Herbst, Ferdinand - Mein Freund ist mein - 4. Kap. 2, 8-17.
Das ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt, und hüpft auf den Bergen und springt auf den Hügeln. Mein Freund ist gleich einem Reh oder jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durch das Fenster und guckt durch das Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her. Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin; die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande; der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, die Weinstöcke haben Augen gewonnen und geben ihren Geruch. Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her. Meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt ist lieblich. Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge haben Augen gewonnen. Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Rosen weidet. Bis der Tag kühl werde, und der Schatten weiche, kehre um, werde wie ein Reh, mein Freund, oder wie ein junger Hirsch auf den Scheidebergen.
Nachdem wir bisher gehört, wie Sulamith ihren königlichen Bräutigam in seiner Residenz besucht und was die beiden dort für ein Zwiegespräch miteinander gehabt haben, berichtet der vorstehende Text von dem Gegenbesuch, welchen Salomo seiner Braut in ihrer Heimat abstattete. Zwischen diesem und jenem ersten Besuch liegt der Winter, während dessen die Braut nichts von ihrem Bräutigam sah und hörte; sie war in dieser Zeit ganz aufs Glauben angewiesen. So gibt es auch im Christenleben dazwischen solche Winter. Man hat den Herrn nicht immer fühlbar nahe, man wird von Ihm nicht immer erquickt mit Blumen und gelabt mit Äpfeln, man liegt nicht immer in seinen Armen und wird von seiner Rechten geherzt; es kommen auch Zeiten, wo man nicht das geringste Gefühl von der Nähe und Gnade des Herrn hat. Was finden wir nicht in den Lebensläufen der besten Kinder Gottes für Bekenntnisse! Das sind Winterzeiten, wo der Glaube geübt und gestärkt werden soll. Sulamith war in dieser Zeit ebenso wohl die Braut Salomos, als in dem Augenblick, wo sie glücklich in seinen Armen lag; der Unterschied war nur der, dass sie damals die Liebe Salomos fühlte, jetzt aber bloß an dieselbe glauben musste. So kannst auch du, christliche Seele, ebenso wohl eine Braut des Herrn Jesu sein, wenn du die seligsten Gefühle von seiner Liebe hast, als auch wenn du von ihr nicht das Geringste spürst, ja vielmehr dich ganz verlassen und wie in der Hölle fühlst. Lerne nur in solchen Zeiten ohne Fühlen glauben, glauben an die unveränderliche Liebe und Treue deines Heilandes. Wie Salomo seine Braut in der Ferne ebenso liebte wie in der Zeit, da er sie bei sich hatte, so ist die Liebe Jesu allezeit gleich; und so wenig Salomo seiner Braut das gegebene Wort gebrochen, so wenig und noch viel tausendmal weniger beweist sich der Heiland treulos gegen eine Seele, die sich Ihm anvertraut hat. Nein, was sagt der Herr? „Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit; ich will mich mit dir vertrauen in Gerechtigkeit und Gericht, in Gnade und Barmherzigkeit; ja in Treue will ich mich mit dir verloben, und du wirst den Herrn erkennen.“ Die Frage ist nur die, ob du dich auch mit aufrichtigem Herzen dem Heiland übergeben hast und ehrlich zu Ihm halten willst, wie es einer rechten Braut geziemt; ist dem so, dann sei getrost, du magst die Liebe des Herrn fühlen oder nicht, du magst den Himmel oder die Hölle im Herzen haben, es sei in deinem Innern Sommer oder Winter. Die Gefühle mögen wechseln, und sie verändern sich auch wirklich beinahe alle Augenblicke, der Bund aber bleibt unveränderlich fest stehen.
Ohne Fühlen will ich trauen,
Bis die Zeit kommt, Ihn zu schauen,
Und vorbei die letzte Nacht.
