ferdinand - Mein Freund ist mein - 5. Kap. 3, 1-5.
Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Ich will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht. Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umgehen: Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt? Da ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich halte ihn, und will ihn nicht lassen, bis ich ihn bringe in meiner Mutter Haus, in die Kammer der, die mich geboren hat. Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems, bei den Rehen oder Hinden auf dem Felde, dass ihr meine Freundin nicht aufweckt, noch regt, bis es ihr selbst gefällt.
Diese Verse erzählen uns von einem Traum, den Sulamith in ihrem Brautstand hatte. Darauf deuten die Worte hin: „Des Nachts in meinem Bette.“ Als sie schlafend auf ihrem Lager ruhte, tat sie alles, was in diesem Abschnitt geschildert wird. Wir haben uns das also nicht als einen tatsächlichen Vorgang zu denken. Wie hätte sie in Wirklichkeit des Nachts aufstehen, nach Jerusalem reisen und in den Straßen der Stadt herumwandeln können, um ihren Bräutigam zu suchen und ihn mit zu nehmen in ihr elterliches Haus! Wohl aber kann sie einen derartigen Traum gehabt haben. Was unternehmen wir oft im Traum für Reisen, was für wunderbare Dinge machen wir da durch, dass wir ganz ermattet oder auch ganz glücklich erwachen. So ist es gar wohl denkbar, dass die Braut dort in ihrem Elternhaus, von Sehnsucht nach ihrem Bräutigam erfüllt, im Traum nach Jerusalem reist und in den Straßen der Stadt sucht, bis sie ihn findet, und ihn einlädt, mit ihr zu gehen. Was des Tags ihre Seele beschäftigt, davon ist auch des Nachts ihr Herz voll. Ihr Wunsch, bei dem Geliebten zu sein, ihr sehnliches Verlangen nach ihm durchzieht auch ihre Träume. Bei uns ist es ja auch so, dass unsere Gedanken, Sorgen und Anliegen uns oft auch des Nachts im Traume beschäftigen. Insofern sind unsere Träume nicht ganz bedeutungslos, und können sie uns einen Blick in unser Seelenleben tun lassen. Warum träumen wir so viel von irdischen Dingen? Weil uns diese so sehr am Herzen liegen. Und warum so selten von dem Herrn Jesus? Weil Er uns eben nicht so wichtig ist, als es sein sollte. Würden wir den Herrn Jesum so lieben, wie wir sollten, mit wahrhaft bräutlicher Liebe, würden wir mehr sehnliches Verlangen haben, bei ihm zu sein allezeit, so würde Er auch wohl öfter Gegenstand unserer Träume sein.
Dieser Traum der Sulamith lehrt uns nun, wie eine den Herrn liebende Seele Jesum sucht. „Ich suchte, den meine Seele liebt,“ das ist der Hauptinhalt desselben.
Es ist schon etwas Großes, wenn eine Seele einmal anfängt, Jesum zu suchen; wenn sie nicht mehr das Geld sucht wie Judas und alle Geizigen, nicht mehr die Welt und ihre Freundschaft wie Demas, auch nicht mehr Ehre und Ansehen bei der Welt lauter Dinge, die uns nimmermehr befriedigen können. Wer sie sucht, wird bitter enttäuscht und geht als Betrogener an den Ort der ewigen Verzweiflung.
Was hilft die Welt in letzter Not?
Lust, Ehr und Reichtum in dem Tod?
Mensch, du läufst dem Schatten zu,
Das merke du,
Du kommst sonst nicht zur wahren Ruh.