Endlich nach langer, banger Wartezeit hört die Braut eines Tages draußen Rufe und Stimmen. Ihr feines Ohr erkennt sofort eine darunter, sie blickt zum Fenster hinaus, und in überschwänglicher Freude ruft sie aus: „Das ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft auf den Bergen und springt auf den Hügeln. Mein Freund ist gleich einem Reh oder jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durch das Fenster und guckt durch das Gitter.“ Wie Salomo und sein Gefolge auf ihren schnellen Rossen mit Windeseile daher gesprengt kamen und der König dann liebend und sehnsüchtig sein Auge zu den Fenstern des Hauses seiner Braut erhob, um die Geliebte zu erblicken, so naht sich der Heiland einer Seele, die lange nach Ihm ausgeschaut, oft ganz unerwartet schnell. Auf einmal ist Er wieder ganz nahe, in seinem Wort, dasselbe wird im Herzen wieder lebendig und kräftig, seine Tröstungen ergötzen die Seele wieder und die schweren Gedanken werden wie im Sturme verjagt. O wie groß ist doch die Treue des Herrn, der immer wieder zur rechten Zeit die Seele besucht und tröstet! Und wie rührend zeugen auch diese Worte hier von seiner zärtlichen Liebe zu den Seelen: „Siehe, er steht hinter unserer Wand und sieht durch das Fenster“ oder eigentlich durch die Fenster, „und guckt durch die Gitter“ bald durch dieses, bald durch jenes, um die Geliebte zu erspähen. So blickt der Heiland gern auf ein solches Haus hin, wo eine von Ihm geliebte Seele wohnt, wenn es gleich eine elende Hütte ist und in einem ganz abgelegenen Winkel liegt. Mit zärtlicher Liebe behält Er es im Auge und begehrt nach dem Anblick der Ihn liebenden Seele. „Ich weiß, wo du wohnst“ das lass dir zum Trost gesagt sein, lieber Christ, wo du dich auch befinden und in welcher Umgebung du auch leben magst.
Nun lädt Salomo seine Braut ein, herauszukommen und mit ihm die im schönsten Frühlingsschmuck stehende Natur zu genießen. „Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Stehe auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her. Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin; die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbei gekommen und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande; der Feigenbaum hat Knoten gewonnen, die Weinstöcke haben Augen gewonnen und geben ihren Geruch. Stehe auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her.“ Welch eine liebliche Schilderung des Frühlings in der Natur! Und wenn Jesus sich der Seele naht, dann wird's auch Frühling in ihr, der starre kalte Winter vergeht und neues fröhliches Leben zieht in das Herz ein. Wohl geht es dabei oft wie beim Erwachen der Natur; es kommen noch kalte Tage, es gibt oft hässliches Aprilwetter und mancher gefährliche Nachtfrost vernichtet Hoffnungen; ja es scheint zuweilen, als wollte der Winter sein Regiment nicht niederlegen. Aber es muss doch Frühling werden.
So mag es auch im geistlichen Leben oft einen verzweifelten Kampf geben zwischen Licht und Finsternis, Leben und Tod; es mögen oft traurige Rückschläge vorkommen, dass man nahe daran ist, alle Hoffnung aufzugeben. Aber es muss doch Frühling werden. Wenn die Seele sich immer wieder in Buße beugt und festhält am Vertrauen auf Jesum, so siegt zuletzt nicht der Tod, sondern das Leben. Auch im Reiche Gottes gibt es einen Frühling. Der Herr Jesus vergleicht das kommende Reich der Herrlichkeit mit dem Sommer; dann ist also die Zeit, welche demselben unmittelbar vorangeht, der Frühling. Und dieser Frühling ist jetzt angebrochen. Wir leben in vieler Beziehung in einer herrlichen Zeit, wenn wir auch weit entfernt sind, damit den großen Ernst derselben irgendwie in Abrede stellen zu wollen. Dass es Frühlingszeit ist, beweist das Ausschlagen der Bäume, der Weinstöcke und Feigenbäume, und das Hervorkommen der Blumen. Was wir darunter zu verstehen haben, sagt uns der Herr Jesus klar und deutlich in seiner Rede von den letzten Dingen, nämlich die Zeichen, welche seinem Kommen vorangehen, als z. B. Krieg, Pestilenz, Teuerung, Erdbeben hin und wieder und dergleichen. Diese haben wir nicht anders anzusehen als für ein Ausschlagen der Bäume, für liebliche Boten des nahenden Sommers. Die Welt erzittert vor ihnen, aber Kinder Gottes sollen sie mit freudiger Hoffnung betrachten. Wohl sind diese Frühlingszeichen noch nicht völlig zu sehen, denn jene Ereignisse stehen der Hauptsache nach erst noch bevor; aber Vorläufer davon sind doch schon genug vorhanden. Auch das erfüllt sich in unsern Tagen und ist als ein besonders wichtiges Frühlingszeichen zu betrachten: „Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen.“ Wir wissen, wer dieser Feigenbaum ist; es ist das jüdische Volk. Gott hat diesen Feigenbaum verflucht, weil er unfruchtbar war; verdorrt bis auf die Wurzel hinab ist er bisher dagestanden. Alles göttliche Leben und alles Geisteslicht ist von dem armen Volk Israel gewichen; Blindheit und Verstockung ist ihm aus gerechter Strafe widerfahren. Aber der verdorrte Feigenbaum fängt doch in unserer Zeit allmählich wieder an, Saft und Leben zu bekommen. Namentlich im Osten ist eine Bewegung unter den Juden. Sie lesen das Neue Testament und suchen es zu verstehen, die Abneigung gegen den Herrn Jesum ist bei ihnen weit nicht mehr so groß; dazu scheint bei ihnen auch das Interesse an dem gelobten Land wieder zu wachsen, was an den zahlreichen Einwanderungen dort zu erkennen ist. Kurz, es scheint die Zeit nicht mehr ferne zu sein, wo dieses Volk wieder in sein Land und zu seinem Messias zurückkehrt, wo es mit Reue und Schmerz sieht, in welchen jene, ihre Väter, gestochen haben, und wo der Geist der Gnade und des Gebets über dasselbe ausgegossen wird. „Der Feigenbaum hat Knoten gewonnen.“
Aber noch ein deutliches Frühlingszeichen ist da. „Die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande.“ Wir kennen diese Turteltaube. Es ist der, welcher einst in Gestalt einer Taube vom Himmel herabgekommen ist, Gottes guter werter Geist. Lässt diese Taube nicht wirklich jetzt ihre Stimme hören in unserm Lande? Überall, wo uns das Evangelium von Jesu verkündigt wird, hören wir die Stimme der Turteltaube. Das teuer werte Wort vom Sünderheiland ist die Stimme des Heiligen Geistes, die den Sünder ruft und lockt, die ihn mahnt, dem Verderben zu entfliehen und zu seinem Retter Jesus Christus zu kommen. Es wird aber nicht leicht eine Zeit gegeben haben, wo das Evangelium so reichlich durch Wort und Schrift ausgebreitet worden ist und so ungehindert verkündigt werden durfte, als die gegenwärtige. Und nicht bloß in unserm Lande, innerhalb der christlichen Kirche, wird die Stimme der Turteltaube jetzt reichlich gehört, sondern auch auf der ganzen Erde. In allen Weltteilen, auf allen Inseln, in allen Sprachen hört man jetzt die Stimme der Turteltaube. Wohl vernimmt man in unsern Tagen auch die Stimmen anderer Tiere, die Stimme der Frösche, von welchen die Offenbarung Johannis schreibt, der unreinen Geister unchristlicher Parteien, ja die Stimmen wilder reißender Tiere, der Wölfe, Löwen und Tiger. Wenn z. B. in sozialdemokratischen und anarchistischen Versammlungen gerufen wird: Keine Autorität im Himmel und keine auf Erden! wenn Lästerungen über die Bibel ausgesprochen und ein gewaltsamer Umsturz aller bestehenden Verhältnisse deutlich genug empfohlen wird, das ist nichts anderes als Löwen- und Tigergebrüll. Wehe, wenn diese Untiere einmal losgelassen werden! Aber gottlob, daneben hört man doch auch die sanfte und freundliche Stimme der Turteltaube Gottes; wohl allen, die auf sie, auf sie allein achten!