Wie gut ist es, wenn da eine Seele sich einmal von dem allen abwendet und Jesum sucht! Einer solchen kann man Glück wünschen. Und darum möchte ich alle bitten: Sucht doch den Herrn Jesum! Dies eine ist euch not, Jesus. Ob ihr reich oder arm seid, ob vornehm oder gering, ob ihr in einem schönen Hause wohnt oder in einer Dachkammer, ob ihr schöne Kleider tragt oder einfache, ob ihr in glücklichen Familienverhältnissen lebt oder in unglücklichen - daran liegt im Grunde nicht so viel; lasst ein paar Jahre vergehen, so ist's ganz einerlei, ob das eine oder das andere der Fall gewesen ist. Aber das ist nicht einerlei, wie ihr zu Jesu steht, ob ihr den euer eigen nennen könnt oder nicht davon hängt euer ewiges Glück, eure ewige Freude ab. Benutzt die Zeit, wo ihr Ihn finden könnt. Jetzt ist Er euch nahe, jetzt kann Ihn jeder finden, der nur will, jetzt ist die herrliche Zeit, wo Er jeden erhört, der zu Ihm um Erbarmen schreit, wo Er jeden annimmt, der sein eigen werden will, die angenehme Zeit, der Tag des Heils. Darum rufe ich euch recht angelegentlich mit dem Propheten Jesaias zu: Suchet den Herrn, weil Er zu finden ist, rufet Ihn an, weil Er nahe ist!! Ihr werdet nicht lange zu suchen brauchen, so wird Er sich eurer Seele offenbaren und zu euch sprechen: Hier bin ich, hier bin ich! Ihr werdet nicht lange warten müssen, so werdet ihr mit Andreas fröhlich andern Seelen bezeugen können: Wir haben den Messias gefunden! Heureka, ich hab's gefunden! so rief einst hocherfreut ein Weltweiser aus, als er irgendeine wissenschaftliche Entdeckung gemacht hatte. Aber nichts gleicht der Freude, wenn du sagen kannst: Ich habe Jesum gefunden!
Ich zweifle nicht, dass solche glückliche Seelen unter uns sind, welche Jesum gesucht und gefunden haben. Aber hier ist nicht von diesem erstmaligen Suchen und Finden Jesu die Rede, sondern von dem Suchen der Seele, die den Herrn bereits gefunden, aber Ihn doch noch gar manchmal aus dem Herzen verliert. Wir haben schon das letzte Mal gesehen, dass auch im Herzen gläubiger Christen oft rechtes Aprilwetter herrscht, ein Wechsel der Empfindungen und Gefühle. Nachdem die Braut bei ihrem ersten Besuch in Jerusalem ihren Bräutigam gesehen und in seiner Nähe glücklich gewesen, muss sie wieder nach Hause und den ganzen langen Winter hindurch hört und sieht sie nichts von ihm. Im Frühjahr besucht er sie in ihrer Heimat und lädt sie ein, mit ihm die herrlich erwachende Natur zu besehen. Nach diesem Besuch ist sie wieder allein und sieht ihren Bräutigam bis zur Hochzeit nicht mehr. So entzieht sich auch der Herr den Seelen, die Er liebt, oft lange, gibt ihnen kein Gefühl von seiner Nähe und Gnade, lässt sie im bloßen nackten Glauben dahingehen. Ich erinnere an die allbekannte Lebensgeschichte von Hofacker. Auch Theodor Harms bekennt von sich, dass er jahrelang in einem solchen Zustand war. Er glaubte an den Herrn, er liebte Ihn und hätte sich, wie er sich ausdrückt, lieber totschlagen lassen, als dass er Ihn hätte verleugnen mögen; aber trotzdem sei er in Seelenjammer und Sündenangst hingegangen, bis es ihm Gott in den Sinn gegeben habe, sich ruhig dem Herrn zu Füßen zu werfen, auf Gnade und Ungnade, und zu sagen: Da bin ich, kannst du es vor Dir selbst verantworten, so zertritt mich, sonst hilf mir! Und von dem seligen Tersteegen wissen wir, dass er fünf Jahre lang nichts mehr von der Nähe des Herrn fühlte, bis endlich das Gnadenlicht wiederkam, worauf er dann das schöne Lied dichtete: Wie bist du mir so innig gut, mein Hoherpriester du!
Ein besonders ergreifendes Beispiel von solchem Schwinden der Gnade des Herrn aus dem Gefühl des Christen las ich von einem Offizier in England. Als derselbe bekehrt wurde, empfand er eine überschwängliche Freude im Herrn. Aber bald verschwand sie wieder und wollte nicht zurückkehren. Da hatte er einen merkwürdigen Traum. Es war ihm, als ob er über eine weite Fläche wandern müsste; der Herr aber ging voran, jedoch ohne sich ein einziges Mal nach ihm umzudrehen. So ging's immerfort, bis sie an einen Kirchhof kamen. Am Tore desselben blieb der Herr stehen, blickte sich um, sah ihn mit dem Ausdruck herzlicher Liebe und Freundlichkeit an und verschwand. Der Offizier deutete sich das so, dass er in diesem Zustand bleiben müsse bis ans Ende; aber kurz vor seinem Tode werde ihm der Herr wohl noch das Gefühl seiner Gnade schenken. Und so geschah es auch. Viele Jahre lang musste er im bloßen Glauben wandeln; aber auf dem Sterbebette schenkte ihm der Herr noch große Freudigkeit, dass er jauchzend heimgehen konnte.