Da es denn Frühling ist im Reiche Gottes, so soll die Braut des Herrn aus der Verborgenheit hervorkommen: „Meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme; denn deine Stimme ist süße, und deine Gestalt ist lieblich.“ Das Haus Sulamiths lag in der Verborgenheit, etwa an einen Berg angelehnt; so konnte sie wohl mit einer Taube verglichen werden, die in eine Felsenspalte genistet hat, wie das Feldtauben wirklich tun, um vor dem verfolgenden Geier sicher zu sein. Die Felslöcher und die Steinritzen, in welche sich die Braut des Herrn verbirgt, sind die Wunden Jesu; hier kann kein Feind sie verderben. Dahin fliehe auch du, armer Sünder, der du dich geängstigt und beunruhigt fühlst; eile getrost in diese Felslöcher, du darfst es. Sprich mit jenem Liede:
„Lass dein Herz mir offen stehn,
öffne deiner Wunden Türe;
dahinein will ich stets gehn,
wenn ich Kreuz und Not verspüre,
wie der Hirsch nach Wasser dürst,
bis du mich erquicken wirst.“
Aber es gilt doch nicht bloß, namentlich in unserer Zeit, in stiller Ruhe zu verharren und mit der eigenen Rettung zufrieden zu sein, sondern hervorzugehen und seine Stimme hören zu lassen. Es gilt jetzt noch zu wirken, so lange es Tag ist, es gilt jetzt zu zeugen für den Herrn und noch manchem armen Sünder den Weg zu Ihm zu weisen. Wie man im Frühjahr hinausgehen muss in Feld und Garten, um zu arbeiten, so gilt es für die Braut Jesu in dieser Frühlingszeit des Reiches Gottes eine eifrige Tätigkeit zu entfalten, hervorzutreten auf den Schauplatz und ihre Gestalt zu zeigen und ihre Stimme hören zu lassen.
Auf diese Aufforderung hin kommt nun Sulamith aus ihrem Hause hervor, indem sie dem König und seinem Gefolge, das mit ihm jagend die Fluren durchstreift, zuruft: „Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, die die Weinberge verderben, denn unsre Weinberge haben Augen gewonnen.“ Die Frühjahrszeit ist ja auch eine gefährliche Zeit, namentlich für die Weinberge. Da gibt es im Morgenland kleine Füchse, Schakale, kaum etwas über einen Fuß hoch, welche großen Schaden darin anrichten. Sie unterhöhlen das Erdreich und legen die Wurzeln der Stöcke bloß, dass letztere verwelken müssen. Diese Füchse sind ein Bild der falschen Propheten und überhaupt aller heimtückischen Feinde der christlichen Kirche, wie z. B. der Herr Jesus den Herodes auch einen Fuchs nennt, weil er den Weinberg Gottes verwüstete, indem er Johannes den Täufer enthauptete und auch den Herrn selbst töten wollte. Solcher Füchse gibt es namentlich in der Frühlingszeit des Reiches Gottes genug, wie der Herr gerade für die letzten Tage neben den bereits angeführten Zeichen auch das genannt hat, dass alsdann viele falsche Propheten auftreten würden, die, wenn es möglich wäre, sogar die Auserwählten zu verführen imstande wären, und dass die Seinen auch sonstige schwere Verfolgungen würden aushalten müssen. Die Braut Jesu weiß da keine andere Hilfe und keinen andern Schuh, als dass sie bittet: „Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, welche die Weinberge verderben!“ Das Gebet ist die beste Waffe gegen alle Feinde der Kirche. dass es die Gläubigen in unsern Tagen mehr und mehr lernen möchten, auf diese Weise ernstlich gegen sie zu kämpfen! Das wäre besser als alles andere. Der Herr wird solches Gebet herrlich erhören und die Füchse alle zu fangen wissen, sodass der Weinberg des Herrn im künftigen Reich des Friedens ungehindert von irgendwelchen Feinden seine herrlichen Früchte bringen kann.