Es kann verschiedene Gründe haben, wenn uns das Gefühl der Gnade entzogen wird. Oft sind unsere Sünden die Ursache, eine gewisse Selbstgerechtigkeit, Hochmut, namentlich geistlicher Hochmut! Häufig geraten Christen, die recht fleißig im Weinberg des Herrn arbeiten, in feine geistliche Selbstüberhebung und damit weicht der Friede. Fürchten wir uns doch vor dem geistlichen Hochmut! Wenn wir noch so viel tun, hüten wir uns, irgendwie uns darauf zu verlassen und zu meinen, wir seien deshalb mehr als andere. Alles was wir tun, ist befleckt; nur Jesu vollbrachtes Werk am Kreuz kann der Grund unserer Gerechtigkeit vor Gott bleiben.
Und würd' ich durch des Herrn Verdienst
Auch noch so treu in seinem Dienst,
Gewönn's auch allem Bösen ab
Und stürb' der Sünde bis ins Grab,
So will ich, wenn ich zu Ihm komm,
Nicht denken mehr an gut und fromm,
Sondern: Da kommt ein Sünder her,
Der gern durchs Lösgeld selig wär.
Haben wir aber den Herrn aus dem Herzen verloren, so suchen wir wohl oft lange vergeblich, weil wir Ihn eben nicht in rechter Weise und nicht am rechten Ort suchen. Es geht uns da wie bei so manchen Dingen. Wir suchen sie ängstlich und hastig, werfen alles durcheinander, suchen an Orten, wo sie doch unmöglich hingekommen sein können, und am rechten Platze gehen wir vorüber. Wenn wir dann ruhiger werden, uns besinnen und wohl auch beten, der Herr möge uns doch den Gegenstand finden lassen, so haben wir ihn bald. So suchen wir auch den Herrn vielfach, wo Er nicht ist, statt ruhig und gefasst, mit betendem Herzen gleich an die rechte Stelle zu gehen.
Wo sucht ihn die Braut? „Ich will aufstehen, sagt sie, und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen und suchen den meine Seele liebt. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht.“ Die Stadt Jerusalem bedeutet die äußere Kirche. Die Gassen und Straßen der Stadt sind die verschiedenen Wege, welche die äußere Kirche zeigt. Namentlich die römische Kirche hat solcher genug. Das Mönchs- und Nonnenwesen, das Einsiedlerleben, Wallfahrten, Fasten, Rosenkranzbeten, das sind lauter so verschiedene „Gassen und Straßen.“ Wenn da eine Seele kommt, die den Herrn Jesum sucht, so sagt die Kirche: Durch diese Gasse musst du gehen, ins Kloster, zu diesem oder jenem Wallfahrtsort, in die Messe und dergleichen. So läuft sich die müde Seele ab, rennt durch alle Gassen und Straßen, aber Jesum findet sie nicht. Ach wie viele mögen noch bis zur Stunde in der römischen Kirche stecken, die Jesum suchen und ihn nicht finden können! Man sollte herzliches Mitleid haben mit den vielen lieben teuren Seelen, die in den Gassen und Straßen Roms vergebens herumlaufen und herumirren.
Wie nun die Braut so die Straßen der Stadt durcheilt, begegnet sie den Wächtern. „Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen. Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebt? Und da ich ein wenig vor ihnen überkam, da fand ich, den meine Seele liebt.“ Die Wächter, so in der Stadt umhergehen, haben zuzusehen, dass kein Schade geschieht. Wo ein Feuer ausbricht und Schlafende in Gefahr sind zu verbrennen, müssen sie wecken; wo Verbrecher auf Sündenwegen wandeln, Diebe und Mörder müssen sie warnen und die Tat womöglich verhindern; wo Einsame und Verirrte ängstlich umherwandeln, müssen sie zurechtweisen und helfen; wo ein Feind der Stadt naht, müssen sie das Warnungssignal ertönen lassen. Haben nicht die geistlichen Zionswächter, die Hirten der Kirche, die Diener am Wort eine ähnliche Aufgabe? Gewiss, auch ihr Amt ist ein hochnötiges und wichtiges, und wir dürfen dem Herrn von Herzen danken, dass Er dasselbe gestiftet hat; es wäre traurig um die Stadt Gottes bestellt, wenn es keine solchen Wächter gäbe. Aber freilich tun diese nicht immer ihre Schuldigkeit. Die Wächter in unserm Text hätten wissen