Doch nicht bloß als einen Richter, der seinen Weinberg reinigt, stellt sich die Braut den Herrn vor; sie setzt voll seligen Glückes hinzu: „Mein Freund ist mein und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.“ Sulamith denkt sich also ihren Freund auch als Hirten, der seine Herde auf blumiger Aue weidet; ja unter diesem Bilde stellt sich die Hirtin den Beruf ihres königlichen Bräutigams am liebsten vor. Seine Herde ist natürlich das Volk Gottes, das von jüdischen Dichtern das „lilienhafte“ genannt wird. Welch ein treffendes Bild für unsern Herrn Jesum Christum! Hat er sich doch selbst einen Hirten genannt, der alle, die auf seine Stimme hören und Ihm folgen, wie eine Herde weidet und leitet. Und jede von diesen Seelen ist eine Lilie, erneuert und gereinigt in der Wiedergeburt, lieblich und schön in den Augen des Herrn; denn die Lilie ist in der christlichen Kirche mit Recht ein Sinnbild des neuen Lebens, das vor Gott in Heiligkeit und Reinigkeit geführt wird, weshalb man auch Maria, die Mutter des Herrn, gewöhnlich mit einem Lilienzweig abgebildet sieht. Bist du auch wiedergeboren zu einem neuen Leben, bist du geheiligt wenn auch noch lange kein vollkommener Heiliger, bist du aus einem Dorn eine Lilie geworden, dann gehörst du in Wahrheit zur Herde dieses Hirten und kannst obige Worte auf dich anwenden: „Mein Freund ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet.“
Dieses Amtes, den Weinberg zu schützen vor seinen Verderbern und seine Herde zu weiden, muss der Herr warten, so lange der Tag des Heiles währt; aber für den Abend erwartet und erbittet sich die Braut die Wiederkehr ihres Bräutigams. „Bis der Tag kühle werde und der Schatten weiche, kehre um; werde wie ein Reh, mein Freund, oder wie ein junger Hirsch auf den Scheidebergen.“ Es ist als ob sie sagen wollte:, Ich weiß, dass du jetzt keine Zeit hast, bei mir zu bleiben und mit mir in der herrlichen Natur zu lustwandeln. Gehe nur jetzt hin und tue, was deines Amtes ist. Aber wenn des Tages Last und Hitze vorbei ist, die Schatten sich dehnen und allmählich verschwinden, dann komme zu der Hütte deiner Braut, sie zu begrüßen und die Herrlichkeit des Frühlings mit ihr zu genießen, wie du gesagt hast. Ja am Abend kommt auch der himmlische Bräutigam zu seiner Gemeinde. Jetzt besucht Er sie wohl dann und wann und schenkt ihr dadurch schon große Seligkeit; aber die sichtbare Wiederkehr Jesu und das „Bei dem Herrn sein allezeit“ ist erst auf den Abend dieser Weltzeit zu erwarten. Um diese Wiederkehr bittet die Braut den Herrn, wie Johannis schreibt: „Der Geist und die Braut sprechen: Komm!“ Und gottlob ist diese Bitte jetzt wieder mehr und mehr zu hören. Kehre wieder, kehre wieder, komm Herr Jesu diese Sehnsuchtsrufe steigen jetzt immer mehr zum Herrn empor. Und wer so beten hört, der tue es selbst auch und spreche gleichfalls: Komm, ja komm, Herr Jesu! Warum setzt aber die Braut hinzu: „werde wie ein Reh, mein Freund, oder wie ein junger Hirsch auf den Scheidebergen?“ Sie will damit sagen, er möge dann, wenn sein Werk vollbracht ist, eilends kommen und alle Hindernisse, die ihm auf dem Wege entgegenstehen, überwinden, selbst über gähnende Abgründe wegsetzen, welche sich in „Scheidebergen“ oder zerklüfteten Felsen vor seinen Füßen austun. Auch dem Kommen des Herrn stehen viele Hindernisse entgegen, vor allem die Macht der Finsternis, welche eine immer größere Höhe erreicht, je näher es dem Ende zugeht. Aber der Herr wird diese Schwierigkeiten leicht überwinden und zuletzt alles eilends ausrichten. Rasch werden sich die Ereignisse abwickeln, welche nach der Weissagung seinem Kommen vorangehen müssen, eilends wird Er endlich das Rufen seiner Braut erhören und seine Auserwählten erretten in einer Kürze. Er wird bei seinem Kommen sein „wie ein Reh oder wie ein junger Hirsch auf den Scheidebergen.“
Dieses Kommen unseres Heilandes sei unsre ganze Hoffnung in dieser bedeutungsvollen Zeit. Solange es noch Tag ist, wollen wir arbeiten im Weinberg des Herrn und die Freiheit, die wir jetzt noch haben, das Evangelium auszubreiten, recht ausnützen. Aber unser Herz freue sich auf den Abend und bete sehnsuchtsvoll: Komme bald!
Herr, wie Du willst, auf Deinen Weiden
Will gern ich für Dich leben, lieben, leiden;
Doch sinkt der Abend still hernieder,
So kehre wieder, o so kehre wieder!
wende, wende dann zum Liebesgruß
Nach meiner Hütte Deinen Fuß! Amen.