sollen, wo der König ist. Ich musste in der Stadt, wo ich früher meines Amtes wartete, öfter an einem Wachtposten vorbei, der vor der Wohnung seines Vorgesetzten Wache hielt. Wenn derselbe abgelöst wurde, musste er immer berichten, wo der Kommandant sei, ob in seinem Hause, oder ob er ausgegangen. Und so hätten jene Wächter auch wissen sollen, wo ihr König sei; waren sie doch in seiner Stadt. Aber sie wussten es nicht. Und es ist leider Tatsache, dass es gar viele Zionswächter, gar viele Diener am Wort gibt, die nicht wissen, wo und wie Jesus zu finden ist. Wenn eine angefochtene Seele sie fragt, können sie dieselbe nicht zurechtweisen. Ach wie oft kommt es vor, dass Angefochtene gerade von Predigern nicht verstanden, ja hart angelassen, verachtet und als Schwärmer angesehen werden. Das gibt dann eine große Enttäuschung. Da muss die Seele einsehen, dass es viele schlafende Wächter gibt, ungeistliche Geistliche, Hirten, die selbst noch verlorene Schafe sind, und weil sie den Herrn selbst noch nicht gefunden haben, auch andere nicht zu Ihm weisen können. Da muss die Seele zu der Einsicht kommen, dass sie sich von allen Menschen losmachen muss. Und oft geht es genau so, wie es hier steht. „Da ich ein wenig vor ihnen über kam, da fand ich, den meine Seele liebt.“ Wenn man sich von allen Menschen innerlich losmacht, dann findet man den Herrn. Denkt an den Blindgeborenen; als ihn die Pharisäer und Schriftgelehrten, diese blinden Zionswächter, hinausgestoßen hatten, suchte ihn Jesus und fand ihn und sprach zu ihm: Glaubst du an den Sohn Gottes? Da hieß es auch: „Da ich ein wenig vor ihnen über kam, da fand ich, den meine Seele liebt.“
Aber soll man deshalb etwa die Kirche ganz verlassen? Kann man den Herrn nicht mehr in ihr finden? Die Braut hat ihn in der Stadt gefunden. „Da ich ein wenig vor ihnen über kam, da fand ich, den meine Seele liebt.“ Und so kann auch der Herr Jesus noch in der Kirche gefunden werden und wird tatsächlich von unzähligen in ihr gefunden. Können nicht alle Prediger Ihn verkündigen, so sind doch noch manche darunter, die es können und viele zum Herrn weisen. Und sind es nicht die Prediger, so sind es andere Christen und Christinnen, die vielen zum Segen werden. Und sind es diese nicht, so sind es gute Bücher, die den Seelen den Weg zeigen. Ja, wir sagen es mit aller Bestimmtheit: Wer den Herrn sucht, kann ihn in der Kirche noch finden. Es wird mancher vielleicht lange herumsuchen müssen, manche Gassen und Straßen durchlaufen und manche Wächter vergebens fragen, aber endlich findet er doch jemanden, der ihn auf die rechte Spur leitet.
Hat die suchende Seele den Herrn wiedergefunden, so ergibt sie sich Ihm mit neuer Treue. Es heißt dann bei ihr: „Ich halte ihn und will ihn nicht lassen.“ Da singt man dann wieder: „Meinen Jesum lass ich nicht.“ „Jesum lass ich nimmer nicht, weil ich soll auf Erden leben.“ „Jesum lass ich nicht von mir, geh Ihm ewig an der Seiten; Christus wird mich für und für zu den Lebensbächlein leiten. Selig, wer mit mir so spricht: Meinen Jesum lass ich nicht.“ „Ich halte Ihn und will Ihn nicht lassen,“ solche Vorsätze sind recht und gut, wehe dem, der nicht so denkt. Aber doch soll man nicht vergessen, dass es mit dem „ich will“ nicht getan ist. Zuerst muss Jesus uns halten, dann können wir Ihn halten, zuerst muss Er zu uns sagen: „Ich will dich nicht lassen,“ dann können wir Ihm treu bleiben. Nur niemals sich auf das Wollen des eigenen Herzens verlassen! Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach. Weniger gute Vorsätze und dafür mehr Gebete, das ist besser. Statt des: „Ich will Ihn nicht lassen,“ lieber das Gebet: „Lass mich Dein sein und bleiben, Du treuer Gott und Herr!“
„Ich halte Ihn und will Ihn nicht lassen, bis ich Ihn bringe in meiner Mutter Haus, in meiner Mutter Kammer.“ Das Haus und die Kammer der Mutter ist im Sinne des Textes das Volk Israel. Das ist freilich jetzt ein wüstes Haus, eine öde Kammer, wo der Heiland nicht ist. Das Volk hat Ihn von sich gestoßen. Er kam in sein Eigentum, in sein Haus, aber die Seinen, seine Hausgenossen, nahmen Ihn nicht auf. Darum heißt es nun: „Euer Haus soll euch wüste gelassen werden.“ Ach wie wüste, wie öde und leer ist z. B. eine Synagoge! Da kann man kein Wörtlein hören, was einen wahrhaft erquicken könnte; es fehlt eben Jesus darin. Aber in dieses wüste Haus, in diese öde Kammer möchte die Braut den Herrn Jesum hineinbringen. Oder soll etwa die Kirche keine Judenmission treiben, sollen wir nicht für die Juden beten, dass sie sich auch noch bekehren, sollen wir uns kalt und stolz von ihnen wenden und an der Judenhetze beteiligen? Das wäre ebenso unnatürlich, wie wenn ein gläubiges Kind, das eine unbekehrte Mutter hat, nicht alles aufbieten würde, dass doch auch seine Mutter den Heiland finde und durch Ihn glücklich und selig werde. Nein, die wahre Kirche des Herrn wird die Juden nie hassen, sondern vielmehr sagen: „Ich will Ihn nicht lassen, bis ich Ihn bringe in meiner Mutter Haus, in meiner Mutter Kammer.“ Z. B. jene fromme Frau in Odessa, welche viele Jahre lang für die dortigen Juden betete, worauf unter ihnen die große Erweckung entstand, von welcher wir vor einigen Jahren hörten, war eine rechte Brautseele, die sagte: „Ich will Ihn nicht lassen, bis ich Ihn bringe in meiner Mutter Haus, in meiner Mutter Kammer.“ Wollen wir bei diesen Textesworten aber auch an unsere leibliche Mutter und überhaupt unsere Verwandten denken! Wollen wir den Heiland nicht lassen, bis wir Ihn auch hineinbringen in unser Elternhaus, bis auch die Unsrigen Ihn kennen und lieben oder wollen wir wenigstens alles versuchen, sie zum Herrn zu führen.
Der letzte Vers zeigt uns die Braut wieder in selige Wonne versunken. Die Freude, den Herrn aufs Neue gefunden zu haben, überwältigt sie so, dass sie wie betäubt in seine Arme sinkt. Und Er hält Wache über ihr und ruft den andern zu: „Ich beschwöre euch, ihr Töchter zu Jerusalem, bei den Rehen oder Hinden auf dem Felde, dass ihr meine Freundin nicht aufweckt, noch regt, bis dass es ihr selbst gefällt.“ Niemand soll ihr die Seligkeit stören, bis diese selbst wieder entschwindet. Denn sie wird auch jetzt noch nicht bleiben; wieder werden andere Stunden kommen. Es ist und bleibt auch bei uns hier auf Erden so, wie der selige Woltersdorf gesagt hat:
Weil der Unglaub uns besessen,
Kann man nichts so leicht vergessen
Als den Tilger unsrer Sünden.
Ja auch mir will's oft entschwinden,
Dass ich einen Heiland habe,
Und dann weiß ich keine Gabe
Zur Versöhnung darzubringen,
Meine Schuld muss mich verschlingen.
Darum soll niemand einem Christen die Stunden seliger Gemeinschaft mit dem Herrn stören. Nein, freut euch mit den Fröhlichen. Auch wenn Christen in übergroßem Eifer für eine Sache, sei es nun die Bekehrung der Juden, oder der Trunkenbolde, oder sonst eine Liebesarbeit für den Herrn in schwärmerischen Eifer geraten, soll man sie nicht gleichsam mit kaltem Wasser begießen und fortwährend zu ihnen sagen: Gib dich doch keinen Einbildungen hin, werde doch nüchtern! Nein, hier gilt das Wort des Herrn: „Ich beschwöre euch, dass ihr meine Freundin nicht aufweckt noch regt, bis dass es ihr selbst gefällt.“ Die Betreffenden werden mit der Zeit selber manches einsehen und viel bittere Enttäuschungen erfahren müssen. Darum greift der Zeit, der Erfahrung, der Schule des Herrn nicht vor. Der Herr erzieht uns alle mit großer Geduld, Nachsicht und Freundlichkeit und führt uns, wenn wir aufrichtig zu Ihm halten, durch den beständigen Wechsel von Freude und Leid hindurch dahin, wo kein Leid mehr, sondern nur ewige Freude sein wird. Amen.